Hütet euch vor dem
Sauerteig der Pharisäer!
Die Ansichten, die die meisten Bibelleser in Bezug auf die Pharisäer pflegen, sind oft einseitig und falsch. Dieses irrtümliche Verständnis führt zu zwei verhängnisvollen Folgen. Erstens wird den Pharisäern Unrecht getan und zweitens werden durch irrtümliche Ansichten auch die Lehren Jesu über die Pharisäer falsch verstanden. Deshalb ist es notwendig, dass wir über die Pharisäer und das Pharisäertum ein klareres Bild bekommen.
Der Name Pharisäer bedeutet „Abgesonderter”. Die Zwillingstürme des Pharisäischen Systems waren die Tora und die Traditionen. Den Pharisäern ging es um die strenge Einhaltung des Gesetzes Mose (Tora), wie es von den Schriftgelehrten ausgelegt und angewandt wurde (Apg 26,5). Sie fügten jedoch viele eigene Gesetze (Traditionen) hinzu, die sie als verbindlich erklärten und den Menschen aufzwangen. Kleinigkeiten wurden zu ihrer Hauptbeschäftigung, so dass sie die wichtigeren Dinge vergassen (Mt 23,23). Wer sich nicht an ihre zusätzlichen Gebote hielt, auf den wurde herabgeschaut und der wurde als unreiner Sünder betrachtet (Mk 2,16; Lk 7,39; 15,2; 18,11). Das führte zu einer Elite, die sich für besser und heiliger hielt als die übrigen Menschen. Um sich nicht zu verunreinigen, sonderte sich diese Elite von den übrigen Juden und vor allem von den Heiden ab. Sie assen beispielsweise nur in einem Haus eines Pharisäers, wo sie sicher sein konnten, dass die Speisen ordnungsgemäss verzehntet und rituell rein gehalten wurden.
Obschon die Priester in alttestamentlicher Zeit für die Lehre und Auslegung des Gesetzes verantwortlich waren (Lev 10,8-11; Dtn 33,8-10), hatte das Volk das Vertrauen zu ihnen verloren. Der Grund waren Korruptionen in der Jerusalemer Priesterschaft. Deshalb erwartete man von den Schriftgelehrten, dass sie das Gesetz auslegten. Einige Schriftgelehrte waren Priester, andere Pharisäer. Die Pharisäer lebten ein diszipliniertes Leben und sahen sich als Experten des Gesetzes Mose. So hielt sich das Volk von selbst eher an das, was sie lehrten, und wandte sich von der Führung der Priester ab.
Die Pharisäer waren überzeugt, dass das Gesetz Mose durch ihre Nachträge von insgesamt 613 Geboten, die sich mit der Zeit entwickelten, Gottes Wille für die Menschen sei. Obschon sie ihre menschlichen Traditionen nicht schriftlich festhielten, wurden sie mündlich von Generation zu Generation als die „Überlieferung der Alten” (Mk 7,3) weiter gegeben. Dazu zählen die zusätzlichen Bestimmungen über die Einhaltung des Sabbats (Mk 2,24), ihre Lehren über die Ehescheidung (Mk 10,2), ihre Auslegungen in Bezug auf das Schwören oder den Eid (Mt 23,16-22), ihre Anweisungen über das Tragen von Gebetsriemen und Quasten (d. h. Fransen, Mt 23,5) usw. Besonders eifrig bestanden sie jedoch auf die Anwendung des Zehnten und die rituelle Reinheit (Mt 23,23-26; Mk 7,1-13; Lk 11,37-42; 18,12).
Die Pharisäer gaben vor das Gesetz sorgfältig einzuhalten, aber ihr Herz war weit weg von Gott. Ihre Motive waren falsch, denn sie suchten die Ehre bei den Menschen und nicht bei Gott (Mt 6,2.5.16; 23,5-7). Sie werden oft als Heuchler bezeichnet, weil sie graue Theorien aufstellten, aber sich selbst nicht daran hielten (Mt 23,1-7).
Im Gegensatz zu den Sadduzäern, die meist reiche Grundbesitzer und mächtige Priester waren, waren viele Pharisäer einfache Leute. Viele Juden respektierten die Pharisäer für ihren Eifer, obschon sie sich nicht die Mühe machten, ihre Gesetze einzeln zu befolgen. Sogar Paulus bescheinigte den ungläubigen Juden einen „Eifer für Gott“ (Röm 10,2) – auch wenn dieser fehlgeleitet war. Vermutlich dachte er in erster Linie an die Pharisäer, als er diese Worte schrieb.
