Hebräer-10: Die Opfergabe Christi

Christus ist besser als der alte Bund

 

 I.   Das Gesetz enthält nur ein Schatten (Verse 1-10)

Der Hebräerschreiber bezeichnet das Gesetz Mose bloss als Schatten der wirklichen Güter. Für jüdische Ohren waren diese Worte ein Skandal, eine Blasphemie, eine Degradierung der Gebote Gottes. Sollte der wunderschöne Tempel in Jerusalem mit allen seinen Türen, Hallen und Räumen, seinen Altären, Säulen, Leuchter, Waschbecken etc. samt der riesengrossen Organisation des Priesteramtes ein verschwindender Schatten sein? Sollte die ganze jüdische Tradition, die seit Jahrhunderten bestand und dem Volk seine Identität gab, nur ein Schatten des wahren Gottesdienstes sein? War das alles bloss ein Schatten wie von Menschenhand an eine Wand gezaubert, der plötzlich wieder verschwinden konnte? – Nein, unmöglich! Das griechische Wort für Schatten (σκία) bedeutet ein verschwommenes Spiegelbild, ein blosser Umriss, etwas Unreales, ohne wirkliche Substanz. Wer möchte schon in den Schatten eines Apfels beissen? Wer würde es wagen, einen reissenden Fluss zu überqueren auf einem Schatten, der durch das Sonnenlicht entstand? Ein Schatten existiert nur wenn es das Wahre gibt, das durch das Licht reflektiert wird. Was aber ist das Wahre? Was sind die künftigen Güter?

Diese ganze Argumentation ist nicht neu, sondern begann schon in Kapitel 8, Vers 1. Wenn in der Bibel von einem Schatten die Rede ist, dann ist damit das Konzept des alten Bundes gemeint (Jer 31,31-34). Der Schatten ist nicht die eigentliche Gestalt oder Form (εἰκών), sondern nur ein Abbild. Das Gesetz ist „ein Schatten des Künftigen, das Wirkliche ist Christus“ (Kol 2,17). Hebräer 9,11: „Christus aber, der als Hoher Priester der wirklichen Güter gekommen ist, ist durch das grössere und vollkommenere Zelt gegangen ...“ Jesus Christus ist das vollkommene Ebenbild (εἰκών) des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). Er machte den unsichtbaren Gott real und sichtbar für uns (2Kor 4,4). Wer Jesus gesehen hat, der hat den Vater gesehen (Joh 12,45; 14,9). In Jesus wohnt die ganze Fülle Gottes (Kol 1,19; 2,9). Das Ziel ist nun, dass wir nach dem Bild des Sohnes Gottes umgestaltet werden (Röm 8,29). Paulus erklärt den Korinthern, dass sie verwandelt werden können in die Gestalt, die Christus bereits hat (2Kor 3,18). Denn, „Wie wir das Bild des Irdischen [Adams] getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen [Adams] tragen“ (1Kor 15,49).

Vers 1: Alle Gläubigen, die nun vor Gott treten, können vollkommen (τελειόω) gemacht werden. Das Wort „vollkommen“ (τέλειος) bedeutet matur, reif, vollentwickelt, ganz, vollständig, wohl überlegt, durchdacht (1Petr 3,21). Das heisst: Das Opfer Christi hat uns vollkommen gereinigt, weil Jesus nicht bloss in das Abbild (= irdisches Heiligtum) hineinging, sondern in den Himmel selbst (Hebr 9,24). Im Gegensatz dazu konnten dieselben Tieropfer, die jedes Jahr dargebracht wurden die Gläubigen im AT niemals vollkommen machen, weil sie bloss ein Abbild waren vom wahren Opfer Jesu Christi (Hebr 9,9.14). Obschon wir in unserem Gewissen gereinigt worden sind durch das Blut Christi, werden wir immer noch aufgerufen, heranzuwachsen zur Vollkommenheit Gottes (Eph 4,13). Jesus lehrte (Mt 5,48): „Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ Wie kann dieser Zustand erreicht werden? Indem wir uns treu an das Evangelium Christi halten, das bedeutet an die zukünftigen Güter; konkret: eine bessere Hoffnung, besseres Opfer, bessere Erlösung, ein besserer Hoher Priester, eben ein besserer Bund; indem wir uns absondern, d. h. heiligen für Gott (2Kor 6,17-7,1). Es dreht sich alles um unser Gewissen, das gereinigt werden muss, um in eine vertrauensvolle Beziehung mit dem lebendigen Gott treten zu können.

Verse 2-3: Der Schreiber argumentiert: Wenn die vielen tausend Opfer im AT tatsächlich die Menschen von ihren Sünden gereinigt hätte, dann wären keine weiteren Opfer mehr nötig. Denn wirkliche Vergebung muss nicht ständig erneuert werden durch den wiederholenden Reinigungsprozess eines Tieropfers. Der Opfernde wäre mit einem einzigen Opfer für immer rein und seine Sünden würden sein Gewissen nicht mehr länger belasten (NGÜ). Doch weil das eben nicht so ist, werden die Menschen durch ihre alljährlichen Opfer bloss an ihre Sünden erinnert (ἀνάμνησις). Eine ständige Wiederholung der Opferhandlungen vermag keinen Schatten in die Wirklichkeit zu verwandeln. Der Tempel stand zwar immer noch und Tieropfer wurden immer noch dargebracht. Der durchschnittliche Jude verstand unter den jährlichen Opferungen Vergebung und nicht bloss Erinnerung an seine Sünden (Ps 31,1 ...). Doch in Vers 3 argumentiert der Heilige Geist durch den Schreiber, dass dies nicht der Fall war in Gottes Augen.

Vers 4: Gott war mit den Tieropferungen im AT nicht vollständig zufrieden (Hos 8,13), sondern hatte einen besseren Plan mit einem besseren Opfer, der den Menschen einen ungehinderten Zugang zu IHM schaffen sollte (1Petr 1,18-19). Tieropfer konnten unmöglich Sünden hinwegnehmen (Mi 6,7). Erst die Opfergabe Jesu Christi ermöglichte einen freien Zugang zu Gott. Im Gegensatz zu den Juden, die sich einmal jährlich (am Jom Kippur) an ihre Sünden erinnerten, tun wir Christen das wöchentlich (Lk 22,19; 1Kor 11,24-25). Wir erinnern uns jedoch nicht bloss an unsere ungetilgten Sünden, sondern wir erinnern uns an die vollständige Vergebung unserer Sünden durch das vergossene Blut Jesu Christi am Kreuz (Mt 26,28). Diese Erinnerungsfeier ist dazu da, um unseren Glauben zu stärken.

