Fleisch oder Geist
William Barclay
Porneia ist eine allgemeine Bezeichnung für unerlaubten und unmoralischen Geschlechts-verkehr und sexuelle Beziehung. In den biblischen Texten wird porneia meistens mit Unzucht übersetzt. Die etymologische Ableitung des Wortes beleuchtet die Gesinnung, die sich dahinter verbirgt. Porneia ist Prostitution und porne eine Prostituierte. Wahrscheinlich hängen diese Wörter mit dem Verb pernumi - verkaufen zusammen. Porneia ist also die Liebe, die man kaufen und verkaufen kann, die natürlich keine Liebe im wirklichen Sinne ist. Der grosse und grundlegende Irrtum daran ist, dass die Person, mit der solche Liebe ausgeübt wird, nicht wirklich als Person, sondern als Ding betrachtet wird. Sie ist nur ein Werkzeug, mit dem die Forderungen der Lust und Leidenschaft befriedigt werden. Wahre Liebe ist die völlige Einheit zweier Persönlichkeiten, so dass sie zu einem Wesen verschmelzen und jeder seine eigene Erfüllung in der Einheit mit dem anderen findet. Porneia dagegen beschreibt ein Verhältnis, bei dem einer der Partner gekauft und nach Belieben Beiseite gelegt wird, so wie man eine Sache kaufen und beiseite legen kann; es zeigt ein Verhältnis, in dem weder Einheit zustande kommt noch Achtung für die Persönlichkeit des anderen Platz haben kann.
Bezeichnenderweise beginnt Paulus seine Liste mit dieser Sünde. Zur Zeit der Apostel herrschten in der griechisch-römischen Welt Sittenlosigkeit und Unmoral. Gesetze zur Beseitigung der chaotischen Zustände gab es nicht. „Das Schamgefühl schien von der Erde verschwunden zu sein“, schreibt ein Historiker über diese Zeit.
In Griechenland hatte man sich noch nie vorehelicher und ausserehelicher Beziehungen geschämt. Demosthenes schreibt, als ob es die grösste Selbstverständlichkeit wäre, was es ja auch tatsächlich war: „Wir halten uns Mätressen zum Vergnügen und Konkubinen zur täglichen Befriedigung des Körpers, aber wir haben Frauen, um legitime Kinder zu zeugen und vertrauenswürdige Haushalter zu haben“ (Deipnosophistae 573 b). In den frühen Tagen Roms war das anders gewesen, da hatte Sittenreinheit geherrscht. Aber die im Kampf der Armeen Unterlegenen besiegten ihre Besieger mit ihrer Unmoral und Sittenlosigkeit; und Rom war gelehrig. „Ich sehe Rom“, sagt Livius, der Geschichtsschreiber, „das stolze Rom als Opfer seines eigenen Wohlstandes untergehen.“ Es gab kaum einen grossen Griechen, der nicht seine hetaira, seine Mätresse, hatte, und sehr oft waren diese Mätressen die schönsten und gebildetsten Frauen ihrer Tage. Alexander der Grosse hatte seine Thais, die nach seinem Tode Ptolemäus von Ägypten heiratete und eine Mutter von Königen wurde. Aristoteles hatte seine Herpyllia, Platon seine Archeaenassa, Perikles seine Aspasia, die, wie man erzählte, sogar seine Reden schrieb, Sophokles seine Archippe, der er sein Vermögen hinterliess, Isokrates seine Metaneira. Phryne, die berühmteste der Kurtisanen, war so reich, dass sie sich erbot, eine Mauer um Theben zu bauen, wenn die Thebaner folgende Inschrift anbringen würden: „Alexander zerstörte es, aber Phryne, die Kurtisane, baute es wieder auf“ (Demosthenes, Deipnosophistae 567-592). Als Solon die Prostitution legalisierte und staatliche Bordelle eröffnete, wurde der Gewinn daraus zum Bau von Tempeln zu Ehren der Götter verwandt (Deipnosophistae 569d); diese Tatsache kennzeichnet am deutlichsten die griechische Einstellung.
Als der lockere griechische Lebenswandel sich in Rom ausbreitete, wurde er immer roher. „Hiberina“, sagt Juvenal, „wird mit einem Mann genauso wenig zufrieden sein wie mit einem Auge“ (Satiren 6,55). Römische Frauen, sagt Seneca, wurden geheiratet, um geschieden zu werden und geschieden, um geheiratet zu werden. Einige von ihnen unterschieden die Jahre nicht nach den Namen der Konsuln, sondern nach den Namen ihrer Ehemänner. Weiter lesen wir bei Seneca: „Keuschheit ist nur ein Beweis für Hässlichkeit;“ und an einer anderen Stelle: „Unschuld ist nicht selten, sie ist nicht existent.“ Es sollte der Tag kommen, da Clemens von Alexandrien von gewissen Frauen als der Personifizierung des Ehebruchs sprechen sollte, „umgürtet wie Venus mit dem goldenen Gürtel des Lasters“ (Paedagogus 3.2.4). Die obere Schicht der römischen Gesellschaft gab sich einem zwanglosen Geschlechtsverkehr hin. Sogar Messalina, die Kaiserin, Frau des Claudius, schlich nachts aus dem kaiserlichen Palast, um in einem öffentlichen Haus zu dienen (Juvenal, Satiren 6.114-132).
