Begriffe2-13: Haires – Spaltung

Fleisch oder Geist

William Barclay

 

Das deutsche Fremdwort Häresie, das sich ja vom griechischen hairesis ableitet, hat eine ausgesprochen negative Bedeutung. Es kennzeichnet einen Glauben, der im Gegensatz zu Orthodoxie und wahrer Lehre steht. In der Einleitung zum Kolosserbrief fragt man sich zum Beispiel: Was war die Häresie oder Ketzerei der phrygischen Juden und Heiden? Im Griechischen dagegen hat hairesis nicht unbedingt eine schlechte Bedeutung; es ist dort die Tätigkeit des Wählens oder einer Wahl. Im griechischen AT wird es zum Beispiel für die Freiwilligkeit eines Opfers für Gott gebraucht (3. Mos. 22,18). Es kann auch für Absicht, Plan oder den frei gewählten Ablauf einer Handlung gebraucht werden. In 1. Mose 49,5 (Septuaginta) wird gesagt, dass Simeon und Levi ihren schändlichen Plan ausführten.

Im NT beschreibt es fast immer eine Gruppe von Menschen, die alle einer bestimmten Schule des Denkens und HandeIns angehören und alle einen bestimmten Glauben haben, eine Gruppe von Menschen also, die alle dieselbe Entscheidung getroffen haben. So wird hairesis zum Beispiel auf die Partei der Pharisäer (Apg 15,5; 26,5), der Sadduzäer (Apg 5,17), der Nazarener (Apg 24,5) und zweimal auf die Christen angewandt (Apg 24,14; 28,2). In diesen Fällen übersetzt man hairesis gewöhnlich mit Sekte (Elberfelder Bibel), was aber damals nicht den Beigeschmack von ketzerisch hatte. Vielmehr war eine Sekte eine Gruppe von Menschen, die sich für den gleichen Glauben und die gleiche Lebensweise entschieden hatten.

Von dieser Bedeutungsstufe ist es nicht mehr weit zur nächsten. Dort kennzeichnet hairesis dann das, was Häresie auch heute bedeutet, nämlich der Glaube, vielleicht auch eine Lebensweise, die einen Menschen von der Gemeinschaft trennt, der er bisher angehörte.

In unserer Galaterstelle ist aber nicht von Ketzerei die Rede, sondern von Spaltungen innerhalb der Gemeinde in Gruppen und Parteien, wodurch der Zusammenhalt der Gemeinde zerstört wurde. Auch in 1. Korinther 11,19 tadelt Paulus die Christen in Korinth wegen ihres Verhaltens beim Abendmahl. In der Urgemeinde waren zwei Dinge miteinander verbunden; das Fest der Liebe oder Liebesmahl und das Brotbrechen selbst. Dieses Fest der Liebe nahm einen wichtigen Platz im Gemeindeleben ein und war eine sehr schöne Einrichtung. Es war ein gemeinsames Essen, zu dem die Christen am ersten Tag der Woche zusammenkamen. Um uns ein rechtes Bild davon machen zu können, müssen wir bedenken, dass zu dieser Zeit die Gemeinden noch keine eigenen Gebäude besassen und dass die Christen sich hin und her in den Häusern versammelten. Zu dem gemeinsamen Mahl brachte jeder mit, was er bringen konnte, und alles wurde liebevoll untereinander geteilt. Wahrscheinlich war das in vielen Fällen die einzige anständige Mahlzeit, die ein Sklave im Laufe einer Woche bekam. In Korinth jedoch setzte man sich nicht mehr zusammen zu Tisch, um in herzlicher Gemeinschaft alles zu teilen, sondern die Gemeinde hatte sich in Gruppen - hairesis (die Plural Form des Wortes) gespalten und, anstatt alles gemeinsam zu teilen, behielt jede kleine Gruppe für sich, was sie mitgebracht hatte. Das führte dazu, dass die einen viel zu wenig und die anderen viel zu viel hatten. Was eine harmonische, mitteilende und liebevolle Gemeinschaft hätte sein sollen, war zerbrochen in kleine, eigenständige, selbstsüchtige und voneinander abgesonderte Gruppen. Das nennt Paulus hairesis. Es ist das Aufspalten der Gemeinde in Gruppen, die sich voreinander verschliessen.

Eine zerteilte Gemeinde aber ist keine Gemeinde mehr. Eine Gruppe, die sich abkapselt, ist ihrer Gesinnung nach unchristlich. Wenn jemand seinen sozialen Stand als eine Schranke betrachtet zu Menschen eines anderen Standes, dann hat er das Wesen des Christentums noch nicht begriffen. Es ist ein grosser Unterschied, ob man von der Richtigkeit seiner Meinung überzeugt ist oder ob man glaubt, dass alle anderen Unrecht haben. Unerschütterliche Überzeugung ist eine christliche Tugend; unnachgiebige Intoleranz aber ist Sünde.

Auch hier liegt für uns wieder eine Warnung und eine Verpflichtung. Niemand wird leugnen, dass die Kirche den Menschen viel verdankt, die den Mut und die Überzeugung hatten, alleine zu stehen. Dennoch bleibt die Forderung, dass der sich selbst genau prüfen muss, der merkt, dass seine Frömmigkeit und sein Glaube ihn von seinen Mitmenschen trennen, denn das Christentum will die Menschen vereinen und nicht trennen. Der Christ soll auch die Menschen lieben, die etwas anderes glauben als er selbst und deren Lebensweise der seinen vielleicht zuwider ist.