Verse 5-7: Der Schreiber argumentiert weiter, dass die alttestamentlichen Opferungen das Opfer Jesu Christi ankündigten. Dabei zitiert er aus dem Psalm 40,6-8. Dieser Psalm illustriert eine Art Konversation, die der Sohn mit dem Vater führte, bevor er in die Welt kam (Vers 5: „Darum sagt er bei seinem Kommen in die Welt ...“). Ähnlich wie in andern Psalmen, wo die Worte Davids die Aussagen Jesu ankündigten (z. B. Ps 22,2; Jes 8,18 in Hebr 2,12-13).

Der Verfasser des Hebräerbriefs benutzte dazu die Septuaginta. Die Originalausgabe des ATs wurde in hebräischer Sprache verfasst. Die Septuaginta (LXX) ist eine Übersetzung des Alten Testaments. Die Septuaginta wurde in den Tagen Jesu oft zitiert und war akzeptiert. Die Formulierungen unterscheiden sich nicht wesentlich voneinander. Im Kern bleibt der Inhalt der Aussage in der LXX dieselbe.

Psalm 40,7a mit Hebräer 10,5b verglichen:
Hebräisch: „An Schlachtopfern und Speiseopfern hast du kein Gefallen,“
Griechisch: „Opfer und Gabe wolltest du nicht,“
Auslegung: Damit sind die alttestamentlichen Tieropfer gemeint, die Gott nicht wirklich zufrieden stellen konnten.

Psalm 40,7b mit Hebräer 10,5c verglichen:
Hebräisch: „aber Ohren hast du mir aufgetan,“
Griechisch: „einen Leib aber hast du mir bereitet,“
Auslegung: „Du hast mich so beeindruckt, dass ich auf alles, was von dir kommt, hören werde.“
Und: Du hast mir einen irdischen Leib gegeben, damit ich mit ihm und durch ihn deinen Willen vollbringe (Joh 4,34).

Psalm 40,7c mit Hebräer 10,6 verglichen:
Hebräisch: „Brandopfer und Sündopfer hast du nicht verlangt.“
Griechisch: „An Brandopfern und Sühnopfern hattest du kein Gefallen.“
Auslegung: Gott wünscht keine Tieropfer, sondern er will, dass die Menschen seinen Willen tun.

Psalm 40,9 mit Hebräer 10,7c verglichen:
Hebräisch: „Deinen Willen zu tun, mein Gott, ist mir eine Lust.“
Griechisch: „um deinen Willen, o Gott, zu tun.“
Auslegung: Das einzige Opfer, das wir Gott machen können, ist Gehorsam sein (1Sam 15,22; Ps 50,14; 51,18-19; Hos 6,6; Jes 1,11-17; Mi 6,6-8; Röm 12,1-2).

Verse 8-10: Der Hebräerschreiber legt nun die zitierten Psalm Worte aus. Dabei betont er die besonderen Verse, um die es in seiner Rede geht. Diese Worte wurden zwar vom König David aufgeschrieben, sie stammen aber von Jesus Christus. Dabei erklärt er, dass das Erste aufgehoben wird, um vom Zweiten ergänzt zu werden. „Das Erste“ ist der Alte Bund mit seinen Brandopfern und Sühnopfern. Der Alte Bund musste entfernt werden, um Platz für den Neuen Bund zu schaffen. Der griechische Begriff (ἀναιρέω) bedeutet gewaltsam entfernen, töten (Bsp. Mt 2,16; Lk 23,32; Apg 10,39; 2Thess 2,8). „Das Zweite“ ist der Neue Bund mit dem Opfer Christi, der Gottes Willen erfüllte.

Bevor Jesus auf diese Erde kam, wurde seine Mission ausgiebig geplant und diskutiert (Joh 3,16; 2Kor 8,9). Weil Jesus in allem Gottes Willen tat, ist er das einzige vollkommene Opfer. Weil Jesus den Willen Gottes erfüllte, sind wir ein für alle Mal geheiligt. Allein dieser Text macht klar und deutlich, dass ein Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem für alle Gläubigen ein grosser Rückschritt wäre. Er würde erfordern, dass die alten Opferrituale und Gesetze wieder in Kraft treten müssten und somit die Sünden der Menschen nicht ausgetilgt werden könnten. Welcher Gläubige möchte schon einen neuen Tempel bauen in Jerusalem, nachdem er den göttlichen Plan der himmlischen Güter verstanden hat?

 

 II.   Durch Christus geheiligt (Verse 11-18)

Vers 11: Nachdem der Schreiber die Unzulänglichkeit der Tieropfer gründlich erklärte, zeigt er nun die unübertreffliche Wirkungskraft des Opfers Christi. Zuerst einmal wird Jesus als sitzender Retter dargestellt.

Der Priester „steht“ täglich im Dienst, um immer wieder dieselben Opferungen durchzuführen. Dieses Stehen symbolisiert den unvollendeten Zustand unter dem alten System. Im Gegensatz dazu sitzt Jesus auf dem Thron Gottes, d. h. er hat seinen Dienst vollendet. Ein Priester der sich setzte war das Zeichen oder die Garantie eines vollendeten Dienstes (wie am Jom Kippur) und eines akzeptierten Opfers von Seiten Gottes.

Vers 12: Jesus vollbrachte also mit einer einzigen Opfergabe vollständige Vergebung für alle Generationen.

Während die täglichen Opferungen niemals Sünden beseitigen konnten (V. 11), vermochte Jesus mit einem einzigen Opfer alle Menschen, die sich heiligen lassen, für immer zur Vollendung zu führen (V. 14). Während die heidnischen Religionen im ersten Jahrhundert ihren Göttern immer wieder Opfer darbrachten, erhielt die christliche Religion ein einmaliges Opfer, das für alle Zeiten gültig war und die Menschen retten konnte. Das ist einzigartig in der Geschichte! Keine andere Religion kennt ein solches einmaliges Versöhnungsopfer. Selbst in der jüdischen Religion dürfen die Priester nicht absitzen, denn ihr Dienst bleibt unvollendet.

Vers 13: Jesus sitzt nun zur Rechten Gottes und wartet. Hier wird erneut der Psalm 110,1 ins Bild gebracht (siehe Kap. 5 und 7). Er wartet bis zum Ende der Zeiten, wenn er das Reich dem Vater übergeben wird (1Kor 15,24). Das wird dann geschehen, wenn der letzte Feind zu Nichte gemacht wurde (1Kor 15,24-25). Dann wird der allerletzte Feind vernichtet - das ist der Tod (1Kor 15,26-27). Wenn Jesus wiederkommt und die grosse Auferstehung oder Auferweckung stattfindet, dann wird er seine Herrschaft dem Vater übergeben (Joh 6,39.44). Dies steht in direktem Widerspruch zur Lehre der tausendjährigen Herrschaft, dass Jesus, wenn er wiederkommt seine Herrschaft antreten werde. Das endgültige Gericht findet nach der Auferstehung der Toten statt (Joh 5,28-29).