Noch schlimmer war das unnatürliche Laster, das vollkommen zügellos war. Es begann im Kaiserhause. Caligula lebte offenkundig und gewohnheitsmässig mit seiner Schwester Drusilla, und die Lust Neros verschonte nicht einmal seine Mutter Agrippina (Sueton, Caligula 34; Nero 28). Alle Gesellschaftsschichten wurden von der Homosexualität untergraben. Dieses Laster lernten die Römer von den Griechen. J. J. Döllinger nennt es „die grosse, nationale Krankheit der Griechen“ (The Gentile and the Jew II, Seite 239). J. J. Chapman sagt, dass in Griechenland diese Degenerationserscheinung nicht auf Einzelfälle beschränkt war, sondern das ganze Volk erfasste, bis sie fest verwurzelt war. Er vergleicht sie mit einem ekelhaften Pilz, der allmählich einen ganzen Wald befällt (Lucian, Plato and Greek Morals, Seite 132f.), Platons Symposium wird als eines der grössten Werke der Weltliteratur angesehen. Das Thema ist die Liebe, homosexuelle Liebe. Phaedrus nimmt das Thema auf: „Ich kenne keinen grösseren Segen für einen jungen Mann, der das Leben vor sich hat, als einen tugendhaften Liebhaber oder für einen Liebhaber keinen grösseren Segen, als einen geliebten Knaben“ (Platon, Symposium 178d). Gibbon schreibt: „Von den ersten fünfzehn Kaisern hatte nur Claudius einen ganz untadeligen Geschmack in der Liebe.“
Man könnte noch viele solcher Beispiele anführen. Es muss hervorgehoben werden, dass alle diese Zeugnisse für die unbeschreibliche sexuelle Unmoral der Welt zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments nicht von christlichen Schreibern, sondern von Heiden stammen, die Ekel vor sich selbst empfanden.
Gegen diese Unmoral wendet sich Paulus. Er ist entsetzt, dass die Korinther nicht auch entsetzt sind über die Tatsache, dass einer mit seines Vaters Frau lebte (1 Kor 5,1). Solche Sünde muss ein Mensch aufgeben, sich ganz und gar abwenden von ihr, oder sein sogenanntes christliches Leben ist eine Lästerung (2 Kor 12,21). Der Christ muss sich völlig von porneia enthalten (1 Thess 4,3), er muss sie fliehen (1 Kor 6,18), er muss ihre Werke abtöten (KoI 3,5). Mit dieser einen Sünde sündigt ein Mensch klar und unmissverständlich gegen seinen eigenen Körper (1 Kor 6,18), aber der Körper gehört nicht der Unzucht, sondern dem Herrn (1 Kor 6,13).
Es heisst, dass Keuschheit die eine, vollkommen neue Tugend war, die durch das Christentum in die heidnische Welt eingeführt wurde. Drei Gründe gab es, die diese Aufgabe ausserordentlich schwer machte.
1. Es gab keine grössere Gruppe, die gegen die Unmoral auftrat. In der griechisch-römischen Welt war Unmoral in sexuellen Dingen keine Unmoral; sie war feste Sitte und Brauch.
2. Die weite Verbreitung gnostischen Gedankenguts war ein ernstes Problem. Die Gnosis sah den Geist als etwas vollkommen Gutes an und die Materie als etwas ihrem Wesen nach Schlechtes. Ist die Materie wesensgemäss schlecht, so muss auch der Leib notwendigerweise schlecht sein. Wenn das so ist, ergeben sich daraus zwei Folgerungen. Erstens gibt es die Möglichkeit der strengen Askese, in der jede Begierde des Körpers streng und energisch verleugnet wird. Zweitens kann man folgern: Weil der Leib schlecht ist, spielt es keine Rolle, was der Mensch mit ihm tut. Es ist völlig bedeutungslos, wenn er seine Begierde befriedigt, weil der Körper ja in jeder Hinsicht ein vergängliches und böses Ding ist. Die Gnosis verteidigt also die Unmoral.
Kein Gnostiker konnte sagen, der Leib gehöre dem Herrn, wie das der Apostel Paulus im ersten Korinther 6, Vers 13 klar zum Ausdruck bringt. Für den Gnostiker war der Körper der Teil des Menschen, der niemals dem Herrn gehören konnte. Die christliche Botschaft von der Erlösung des ganzen Menschen, der gesamten Persönlichkeit, bestehend aus Leib, Seele und Geist war etwas Neues und schliesst notwendigerweise die Forderung der Reinheit ein.
3. Das Christentum sah sich mit der Situation konfrontiert, dass in vielen Fällen Prostitution mit Religion verbunden war. Es gab viele Tempel, die eine Menge heiliger Prostituierter besassen. Der Tempel der Aphrodite in Korinth hatte 1000 solcher Frauen, die am Abend in den Strassen der Stadt ihrem Gewerbe nachgingen. Man verehrte die Kraft des Lebens, vor allem wie sie sich in der Geschlechtskraft zeigte, als Symbol der Göttlichkeit. Das Christentum sah sich einer Situation gegenüber, in der Religion und Unzucht Hand in Hand gingen.
Es braucht uns nicht zu überraschen, dass Paulus seine Aufzählung der Werke des Fleisches mit den sexuellen Sünden beginnt. Er lebte in einer Welt, in der solche Sünden überhand-nahmen. In diese Welt brachte das Christentum eine wunderbare Kraft, die Möglichkeit, in Reinheit zu leben.
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