Christus ist besser als der alte Bund
William Barclay, Brief an die Hebräer,
Auslegung des Neuen Testaments
(Aussat-Verlag GmbH, Wuppertal, 1970),
Seiten 107-110.
Frühmorgens reinigte der Hohepriester sich durch Waschungen. Er legte seine prächtige Amtsrobe an, die er nur an diesem Tag trug. Sie bestand aus weissleinenen Beinkleidern, dem in einem Stück gewebten, bis auf die Füsse reichenden weissen Leibrock, dem Obergewand (hebräisch me-il), einem aus purpurblauen Fäden gewebten Rock mit einem umsäumten Halsloch zum Durchstecken des Kopfes, mit Armlöchern ohne Ärmel, unten mit einem Saumschmuck verziert, an dem aus purpurblauen, purpurroten und scharlachroten Fäden gewebte Granatäpfel mit goldenen Glöckchen abwechselten. Darüber wurde das Schulterkleid (hebräisch ephod) getragen. Es war aus weissem, gezwirntem Leinen und aus purpurblauen, purpurroten und scharlachroten Fäden gewirkt, wurde auf den Schultern durch zwei Spangen aus Golddraht, die je einem Onyxstein einfassten, zusammengehalten und unten mit einer kunstvollen Binde um die Hüften befestigt. Auf jedem der Steine waren die Namen von sechs Söhnen Jakobs eingegraben, das heisst die Namen der zwölf Stämme. So trug der Hohepriester die Menschen auf seinen Schultern in seinem Herzen zu Gott. Der Brustschild, eine aus demselben Material wie das Schulterkleid hergestellte Tasche, diente zur Aufbewahrung der Urim und Thummim, was Licht und Recht bedeutet (Ex 28,30). Genaueres über die Bedeutung von Urim und Thummim ist nicht bekannt. Wir wissen nur, dass der Hohepriester den Willen Gottes durch „Urim und Thummim“ zu erfragen hatte. Vielleicht handelte es sich dabei um einen kostbaren Diamanten, auf dem die Konsonanten JHWH eingraviert waren, die Konsonanten des Namens Jahwe, des Namens Gottes. Der Kopfbund (hebräisch miznephet; Luther: Hut) des Hohenpriesters war durch das mit einer purpurblauen Schnur vorn an dem Kopfbund befestigte „Stirnblatt“, einer dünnen Platte aus reinem Gold, auf der die Worte „Heilig dem Herrn“ eingraviert waren, verbunden. Man kann sich gut vorstellen, welche blendende Erscheinung der Hohepriester an seinem grossen Tag gewesen sein muss.
Der Hohepriester begann den Tag wie jeden anderen. Er verbrannte den Weihrauch, brachte das Morgenopfer und war zugegen, wenn die Lampen des siebenarmigen Leuchters geputzt wurden. Daran schloss sich der erste Teil des besonderen Rituals an diesem Tag an. Gekleidet in sein Festgewand opferte der Hohepriester einen jungen Stier, sieben einjährige Schafe und einen Widder (Num 29,8). Dann entledigte er sich des prächtigen Gewandes, reinigte sich zum zweiten Mal mit Wasser und legte ein schlichtes weisses Leinengewand an. Danach wurde ihm ein junger Stier zugeführt, den er aus eigenen Mitteln erstanden hatte. Der Hohepriester legte die Hände auf den Kopf des Tieres und bekannte vor allen Menschen seine persönlichen und die Sünden seines Hauses:
„O Herr, mein Gott, ich habe gefrevelt, ich habe das Gesetz übertreten, ich habe gesündigt - ich und mein Haus. Herr, ich flehe dich an, bedecke (mache wieder gut) die Freveltaten, die Gesetzesübertretungen, die Sünden, die ich vor dir begangen habe, ich und mein Haus, wie es im Gesetz Mose, deines Knechtes, geschrieben steht: »Denn an diesem Tag wird er sie bedecken, um dich rein zu machen. Von all deinen Übertretungen sollst du vor dem Herrn gereinigt werden.«“
Dann blieb der junge Stier sich zunächst selbst überlassen, da sich an das Sündenbekenntnis eine der für den Versöhnungstag kennzeichnenden Zeremonien anschloss. Über zwei Ziegenböcken wurde das Los geworfen. Auf dem einen Los stand: Für den Herrn, auf dem andern: Für Asasel, auch mit Sündenbock übersetzt. Am Horn dieses Bockes wurde ein zungenförmiges Stück scharlachroten Stoffes befestigt. Dann wandte der Hohepriester sich wieder dem jungen Stier am Altar zu und tötete ihn, indem er ihm die Kehle durchschnitt. Ein Priester fing das Blut in einem Becken auf, das ständig bewegt wurde, so dass das Blut, das schon in Kürze Verwendung finden sollte, nicht gerinnen konnte. Damit war der erste grosse Augenblick gekommen. Der Hohepriester nahm eine Pfanne voller Glut und dazu Weihrauch in einem besonderen Gefäss. Damit betrat er das Allerheiligste, um den Weihrauch in Gegenwart Gottes zu verbrennen. Er durfte nicht zu lange darin verweilen, damit das Volk Israel nicht von Angst und Schrecken erfasst wurde. Die Menschen warteten mit angehaltenem Atem auf seine Rückkehr. Kam er dann lebendig zurück, ging ein Seufzer der Erleichterung durch ihre Reihen.