Vers 14: Alle, die sich heiligen lassen, werden für immer zur Vollendung geführt. Es ist in der Bibel niemals von einer Allversöhnung die Rede. Jesus starb zwar für die ganze Menschheit. Die Menschheit muss sich aber versöhnen und heiligen lassen. Alle, die glauben und Jesus anziehen in der Taufe, werden gerettet werden (Gal 3,26-27; Eph 5,25-26; Hebr 10,22). Alle, die ihr altes Leben begraben haben in der Taufe, wurden auferweckt zum neuen Leben in Christus (Kol 2,12; 3,1). Alle, die sich berufen lassen zu einem Leben in Heiligung, werden mit Christus in der Ewigkeit leben (1Thess 4,1-8). Darum, lasst uns ein geheiligtes Leben führen, damit wir zur Vollendung gelangen! (Hebr 2,10; 7,11.19.28; 10,1).

Verse 15-18: Der Heilige Geist weist im AT bereits auf diesen besseren Bund hin. Er spricht durch den Mund des Propheten Jeremia (Jer 31,31-34). Wie wird Gott uns seine Gesetze ins Herz schreiben? (siehe Kapitel 8, Punkt D.)

Bsp. Beschneidung und Taufe: Kein Mensch zählt zum Neuen Bund durch seine physische Geburt. Es war schon immer Gottes Wille, dass sich die Menschen an ihren Herzen beschneiden lassen (Dtn 10,16; 30,6; Jer. 4,4a; Gal 5,2.6; 6,15; Kol 2,11-13).

Bsp. Opferungen und Hingabe: Niemand kann durch das Blut eines unschuldigen Tieropfers seine Sünden abwaschen. Nur das vollkommene Blut Jesu Christi reicht aus, um alle Generationen von aller Sünde reinzuwaschen (Hebr 9,14). Deshalb sind nun auch keine weiteren Opferungen mehr nötig (V. 18). Wo Gott vergibt da vergisst er auch (Jes 43,25; 44,22; Jer 31,34). Gottes Wille ist es nun, dass wir uns IHM selbst hingeben als lebendige und heilige Opfer (Röm 12,1-2).

Der neue Bund ist deshalb besser, weil er aus uns gläubige Menschen macht. Wir dienen dem Herrn nicht aus Zwang und durch äusserliche Einhaltung des Gesetzes Mose. Wir lieben den Herrn freiwillig und aus tiefstem Herzen. Wir sind Gott ganz nah gekommen und leben, um IHM wohlzugefallen mit unserem ganzen Denken, Reden und Handeln (Eph 2,11-13; 4,17-25). Weil der Heilige Geist uns dies alles bezeugt durch sein Wort, brauchen wir keine weiteren Bestätigungen oder Zeichen mehr vom Himmel (2Petr 1,3).

 

 III. Zutritt zum Heiligtum (Verse 19-22)

Hier beginnt ein neuer Abschnitt im Hebräerbrief. Der erste Teil des Briefes (Kapitel 1-10,18) besteht aus viel Theorie, die nicht immer leicht verständlich ist. Der zweite Teil des Briefes (Kapitel 10,19-13) besteht aus der Anwendung dieser Theorie. Der folgende Abschnitt, der bis zum Ende des Briefes geht, könnte lauten: Lasst uns nun im Glauben wandeln und den Herrn anbeten!

Im Griechischen beginnt der Satz in Vers 19 mit einem „Darum ...“ und endet erst in Vers 25 (siehe Auflistung in Einführung X. Auflistung ...). In den Versen 19 bis 21 wird drei Mal auf das „weil“ hingewiesen. Mit andern Worten: „Weil das alles wahr ist, wollen wir etwas tun.“ Weil wir freien Zugang haben zu Gottes Gnadenthron ... Weil wir einen neuen und lebendigen Weg haben ... Weil wir einen grossen Hohenpriester haben ... Es geht also um einen klaren Aufruf zum Handeln und nicht bloss um sich in geistlicher Erkenntnis zu erlaben und erleuchten zu lassen.

Was bewirkt das Blut Christi für uns? Einen freien und ungehinderten Zugang zu Gottes Heiligtum (= Allerheiligstes, 9,3). Das Heiligtum ist die Gemeinde (siehe Tabelle in Gliederung und Überblick: Schatten und Wirklichkeit). Mose diente dem Haus Gottes (Heiligtum) und der Volksgemeinde Israel im Alten Bund (Hebr 3,5). Jesus dient als Sohn über das Haus Gottes und das sind wir. Er ist das Haupt der Gemeinde (Hebr 3,6; Eph 1,22-23). Das Allerheiligste ist der Himmel (siehe Tabelle in Gliederung und Überblick: Schatten und Wirklichkeit). Das irdische Heiligtum diente als Abbild des Himmels (Hebr 9,1-3.23-24). Das Allerheiligste ist das himmlische Jerusalem, wo sich Gottes Thron befindet (Hebr 12,22). Der Vorhang ist der Leib Christi (siehe Tabelle in Gliederung und Überblick: Schatten und Wirklichkeit). Der Vorhang trennte das Heiligtum vom Allerheiligsten, hinter den nur der Hohe Priester, einmal im Jahr, treten durfte (Hebr 9,7). Durch den Tod Jesu wurde der Vorhang in der Mitte entzwei gerissen, der nun allen Gläubigen den Zugang zum Himmel ermöglicht (Hebr 10,19-20).

Als Priester folgen wir nun unserem Hohenpriester, auf dem neuen und lebendigen Weg ins Allerheiligste (2Kor 5,1; 1Petr 2,21). Das Allerheiligste (in dem die Bundeslade stand), in dem Gott wohnte, war durch den Vorhang von der übrigen Stiftshütte getrennt. Als Jesus am Kreuz den Geist aufgab, zerriss dieser Vorhang im Heiligtum von oben bis unten entzwei (Mt 27,51). Damit wurde das Allerheiligste für alle sichtbar und zugänglich was bedeutet, dass alle Gläubigen freien Zugang zu Gottes Gnadenthron haben (Hebr 4,16). Jesus ist der Weg, der durch seinen Tod den Himmel für uns öffnete (Joh 14,6). Jesus sitzt bereits auf dem Thron zur Rechten Gottes (Hebr 8,1). Diese Glaubensgewissheit schenkt uns das Gefühl der Geborgenheit. Wir fühlen uns in Christus zu Hause, weil wir durch die Wiedergeburt aus Wasser und Geist in sein Reich versetzt wurden (Joh 3,5; Kol 1,13). Als Brüder und Schwestern sind wir Gottes Mitarbeiter und Gottes Bauwerk (1Kor 3,9.16-17).

