Gottes Gnade
Einleitung
Das Ereignis in Johannes 8,1-11 könnte betitelt werden: Jesus in der Löwengrube.
Wie gewohnt ging Jesus früh am Morgen auf den Ölberg, um zu beten. Der Ölberg befand sich östlich von Jerusalem, auf dem viele Olivenbäume, Dattelpalmen und Zypressen wuchsen. Dort fühlte sich Jesus wohl. Es war der Ort, wo Jesus später verraten werden sollte.
Nach ausgiebiger Absprache mit dem Vater war Jesus vorbereitet auf eine weitere gefährliche Auseinandersetzung mit den „Löwen“. Die Männer, die Jesus am Vortag gefangen nehmen sollten, waren erfolglos (Joh 7,44-52). Deshalb versuchten es die geistlichen Leiter selbst, Jesus öffentlich bloss zu stellen und gefangen zu nehmen.
I. Die geistlichen Leiter des Landes
Kaum war Jesus im Tempel und lehrte das Volk, das zu ihm kam, da marschierten auch schon die geistlichen Leiter des Landes auf. In ihrer Gewalt schleppten sie eine Frau herbei, die gerade beim Ehebruch ertappt worden war. Es war ihnen egal wie sehr die Frau damit vor dem Volk beschämt wurde. Sie zehrten sie in die Mitte und unterbrachen abrupt die Bibelstunde. Dabei hatten sie nur einen hinterlistigen Gedanken für ihr rüpelhaftes Handeln: Sie wollten Jesus eine Falle stellen. Dafür war ihnen jedes Mittel recht. Sie wollten Jesus den Mund stopfen, damit er endlich aufhörte die Menschen zu lehren.
Unter dem Gesetz Mose gab es für Ehebruch die Todesstrafe und zwar für beide, die solches verübten, d. h. für Mann und Frau: Lev 20,10 (Dtn 22,22-24; Num 5,11-31). Doch wie konnte eine solche Tat nachgewiesen werden? Das war nur dann möglich, wenn der betrogene Ehemann mit Augenzeugen zur Stelle war (Dtn 17,6; 19,15), oder wenn es sich um einen Lebensstil handelte und nicht um einen einzigen Akt (Mt 19). Doch in unserem Fall musste es sich um einen einzigen Akt handeln.
Deshalb ist die Frage berechtigt: Wie lange schauten die Männer wohl durch das Fenster zu, bevor sie eingriffen und ins Zimmer stürmten? Befanden sich die Überführer etwa schon wartend im Haus? Oder wurde der Ehebrecher vielleicht dafür geschmiert? War es etwa eine hinterlistig abgesprochene Tat wie bei Simson (Ri 14,15)?
Es besteht keinen Zweifel, dass es sich um eine Falle handelte. Die Frau wurde als Werkzeug missbraucht, um Jesus damit zu überführen. Das Ganze ging nicht mit rechten Dingen zu. Damit zeigten die „Gelehrten“ keinen Respekt vor Gott, dem Gesetz, der Ehe, der Frau und des Volkes.
II. Die Ehebrecherin
Von einem Moment zum andern ist aus einer intimen Situation ein öffentliches Schauspiel geworden. Wie peinlich musste das für diese Frau gewesen sein. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Krampfhaft versuchte sie mit einem Gewand ihre Blösse zu verdecken. Vermutlich hatte noch nie jemand so den Tempel betreten. Nicht nur ihre Nachbarn erfuhren das, sondern in der ganzen Stadt wurde ihr Ehebruch bekannt. Wenn sie in Zukunft auf den Marktplatz ging, würden sich die Köpfe nach ihr umdrehen und einander zu kuscheln: „Das ist die Ehebrecherin.“ So geriet ihre Tat nicht so schnell in Vergessenheit.
Den Moralaposteln waren der Ruf und die Zukunft der Frau egal. Die Frau fühlte sich schuldig und wusste, dass sie ihrer Verurteilung nicht mehr entrinnen konnte. Sie starrte auf den Boden, ihre Haare waren zerzaust und ihr Schmerz tropfte in Tränen herab. Die Frau wusste nicht, wohin sie sich in ihrer Not wenden sollte. Alle waren gegen sie und es gab keine Rechtfertigung für ihre Sünde.