Wenn der Hohepriester aus dem Allerheiligsten hervorkam, nahm er die Schüssel mit dem Stierblut, ging in das Allerheiligste zurück und besprengte es siebenmal mit dem Blut. Dann kam er wieder heraus und tötete den Bock mit dem Zeichen: Für den Herrn, mit dessen Blut er nochmals das Allerheiligste betrat und es besprengte. Nachdem er das Allerheiligste wieder verlassen hatte, vermengte er das Blut des Stieres mit dem Blut des Bockes und besprengte damit die Hörner des Altars und den Altar selbst. Mit dem restlichen Blut wurde der Boden zu Füssen des Brandopferaltars besprengt. Auf diese Weise wurden das Allerheiligste und das Heilige mit dem Altar durch Blut von jeder möglichen Verunreinigung gereinigt. Mit Blut wurde das Sühnopfer vollzogen.
Daran schloss sich die lebendigste Zeremonie an. Der Sündenbock wurde herzugeführt, der Hohepriester legte beiden Hände auf seinen Kopf und bekannte seine eigenen Sünden und die Missetaten des Volkes Israel. Danach wurde der Bock in die Wüste geführt, »in das unbewohnte Land«, beladen mit den Sünden der Menschen. Dort wurde er getötet. Die Sünden der Menschen waren dem Sündenbock auferlegt worden.
Dann wandte der Priester sich dem toten Stier und dem Bock zu und bereitete das Sühnopfer vor. Immer noch in sein Leinengewand gekleidet las er aus der Schrift vor (Lev 16; 23,27-32) und wiederholte auswendig Numeri 29,7-11. Daran schloss sich ein Gebet für die Priester und das Volk an. Er reinigte sich nochmals mit Wasser und zog wieder sein prächtiges Gewand an. Als erstes sühnte er die Sünden des Volkes, indem er ein junges Lamm opferte. Dann vollzog er das übliche Abendopfer und darauf opferte er die bereits vorbereiteten Teile des jungen Stieres und des Bockes. Dann reinigte er sich abermals, legte seine Prachtkleider ab, zog wieder das weisse Leinengewand an und betrat zum vierten und letzten Mal das Allerheiligste, um das Weihrauchgefäss zu entfernen, in dem immer noch der Weihrauch verbrannte. Wieder reinigte er sich mit Wasser und legte erneut sein kostbares Gewand an; danach brachte er das abendliche Brandopfer dar, putzte die Lampen des goldenen Leuchters, und dann war sein Werk beendet. Am Abend feierte er ein Fest, weil er lebendig aus der Gegenwart Gottes zurückgekehrt war.
Das war das Ritual des Grossen Versöhnungstages, an dem alle Gegenstände und alle Menschen von ihrer Sünde gereinigt werden mussten. Das war das Bild, das der Verfasser des Hebräerbriefs bei seinen Worten vor sich sah. Er wird noch viel Aufhebens davon machen, da diese Zeremonie immer wieder aufs Neue vollzogen werden musste. Bis auf den Hohenpriester waren alle Menschen von der Gegenwart Gottes ausgeschlossen, und selbst der Hohepriester betrat das Allerheiligste voller Furcht. Das Reinigungszeremoniell war eine bloss äusserliche Reinigung durch ein Wasserbad. Das Sühnopfer bestand aus jungen Stieren, Böcken und Tierblut - und dies alles versagte, weil Sünde auf diese Weise nicht gesühnt werden kann. Der Verfasser des Hebräerbriefs sieht in dem ganzen Vorgang ein blasses Abbild der Wahrheit, ein schemenhaftes Muster des einen wahren Sühnopfers - des Opfers Christi. Wohl handelte es sich um ein eindrucksvolles Ritual voller Würde und Schönheit; dennoch blieb es nur ein unzulängliches Schattenbild. Jesus Christus ist der einzige Priester und das einzige Sühnopfer, durch das alle Menschen Zugang zu Gott erlangen können.