Darum, lasst uns zum Thron der Gnade hinzutreten - mit aufrichtigen und gereinigten Herzen (Joh 4,24; 1Joh 3,20), erfüllt und überzeugt vom Glauben (Hebr 11,6), und am Leib gewaschen mit reinem Wasser (= Taufe, Ex 19,10; 1Petr 1,22-23).

Es gilt nun diesen Verheissungen Gottes zu glauben und seinen Worten zu gehorchen. Erst dann sind wir ausgerüstet zum Dienst am Heiligtum und zur Anbetung Gottes! Es geht hier und in den folgenden Versen, um drei Aufrufe mit drei typischen Begriffen (die auf Paulus hinweisen):

- Lasst uns hinzutreten - mit Glauben (V. 22).

- Lasst uns festhalten - an der Hoffnung (V. 23).

- Lasst uns einander anspornen - zur Liebe (V. 24).

Der neue Bund ist der neue und lebendige Weg, durch den wir in den Himmel gelangen. Durch das Blut Christi bekommen wir Zugang zum neuen Bund und zum Thron der Gnade. Nur durch das Blut Jesu können wir unser Gewissen vollständig reinigen und stehen mit reinen Herzen vor Gottes Thron. Dieser ganze Prozess ermöglicht uns Menschen wieder in die vollkommene Gemeinschaft mit unserem Schöpfergott zurückzukehren (Gen 3,24; 1Joh 1,7). Wir dürfen uns freuen, denn wir sind bereits zu Hause angekommen und feiern unseren Erlöser jeden Sonntagmorgen in der heiligen Versammlung im Abendmahl.

 

 IV. Lasst uns ... (Verse 23-25)

Vers 23: Lasst uns am Bekenntnis der Hoffnung festhalten!
Weil wir unseren Leib mit reinem Wasser gewaschen haben. Das „Festhalten“ ist ein Schlüsselwort im ganzen Hebräerbrief (3,6.14; 6,18-19). Gemäss der Lehre Calvins kann jemand, der sich wahrlich bekehrte, gar nicht abfallen. Er braucht sich dementsprechend auch gar keine Mühe zu geben im Glauben, denn sein ganzes Leben wird von Gottes Gnade überflutet. Diese Gesinnung führt dazu, dass die Gemeinde nichts Besonderes ist und die Versammlungen nicht unbedingt regelmässig besucht werden müssen. Weshalb ermahnt uns denn der Hebräerbrief festzuhalten und nicht loszulassen?

Vers 24: Lasst uns einander anspornen zur Liebe und zu guten Taten!
Weshalb? - Weil wir Zutritt haben zum Heiligtum und zum Allerheiligsten Gottes! Wir sind füreinander verantwortlich! Christsein ist keine Privatsache. Es ist nicht egal, was wir voneinander denken und wie wir miteinander umgehen. Wir werden aufgerufen einander anzuspornen - zur Liebe und zu guten Taten. Deshalb ist es notwendig, an den Versammlungen der Gemeinde festzuhalten. Wir sollen einander ermutigen, erbauen und beistehen (1Kor 14,26-33). In diesem Vers wird nicht gesagt, dass wir einander ermutigen sollen, die Versammlungen der Gemeinde nicht zu verlassen, sondern dass wir uns versammeln sollen, um einander zu ermutigen zur Liebe und zu guten Taten.

Das griechische Wort für „anspornen“ (παροξυσμός) bedeutet anreizen zu einem heftigen oder erbitterten Streit (Apg 15,39). Dasselbe Wort wird für die Agape-Liebe gebraucht (1Kor 13,5). In unserem Text wird dasselbe Wort für den positiven Anreiz gebraucht. Wir werden aufgerufen einander zu provozieren, zu motivieren, anzuspornen zur Liebe und zu guten Taten. Es geht nicht bloss darum, dass die eigene Seele gerettet wird, sondern dass auch der Bruder und die Schwester zum ewigen Ziel finden. Christen sind füreinander verantwortlich.

Wer selbstsüchtig nur an sich denkt, läuft Gefahr seine eigene Seele zu verlieren. Schon mancher hat seine Seele gerettet, weil er sich für andere einsetzte und über der Sorge für andere seine eigenen Sorgen vergass (Jak 5,19-20). „Ein selbstsüchtiges Christentum ist ein Widerspruch in sich.“ Diese Agape-Liebe kann erst dann aktiv werden, wenn wir uns miteinander abgeben, d. h. Gemeinschaft pflegen, zum Beispiel in der Anbetung, in der Gastfreundschaft (Röm 12,13). Es ist keine Option, sondern ein Befehl Christi an alle Nachfolger, sich gegenseitig zu lieben und einander Vorbilder zu sein in guten Werken (Joh 13,34-35; 15,12; 1Petr 2,17; 4,8; Röm 13,13; 1Tim 4,12; Tit 2,7.15).

Vers 25: Lasst uns die Versammlungen (ἐπισυναγωγή) der Gemeinde nicht verlassen!

Es geht hier offensichtlich um einen Versammlungsort, den die ersten Christen regelmässig aufsuchten oder besuchen sollten (Jak 2,2). Im Hinblick auf die Wiederkunft Christi, der alle Gläubigen für immer zusammenführen wird (2Thess 2,1). Das Zusammenkommen mit andern Gläubigen schenkt uns Zuversicht auf den Tag der Wiederkunft (1Joh 2,28). Niemand weiss weder Tag noch Stunde und deshalb sollten wir in täglicher Erwartung auf die Wiederkunft Christi leben wie die ersten Christen (1Thess 5,1-2.11). Mit der Versammlung der Gemeinde ist die Zeit gemeint, in der eine örtliche Gemeinde zur Anbetung zusammenkommt (1Kor 11,18; 14,23a). Jede Gemeinde bestimmt selbst ihre Versammlungszeiten.

Die örtliche Gemeinde bewahrt unseren Glauben, stärkt unsere Hoffnung und mehrt unsere Liebe zum Herrn und zueinander. Alle Gläubigen brauchen die Zugehörigkeit zu einer örtlichen Gemeinde (1Kor 12,12-14.27). Die Zugehörigkeit zur örtlichen Gemeinde ist ein Zeichen unserer Absonderung von der Welt (2Kor. 6,16-17). Die Gemeinde ist das Trainingslager zur Heiligung, zur Hingabe, zum Dienst. Wir versammeln uns nicht bloss um zu empfangen, sondern auch um zu geben (Gal 5,13; 6,2).