III. Jesus und die Frau
Jesus steht vor einem Dilemma und wird aufgefordert, seine Meinung kundzutun. Er bückt sich und schreibt mit seinem Finger auf die Erde. Derselbe Finger, der die zehn Gebote auf dem Berg Sinai in den Stein meisselte (Dtn 9,10). Dieselben Finger, die auf die getünchte Wand des Königspalastes schrieben und die Trennung des Königreichs voraussagten (Dan 5,5).
Damit wird Jesus vor die Wahl gestellt: Befiehlt er die Frau zu steinigen, dann lehnt er sich gegen die römische Herrschaft auf, denn die Juden waren nicht befugt Todesstrafen durchzuführen. Versucht er zu verhindern, dass die Frau gesteinigt wird, dann stellt er sich gegen das Gesetz Mose, das dem Volk heilig galt.
So oder so, die geistlichen Leiter dachten Jesus in der Klemme zu haben. Endlich hatten sie eine offizielle Anklage gegen ihn, um ihn zu verurteilen. Dabei war das Volk Zeuge. Es ging ihnen nicht so sehr um die Sünde des Ehebruchs noch um das Gesetz Mose. Ehebruch war zur damaligen Zeit Gang und Gäbe unter den Juden und nur selten wurde diese Sünde gestraft nach dem Gesetz Mose.
Die geistlichen Leiter drängen Jesus mehrmals zur Antwort. Er, der in Galiläa lehrte: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde... Ich aber sage euch...“ (Mt 5,27), soll doch jetzt Stellung nehmen. Verliert Jesus nun sein Ansehen im Volk als Freund der Sünder? Oder schweigt er und zeigt damit, dass er sich nicht um das Gesetz Mose kümmert? Dann richtet er sich auf und sagt zu ihnen (NGÜ): „Wer von euch ohne Sünde ist, der soll den ersten Stein auf sie werfen.“ In dieser Antwort stecken einige Gedanken. Jesus sagt mit andern Worten: „Also, ihr wollt unbedingt, dass ich Recht spreche? Hier ist meine Antwort: Steinigt sie nach dem Gesetz, aber denkt daran, dass ihr dazu mindestens zwei Zeugen mit gutem Charakter braucht, um die Hinrichtung auszuführen. Sie sollen den ersten Stein werfen“ (Dtn 17,7). Damit überführt Jesus die gesetzestreuen Juden ihrer Sünde. Denn bei solchen mutmasslichen Überführungen konnte das Gesetz nicht angewandt werden. Das alles nahmen diese „Gerechten“ auf sich, um Jesus zu töten? – Was für ein Widerspruch und was für eine Ungerechtigkeit!
Jesus bückt sich wieder und schreibt weiter. Die Jungen schauen die Alten an. Die Alten schauen auf ihr Gewissen und dann sind sie die Ersten, die anfangen ihre Steine fallen zu lassen. Schliesslich drehen sie sich um und gehen überführt davon. Einer nach dem andern dreht sich um, auch die Jungen verlassen den Ort. Jesus und die Frau bleiben allein zurück. Die Frau wartet auf den Urteilsspruch, aber der Richter schweigt. Er scheint überrascht zu sein, dass die Frau immer noch bei ihm ist und fragt sie (m. a. Worten): „Wo sind deine Ankläger geblieben? Hat dich keiner verurteilt?“ Die Frau antwortet: „Nein, Herr, keiner.“ Darauf sagt Jesus zu ihr (NGÜ): „Ich verurteile dich auch nicht; du darfst gehen. Sündige von jetzt an nicht mehr!“
Schlussfolgerungen
Dazu kann ich sagen: „Glück gehabt, noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen.“ Denn, weil die vom Hass erfüllten jüdischen Lehrer falsch motiviert waren, wurde die Frau begnadigt. Obschon sich das Ereignis im mosaischen Zeitalter abspielte darf gesagt werden, dass Jesus allein die Vollmacht besitzt Sünder zu begnadigen, wie z. B. der Gelähmte auf der Tragbarre (Mk 2,5), z. B. die Sünderin, die Jesus die Füsse salbte (Lk 7,47), z. B. der Schächer am Kreuz (Lk 23,43). (Der neue Bund, d. h. das christliche Zeitalter begann erst mit dem Tod Jesu, der ihn errichtet hat: gemäss Hebr 9,16.)