Ursprung und Grundanliegen
Die Pharisäer entstanden in der zwischentestamentlichen Zeit (nach Maleachi, vor Matthäus), wo sie sich von der Ideologie der Chassidim lösten und weiterentwickelten. Die Chassidim betrachteten sich als orthodoxe Juden, die streng religiöse Ansichten vom mosaischen Bund vertraten und sich eifrig am alten Judentum und seinen Bräuchen festhielt. Politische und nationale Bestrebungen waren jedoch von geringem Interesse. Vielmehr waren sie bestrebt, die alten Pfade gegenüber den kulturellen Veränderungen und einer sich wandelnden Welt zu bewahren.
Die grösste Bedrohung fand durch die siebzigjährige babylonische Gefangenschaft (606-536 v. Chr.) statt. Nachdem das Volk Israel das Land Kanaan einnahm, galt es für sie sesshaft zu werden und das Zentrum für den Opferkult aufzubauen. Die Teilnahme an religiösen Festen sollte der ganzen Bevölkerung ermöglicht werden und wurde für alle Männer sogar obligatorisch. Dazu wurde eine Priesterschaft aufgerichtet, die für die Bevölkerung zugänglich war und ihre religiösen Bedürfnisse befriedigen sollte.
Doch die babylonische Gefangenschaft schuf für das Judentum ein Dilemma, das ihre Religion zu zerstören drohte. Der Tempel in Jerusalem lag in Trümmern und das Volk wohnte zerstreut im babylonischen Exil. Somit war auch der Opferdienst in den Tempelanlagen unmöglich. Die Priester konnten ihren Dienst am Tempel nicht vollbringen, da er zerstört war. Religiöse Feste und Pilgerfahrten waren unmöglich. Die Gefahr der Anpassung an die babylonische Kultur war ein tödliches Problem. Wie konnte verhindert werden, dass sich die Juden der heidnischen Welt und Kultur anpassten? Wie konnten sie im Exil ihre religiöse und nationale Eigenständigkeit bewahren?
Obschon den Juden nach Jahrzehnten in der Fremde erlaubt wurde, in ihr Land zurückzukehren, wurde dadurch dieses bedrohende Dilemma nicht beendet. Denn auch nach ihrer Rückkehr standen sie weiterhin unter dem Einfluss der Perser. Sie blieben noch während Generationen ein unterworfenes Volk, kontrolliert von den Ägyptern, unterworfen von den Griechen durch Alexander des Grossen und beherrscht von den Syrern.
Die grösste Bedrohung ging jedoch von der Entschlossenheit der Syrer aus. Mit Antiochus IV. Epiphanes unternahmen sie einen grausam Versuch, die jüdische Kultur und Religion auszurotten, um sie mit der Griechischen (hellenistischen) zu ersetzen. Zu ihren unterdrückenden Massnahmen gehörte die Hinrichtung aller Juden, die heilige Schriften besassen, sowie Mütter samt ihren beschnittenen Säuglingen und Kindern. Unglücklicherweise gab es „moderne” Juden, die den Versuch begrüssten, die jüdische Gesellschaft zu hellenisieren. Sie wünschten sich die moderne griechische Kultur und wollten nicht länger in der Welt isoliert bleiben. Damit bewirkte Antiochus Epiphanes eine Spaltung unter den Juden.
Irgendwann in dieser Zeit entwickelte sich der Pharisäismus. Er wurde durch zwei grundlegende Anliegen motiviert. Das erste Anliegen war der Wunsch, die alten Pfade und Wege des Judentums zu bewahren und zu pflegen. Damit die alten Wege überleben konnten, musste das Judentum praktische Antworten auf die neuen moralisch-ethischen Fragen geben und den tatsächlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens gerecht werden. Unrealistische, bedeutungslose Patentrezepte aus einer nicht mehr existierenden Zeit und Gesellschaft hätten das Judentum dazu verdammt, eine tote Religion zu werden. Die Lehre der Tora musste also mit der Realität der bestehenden Welt in Einklang gebracht werden.
Das zweite Anliegen war die Bemühung, den Fragen, Problemen und Bedürfnissen des täglichen Leben nachzukommen. Der Geist der Tora und die Absicht Gottes in der Tora mussten auf alle Lebenssituationen der Zeit anwendbar sein.
Der Pharisäismus hatte nie das Ziel, die Lehren der Tora zu umgehen oder herabzusetzen. Er entstand und bestand aus der Überzeugung, die Lehren der Tora vollständig zu bewahren.
Schlussfolgerungen
Dieselbe Fehlentwicklung kann bis heute immer wieder in christlichen Religionen beobachtet werden. Der Grundgedanke ist oft gut, denn er soll den Glauben schützen und bewahren. Doch leider entwickeln sich aus gutgemeinten Ideen aufgezwungene Systeme, die sich über den freien Willen des Menschen hinwegsetzen und sie versklaven. Der Glaube kann jedoch niemandem aufgezwungen werden, denn er ist eine freiwillige Entscheidung jedes einzelnen Menschen.