Wir sollen einander ermahnen (παρακαλέω) oder mit Zuspruch beistehen. Parakaleo bedeutet zu sich rufen, wie ein Vater sein Kind (1Thess 2,11-12; Apg 20,31). Der Hebräerschreiber ruft auf zur täglichen Ermahnung (3,12-13). Die ersten Christen sahen einander täglich im Tempel und in den Häusern (Apg 2,46; 12,12). In unsere heutige Zeit übertragen sollte mindestens einmal in der Woche ein Versammlungsbesuch (d. h. Bibelstunde) angeboten werden.

Nicht nur die Anbetungsstunden am Sonntag, zählen als Versammlungen! Dieser Vers bezieht sich nicht nur auf die Anbetungsstunden am ersten Tag nach dem Sabbat (Apg 20,7; 1Kor 16,1). Alle Versammlungen, die in einer örtlichen Gemeinde angeboten werden oder stattfinden, sind Anlass zur aktiven Teilnahme von jedermann. Dazu zählen Bibelstunden, Hauskreise, Frauenstunden, Jugendarbeit, Seminare, Ausflüge, Gemeinschaftsessen, Besprechungen usw. Bei grösseren Gemeinden mit einem grösseren Angebot können Glieder auswählen nach ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten, da ja unmöglich das ganze Angebot genutzt werden kann. Der Gesundheitszustand und verschiedene andere Aspekte sind für manche Gläubige ein Hinderungsgrund oder eine Einschränkung. Wichtig dabei ist, dass jeder so viel mitmacht wie er oder sie kann. Alles geschehe zur Erbauung (1Kor 14,26).

Wir gehören Christi Gemeinde an (Eph 5,25-27). Christus hat uns herausgerufen aus der Finsternis ins Licht (Mt 22,14; Apg 26,18; Kol 1,13). Ekklesia bedeutet Gemeinde, wörtlich Herausgerufene. Christus ist das Haupt der Herausgerufenen (Eph 1,22). Die Gemeinde ist der Leib Christi (Eph 1,23). Wir sind in diesen Leib hineingetauft worden (1Kor 12,13). Christen sind zu einem Leib, zu einem Geist, zur Gemeinschaft und zum „Teamwork“ berufen (Eph 4,4). Unser Glaubensziel ist die ewige Gemeinschaft mit Gott, Jesus Christus, seinen heiligen Engeln und allen Geretteten im Himmel. Gläubig sein und Einzelgänger sein ist ein Widerspruch in sich selbst. Der Mensch ist ein soziales Wesen und zur Gemeinschaft geschaffen. Für die meisten Menschen bedeutet Einsamkeit die Hölle. Es gibt viele Überlebensstrategien (Bsp. Survival Dokumentationen), aber keine gegen Einsamkeit. Wer kann schon die Macht des Gebets einschätzen, wenn die Heiligen einmütig ihre Stimme zum allmächtigen Gott erheben?! (Apg 4,24.31). Wenn die Erlösten zum Herrn schreien in ihrer Not, dann werden sie gehört und aus ihrer Bedrängnis befreit (Ps 107,6.13.19.28).

 

 V.   Vorsätzlich Sündigen (Verse 26-31)

Die Irrlehre, die behauptet, dass ein Bekehrter niemals vom Glauben abfallen könne, hat mit diesen Versen grosse Probleme (siehe Sünde, Lektion 6, Vorherbestimmt zum Leben ...?). „Denn“ (γάρ) bezieht sich auf den vorherigen Abschnitt. Es verknüpft das Verlassen der Versammlung der Gemeinde mit der vorsätzlichen Sünde. Wer die Versammlungen verlässt, der sündigt vorsätzlich oder willkürlich (ἑκουσίως) und verstösst gegen den Willen des Herrn. Die Versammlungen verlassen bedeutet sich gegen Gott auflehnen.

Vers 26a: Der Autor des Hebräerbriefs betont das willentliche Sündigen (ἁμαρτάνω).
Es geht hier nicht um unbeabsichtigtes oder versehentliches Sündigen das vergeben werden kann. Schon im AT gab es unbeabsichtigte Sünden (Lev 4,1-2). Jeder kann von einem Fehltritt überrascht werden (Gal 6,1-2). Auch Christen sündigen nach wie vor (1Joh 1,8-10; 2,1).

Es geht um mutwilliges Sündigen, durch das es keine Vergebung mehr gibt. Damit ist ein willentlicher und bewusster Verstoss gegen Gottes Anordnungen gemeint, ohne Reue und ohne Einsicht. Dazu kommt das Verharren in der Sünde ohne Bereitschaft zur Umkehr (wie in Hebr 6,4-6). Jesus nennt das „Sünde gegen den Heiligen Geist“ (Mt 12,32; Mk 3,29); wenn Gläubige abfallen und zu Feinden Christi werden (1Tim 1,19; 2Tim 4,10).

Viele verlassen die Versammlung der Gemeinde und behaupten trotzdem dem Herrn treu zu sein. Das ist jedoch ein Widerspruch in sich selbst, wie der Hebräerschreiber sagt. Die Versammlungen verlassen und dem Herrn treu zu sein, sind zwei gegensätzliche Handlungen, die nicht miteinander vereinbart werden können. Wer die Gemeinde verlässt, der weicht feig zurück und setzt sein ewiges Leben aufs Spiel (10,39; Offb 21,8: Feiglinge, Treulose).

Was können Gründe sein, die zu solch Fehlverhalten führen? Undankbarkeit für die örtliche Gemeinde. Desinteresse an der Anbetung Gottes und an seinem Wort. Streitigkeiten und keine Bereitschaft zur notwendigen Auseinandersetzung; Unversöhnlichkeit, Unglaube, Uneinsichtigkeit, Verhärtung des Herzens, Hass, Lüge, Leben in der Sünde, Auflehnung gegen Gott und die Geschwister usw.

Vers 26b: Es geht um Gläubige, die die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben. Mit der Erkenntnis (ἐπίγνωσις) ist das volle Verständnis der Wahrheit gemeint. Es geht hier nicht um „Gläubige“, die nie richtig bekehrt wurden (z. B. wie Simon der Zauberer, Apg 8,13-18-24). Es geht hier nicht um Irrlehrer, die nie richtig zur Gemeinde gehörten (1Joh 2,19). Es geht um Glieder, die die Anfangslehre verstanden haben, aber ihr Herz verhärten und sich der Gemeinschaft der Heiligen entziehen (Hebr 3,8; 6,4-6).