Diese Begnadigung kann leicht missverstanden und missbraucht werden. Vielleicht ist das der Grund, weshalb dieses Ereignis in einigen der besten griechischen Manuskripte nicht zu finden ist. Jesus setzte sich nicht über das Gesetz Mose hinweg, denn selbst der Sohn Gottes musste sich an das bestehende Gesetz halten, wenn er ein vollkommenes Opfer für die Sünden der Menschen sein wollte. Damit wird auch nicht gesagt, dass Jesus alle Menschen am grossen Gerichtstag frei sprechen wird! (Mt 7,13-14; 25; Hebr 9,27; Offb 20). Es geht hier nicht um eine billige Gnade oder um eine leichtfertige Vergebung!
Im Gegensatz zu den Gesetzeslehrern zeigte Jesus sich besorgt um die Frau und ihre Sünde. Die Schriftgelehrten und Pharisäer missbrauchten sie, um einen Grund zu finden, Jesus zu töten. Für sie stand nicht die Gerechtigkeit und Heiligkeit an oberster Stelle. Ihnen ging es allein um die Macht über Jesus. Sie schleppten die Frau in den heiligen Tempel ohne Respekt und Würde. Es war ihnen egal wie sehr sie dabei verletzt und gedemütigt wird. In ihrer Schande stand sie vor Jesus und dem Volk und zitterte um ihr Leben.
Jesus hatte Erbarmen mit der Frau und er hat auch Erbarmen mit uns! Er behandelt alle Menschen mit Respekt und Würde. Er ist gekommen, um Seelen zu retten und nicht, um sie zu verderben. Er ist mitfühlend und barmherzig mit allen Sündern, und möchte jeden zur Umkehr führen. Denn die Sünde ist zerstörerisch und trennt uns von Gott. Jesus gibt allen Menschen eine zweite Gelegenheit.
Wenn Jesus vergibt, dann ist das vollkommen. Die Zähler werden zurück auf Null gestellt. Keine Sünde ist zu gross, dass sie nicht vergeben werden könnte. „Wenn wir unsere Sünden bekennen, erweist Gott sich als treu und gerecht: Er vergibt uns unsere Sünden und reinigt uns von allem Unrecht, das wir begangen haben“ (1 Joh 1,9; NGÜ).
Doch damit ist Jesus nicht am Ende, vielmehr ermahnt er die Frau sowie jeden von uns mit den Worten: „Sündige von jetzt an nicht mehr!“ Jesus sagte nicht: „Schon gut, mach Dir keine Gedanken und bleib wie du bist.“ Es ist ein Unterschied, ob wir in der Sünde leben oder ob uns die Sünde immer wieder einholt und erwischt. Selbst als wiedergeborene Christen sind und bleiben wir begnadigte Sünder. Gläubige werden Heilige und Gerechte genannt, weil sie geheiligt und gerecht gesprochen wurden und nicht weil sie Heilige und Gerechte aus sich selbst sind. Gottes Gnade macht das Unmögliche möglich! Darum, lasst uns nicht leichtsinnig umgehen, damit die Gnade noch grösser werde (Röm 6,1-2). Lasst uns als solche wandeln, die für die Sünde tot sind und für Christus leben!
Komm zu Jesus und schäme Dich nicht; ER wird Dich nicht zurückstossen! Er freut sich über jeden Sünder, der umkehrt und um Vergebung bittet (Lk 15,7). Schaue gut hin, wie er schreibt. Er hinterlässt eine hoffnungsvolle Botschaft, aber nicht auf dem Erdboden sondern am Kreuz. Er schreibt nicht mit der Hand, sondern mit seinem Blut. Seine Botschaft enthält zwei Worte: „Nicht schuldig.“