Je grösser die Erkenntnis desto grösser ist die Verantwortung zum Dienst. Je grösser das Geschenk Gottes desto grösser unser Gehorsam und unsere Hingabe (Hebr 2,1-3). Es gibt solche, die zwar ständig lernen, aber nie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (2Tim 3,7-8). Andere haben wohl Eifer für Gott, aber mit falscher Erkenntnis (Röm 10,2).

Vers 26c: Der Hebräerschreiber sagt, dass es für solche Gläubigen kein Sühnopfer mehr gibt. Nicht weil das Opfer Christi etwa nicht genügend Kraft besitzen würde. Sondern, weil eine Bekehrung nicht rückgängig gemacht werden kann, weil Jesus ein für alle Mal gestorben ist für unsere Sünden und nicht wiederholt werden kann (10,12).

Vers 27: Für solche Sünder bleibt nur noch das Endgericht Gottes. Schrecklich wird das Feuergericht Gottes sein (12,29; 2Thess 1,7b-8; Mt 25,30.41; Num 16,1-35). Für alle Abgefallenen wäre es besser, sie hätten den Weg der Gerechtigkeit nie erkannt (2Petr 2,20-22). Es ist tatsächlich möglich, vom Glauben und somit vom ewigen Leben abzufallen: Wir können vom Ölbaum weggeschnitten werden (Röm 12,22). Wir können aus der Gnade fallen (Gal 5,4). Wir können die erste Liebe verlassen (Offb 2,4-5). Wir können unsere Glaubenszuversicht wegwerfen (Hebr 10,35). Wir können den Herrn ebenso verlästern wie im Alten Testament (Num 15,30).

Vers 28: Es sieht aus, als ob es unter dem Gesetz Mose kein Erbarmen gab für vorsätzliche Übertretungen. Jede Übertretung und jeder Ungehorsam empfing einen gerechten Lohn (2,2b). Es ist falsch zu meinen, die Gnade lasse im Neuen Bund jegliche Sünden unbestraft (2,3). Vers 28 könnte auf die Stelle in Deuteronomium 17,2-7 hinweisen, die von der Todesstrafe spricht für willkürliche Übertretungen des Gesetzes Mose. Ein Todesurteil bekam seine Gültigkeit nur auf Grund von zwei oder drei Zeugen. Einer alleine konnte niemand zum Tod verurteilen. Viele falsche Verurteilungen in der Gemeinde könnten verhindert werden, wenn dieses Prinzip heute noch öfters angewandt würde (1Tim 5,19). Wenn der Angeklagte für schuldig anerkannt wurde, musste er unter dem alten Bund ohne Erbarmen getötet werden.

Vers 29: Die Strafe unter dem neuen Bund ist jedoch schlimmer oder härter (χείρων). In diesem Vers wird eine Frage gestellt, in der die Antwort bereits enthalten ist. Im AT war die Strafe für mutwillige Sünden offenbar geringer als im NT. Auf mutwillige Sünden wie zum Beispiel Götzendienst lastete die Todesstrafe. Was kann schlimmer sein als der physische Tod? Nur die geistige und ewige Verdammnis ist schlimmer, der zweite Tod (Offb 20,15; 21,8)! Jeder der mutwillig sündigt der - tritt den Sohn Gottes mit Füssen (6,6; Mt 7,6), entweiht das Blut des Bundes (1Kor 11,25), verachtet den Geist der Gnade (Röm 8,26; Joh 16,8; Apg 7,51). Das ist Sünde gegen den Heiligen Geist (Mt 12,31-32; Mk 3,28-29; Lk 12,10). Der Hebräerschreiber sagt unmissverständlich, wenn ein Bekehrter zum Judentum zurückkehrt, dann sündigt er gegen den Sohn und gegen den Heiligen Geist. Ebenso, wenn ein Christ die Gemeinde verlässt und in die Welt zurückkehrt. Jesus lehrt, dass die Strafe nach der entsprechenden Erkenntnis und Fähigkeit eines jeden Menschen vollzogen wird (Lk 12,47-48).

Verse 30-31: Die furchtbare Rache Gottes. Der Autor des Briefes schliesst mit einer Drohung. Dabei zitiert er eine Stelle aus Deuteronomium 32,35-41. Diese Stelle wird nicht wortwörtlich wiedergegeben. Die Wahrheit bleibt jedoch dieselbe. Eine Version dieser Aussage ist auch in Psalm 135,14 zu finden. Gott wird sein Wort halten (Mt 24,35). Auch Paulus gebrauchte dieselben Worte, die er aus einem uns unbekannten Text zitierte (Röm 12,19). Dabei geht es Gott nicht um Rachsucht, sondern um Gerechtigkeit (Röm 1,18; Offb 16,7). Gott allein kann gerecht richten, wir Menschen können das nicht (Dtn 32,4; Ps 89,15; 145,17; Offb 15,3). Gott kennt unsere Gefühle und Gedanken (Jer 17,10; 1Chr 28,9). Gott kennt unsere Fähigkeiten und unsere Zukunft (Röm 5,7). Gott wird richten und niemand kann sich seinem Gericht entziehen (Mt 25,46; 2Thess 1,5-10; Offb 14,11; 20,10).

Wir sehen, das Neue Testament enthält auch Drohbotschaften. In der heutigen Zeit wird jeder Prediger abgelehnt, der Drohbotschaften verkündet. Doch das Evangelium Christi enthält auch diesen Teil der Wahrheit (Mt 5,22; 10,28; Mk 9,47-48). Für alle Ungläubigen und Abgefallenen gilt: „Schrecklich ist es, dem lebendigen Gott in die Hände zu fallen“ (10,31). „Denn unser Gott ist ein verzehrendes Feuer“ (12,29). Es gibt keinen schlimmeren Zustand als den, einmal mitten in der Gemeinschaft Christi gewesen zu sein und schliesslich abgefallen. Doch Gott droht nicht nur sondern verspricht allen Gläubigen eine wunderbare Zukunft (Jak 1,12; Offb 2,10c; Mt 5,3-12).

 

 VI. Erinnert euch an früher und habt Ausdauer! (Verse 32-39)

Der Autor war offenbar überzeugt, dass die Empfänger des Briefs noch nicht Abgefallene waren, sonst würde er sie nicht auf diese Weise aufrufen.

Vers 32: Erinnert (ἀναμιμνήσκω) euch an die früheren Tage. In Kapitel 4,1 war davon die Rede, dass die Empfänger dieses Briefs sich davor hüten sollten zu meinen, die Zeit der grossen Verheissungen sei vorbei. Niemand sollte wehmütig zurückblicken, denn die grossen Zeiten liegen nicht hinter uns, sondern vor uns, erklärte der Schreiber. Auf die Gläubigen des Neuen Bundes warten grössere Verheissungen. Es ist also keineswegs ein Widerspruch, wenn die Christen damals aufgerufen werden, sich an die früheren Tage zu erinnern.

Denn dieser Aufruf ist nicht auf die alttestamentlichen Verheissungen bezogen, sondern auf den Eifer und die Leidensbereitschaft der Gläubigen, die sie damals hatten. Paulus ruft diesen Eifer auch dem Timotheus ins Gedächtnis (2Tim 1,6). Timotheus wurde beauftragt, die Korinther an die Wege zu erinnern, die Paulus mit Christus ging (1Kor 4,17).

Es waren die Tage als sie erleuchtet (φωτίζω) d. h. gläubig und getauft wurden (6,4), als sie die himmlische Gabe schätzen gelernt haben, als sie die Erkenntnis der Wahrheit empfingen (10,26).

Es geht hier um Tage, die ziemlich weit zurückliegen (ausgehend von ca. 63-64 n. Chr.). Wenn diese neubekehrte Priester waren (Apg 6,7), dann standen sie damals unter grosser Gefahr. Nachdem Stephanus gesteinigt wurde, brach nämlich eine grosse Verfolgung aus über die Gemeinde in Jerusalem (Apg 7; 8,1). Mit ihrer Bekehrung schockierten diese Priester sicher alle ungläubigen Juden, besonders aber Saulus aus Tarsus, d. h. Paulus.

Diese Erleuchtung geschah durch die Verkündigung des Evangeliums (2Kor 4,4) von Jesus Christus (Joh 1,9; Eph 1,18; 3,9). In den folgenden Jahrhunderten bezogen die christlichen Schreiber den Ausdruck „die Erleuchtung der Augen des Herzens“ auf den Tag der Taufe. Dabei meinten sie nicht etwa eine besondere innere Erleuchtung, welche die Gläubigen überkam, so dass sie Dinge sehen konnten, die sie vorher nicht sahen. Es ging lediglich um den Glauben wie zu Pfingsten, den das Volk von der Wahrheit über den gekreuzigten Messias überzeugte (Apg 2,32-41).

Vermutlich befanden sich die Empfänger des Hebräerbriefs noch nicht unter den ersten Bekehrten zu Pfingsten (Apg 2, d. h. ca. 33 n. Chr.). Noch hatten sie Christus gesehen, als er auf Erden lebte. Es könnte jedoch gut sein, dass sie kurz nach den ereignisvollen Pfingsttagen zum Glauben fanden (Apg 6,7). An jene Tage sollten sich die Gläubigen im Hebräerbrief erinnern (vor ca. 20-30 Jahren). Damals waren sie bereit, einen harten Leidenskampf durchzustehen; wörtlich, viel Kampf (ἄθλησις) erduldet (ὑπομένω) in den Leiden (πάθημα). Das könnte auf die Verfolgung der Gemeinde in Jerusalem hindeuten (Apg 8,1; 12,1-3).

Vers 33: Wie sah denn dieser Leidenskampf konkret aus? Die einen wurden beleidigt, beschimpft durch Schmähungen (ὀνειδισμός) und Bedrängnis (θλίψις) zur Schau gestellt (θεατρίζω). Jesus warnte und tröstete seine Jünger (Mt 13,21; 24,9.21; Joh 16,33). Paulus schrieb den Gläubigen (Eph 3,13; 2Kor 1,4). Johannes verkündete von der Insel Patmos aus (Offb 2,10; 7,14). Die andern sind Genossen oder Gefährten (κοινωνός) der Misshandelten geworden, oder derer die im Glauben wandelten (ἀναστρέφω).

Vers 34: Sie hatten erfahren, was es heisst, als Übeltäter verdächtigt zu werden und einer unpopulären Gemeinschaft anzugehören. Der Heilige Geist trieb sie an, mit den Gefangenen (δεσμόν, δεσμός) zu leiden (συμπαθέω), wörtlich zu sympathisieren. Das heisst, sie haben den Gefangenen zu Essen gebracht, was nicht ungefährlich war für sie selbst. Es kann gut sein, dass man die Gefangenen hungern liess (Mt 25,35-36).

In Kapitel 13,3 erinnert der Schreiber sie noch einmal daran, die Gefangenen in Christus zu unterstützen, weil sie auf Hilfe angewiesen seien. Unser Herr Jesus Christus sympathisiert mit uns auch auf diese Weise (4,15). In der englischen „AV rendition“ (autorisierte Version: KJV) heisst es: „for you had compassion on me in my chains (or: in my bonds) ...“ Die KJV stützt sich auf den Codex Sinaiticus (älteste, aber nicht beste Handschrift). Auch die Schlachterbibel (Textus Receptus): „Denn ihr hattet Mitleid mit mir in meinen Ketten bewiesen.“ Deshalb sagte Westcott, diese Ausdrucksform könne nur von Paulus stammen als er im Gefängnis war.

Sie nahmen den Raub (ἁρπαγή) ihrer Güter (ὑπάρχοντα) mit Freuden (χαρά) hin. In Zeiten der Verfolgung gab es gewalttätige Banden, die durch die Gegenden zogen und die Häuser derer plünderten, die auf der Flucht waren. Sie lernten, dass das Leben nicht auf dem Besitz beruht (Lk 12,15). Sie konnten sich freuen, weil sie an den besseren (κρείττων) und bleibenden Besitz (ὕπαρξις) glaubten, nämlich an den grossen Lohn im Himmel (Lk 6,23). Sie sammelten sich nicht Schätze auf Erden, sondern im Himmel (Mt 6,20).  Auch Abraham setzte sein ganzes Leben auf „die Stadt mit den festen Fundamenten“ (Hebr 11,10).

Alle Alten, die im Glauben starben streckten sich nach „einer besseren Heimat“ aus (Hebr 10,16). Die Heiligen in Judäa litten auch mit denen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden (Apg 4,23; 12,12-17). Denn sie hatten gelernt, dass sie Glieder eines Leibes sind und wenn ein Glied leidet, dann leiden alle andern mit (1Kor 12,26). Sie waren überzeugt, dass sie Aussicht auf „ein unzerstörbares, unbeflecktes und unverderbliches Erbe“ im Himmel hatten (1Petr 1,4). Sie hatten keine Angst vor denen, die bloss den Leib töten können (Mt 10,28).

Es ist eine alte Erfahrung, dass die Menschen mit widrigen Umständen oft besser fertigwerden als mit Zeiten des Wohlstands. Zeiten der Ruhe und Sorglosigkeit richten mehr Menschen zugrunde als Zeiten der Bedrängnisse.

Vers 35: Werft eure Glaubens-Zuversicht oder euren Freimut (παῤῥησία) nicht weg! Wenn wir von Zuversicht sprechen (alte Übersetzung), dann denken wir an Vertrauen zu Gott. Wenn wir von Freimut sprechen, dann denken wir an Offenheit. Freimütig und offen dürfen wir nun zum Thron Gottes hinzutreten (4,16; 10,19). Es geht auch um eine Offenheit in der Verkündigung des Evangeliums (Apg 28,30-31). Eine Offenheit die nichts zurückhält, nichts verschweigt oder verhüllt (Mk 8,31-32; Apg 2,29); eine Offenheit die sich nicht geniert (Apg 4,13; Eph 6,18-19).

Die Empfänger des Hebräerbriefs waren durch ihre Offenheit allen Gläubigen ein Vorbild, wie die Thessalonicher (1Thess 1,6-8). Im ersten Jahrhundert war die Moral der Menschen sehr tief. Die Menschen waren gottlos, selbstsüchtig, geldgierig, streitsüchtig, unversöhnlich, missachteten die Ehe, dienten Götzen usw. (2Tim 3,1-5). Genau wie in der heutigen Zeit.

Nur der Glaube konnte die Menschen verändern zum Guten. Die Frage ist nur wie lange. Es kann gesagt werden, wer seinen Freimut im Glauben wegwirft verhält sich wie ein feiger Soldat, der im Kampf seine Waffenrüstung ablegt (Eph 6,12-17). Ein Soldat hat einen kleinen Sold und mag vielleicht in der Schlacht umkommen, aber ein Christ kämpft um einen „mega“ -Lohn (μισθαποδοσία). Die Arbeit eines Christen ist nicht umsonst (2,2; 1Kor 15,58).

Vers 36: Ihr habt Ausdauer (ὑπομονή) nötig. Wie können wir Ausdauer gewinnen? - Durch Gemütlichkeit und Lebensgenuss? Nein! Durch Bedrängnis (Röm 5,3)! Durch die Ausdauer im Glauben werden wir vor Gott bewährt und festigen unsere Hoffnung (Röm 5,4; Jak 1,2-4)! Die jetzige Last ist jedoch leicht zu tragen im Vergleich zum Lohn, den wir dafür empfangen werden (2Kor 4,17).

Es gibt zwei Formen der Bedrängnis:

  - Angriffe auf unser Fleisch (d. h. Begierden, Krankheiten, körperliche Leiden).

  - Angriffe auf unseren Geist (d. h. Beziehungen zu Gott und den Menschen).

Satan will nichts anderes als unsere Beziehung zu Gott stören. Wir Menschen neigen dazu, uns immer gerade entgegengesetzt zu verhalten als wir sollten: Entweder ziehen wir uns zurück und sagen nichts, wenn wir etwas in Liebe sagen sollten. Oder, wir werden laut und greifen an, wenn wir schweigen sollten. Nur durch bestandene Konflikte werden wir in jeder Beziehung stark! Es ist wie mit einem Sportler, der um einen weltlichen Pokal kämpft (1Kor 9,24-27). Er verzichtet auf vieles im Leben. Er trainiert unermüdlich und leidet sich durch. Nur so kann er seine physischen Muskeln aufbauen, zu den Besten zählen und vielleicht einmal einen Wettkampf gewinnen. Genauso werden wir im Glauben durch die Bedrängnisse des Lebens stark. Durch die Standhaftigkeit werdet ihr euer Leben gewinnen (Lk 21,19). Wer treu Gottes Willen tut der wird die Verheissung (ἐπαγγελία) des ewigen Lebens erlangen (6,12). Die Standhaftigkeit Hiobs lehrt uns, dass Gott uns auch schon im irdischen Leben belohnt (Jak 5,11).

Verse 37-38: In den folgenden zwei Versen wird vom Kommen Jesu Christi gesprochen. Es geht hier nicht um die exakte Wiedergabe der Worte aus der Septuaginta (LXX) sondern um die Betonung des Kommens Christi zu einem Zwischengericht. Aus den heiligen Schriften geht deutlich hervor, dass nicht mit jedem Kommen Christi das endgültige Gericht am jüngsten Tag gemeint ist (Mt 24,27; Lk 21,27-28). Jesus kündete die Zerstörung Jerusalems an, weil die Mehrzahl des Volkes das Evangelium nicht hören wollte (Mt 23,37-39; 24,1-2; Mk 13,14-20). Die Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) war das ganz grosse Thema im ersten Jahrhundert.

Wie die Propheten im AT das Gericht Gottes über sein Volk ankündeten, wird im NT oft auf das Gericht Jerusalems Bezug genommen. Dabei wurden im Hebräerbrief die Worte aus Jesaja 26,20-21 und Habakuk 2,3-4 umgestaltet, um auf das kommende Gericht hinzuweisen, das kurz bevorstand.

Jesaja 26,21: „Denn sieh, der Herr zieht aus von seiner Stätte, um die Schuld der Bewohner der Erde an ihnen heimzusuchen.“

Habakuk 2,4b: „Der Gerechte wird für seine Treue am Leben bleiben!“

Wie im AT die Treuen verschont blieben, wird es auch beim endgültigen Gericht Gottes über der Stadt Jerusalems sein (Röm 1,17). Amos spricht z. B. von der Begegnung mit Gott im Gericht gegen die Nordstämme Israels (Am 4,12). Auch im NT wird zum Beispiel Ephesus vor einem Gericht gewarnt (Offb 2,4-5). Nur Paulus verkündete den Athenern, dass Gott einen Tag festgelegt hat, an dem das endgültige Gericht über die Menschheit kommen wird durch einen Mann (Apg 17,31).

Vers 39: Gott hat keinen Gefallen an denen, die feig zurückweichen. Für die Empfänger dieses Briefs waren die Optionen klar: Entweder glaubten sie an die besseren Verheissungen des neuen Bundes, oder sie kehrten zurück zum Judentum, zur alten Ordnung, zum Gesetz Mose. Nur wer im Glauben standhält bis zum Ende (der Zerstörung Jerusalems) kann gerettet werden (Mt 24,13). Feig zurückzuweichen bedeutete damals für Judenchristen Jesu Worte abzulehnen. Nur die Treuen werden diese Katastrophe überleben.

Schlussfolgerung:
Auch uns gilt diese Ermahnung, treu zu bleiben bis zur Wiederkunft Christi. Unsere Optionen sind auch zweierlei: Entweder glauben wir an Gottes Verheissungen zum ewigen Leben und werden aktiv in allen unseren Bemühungen das Gute zu tun, oder wir kehren der Gemeinde der Heiligen den Rücken zu und wenden uns wieder an die Welt mit ihren Lüsten. Die Entscheidung liegt ganz allein bei uns!

 

 Link:

- Hebräer 11:  Die Helden des Glaubens