Begriffe2-12: Dichostasia – Zwietracht

Fleisch oder Geist

William Barclay

 

Dichostasia ist kein sehr bekanntes Wort, weder im religiösen noch im allgemeinen griechischen Sprachgebrauch. Bei Paulus kommt es ausser im Galaterbrief nur noch einmal in Römer 16,17 vor, wo der Apostel die römischen Christen ermahnt, die zu meiden, die Zerstreuung und Ärgernis anrichten. In den Apokryphen erscheint es in 1. Makkabäer 3,29 und bezeichnet die nationale Uneinigkeit und Unruhe, die einem gewaltsamen Bruch mit der Vergangenheit durch eine neue und rücksichtslose Gesetzgebung folgten. Herodot gebraucht es für die Situation, die sich ergibt, wenn einer der beiden Befehlshaber eines Heeres mitten im Kampf auf die Gegenseite überwechselt (Herodot 5.75). Eine solche Tat führt natürlich eine bedenkliche Spaltung herbei. Platon zitiert einen Ausspruch, wonach in Zeiten von dichostasia ein treuer Mann sein Gewicht in Gold wert ist (Platon, Gesetze 630a; Theognis 5.77.78). Das Wort kennzeichnet einen Zustand der Spaltung unter den Menschen, wo Streit gedeiht und Einigkeit zerstört wird.

Dichostasia bedeutet wörtlich auseinanderstehen, bezeichnet also einen Zustand, in dem alle Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit aufgehört haben. Leider ist dieser Zustand unter den Menschen weit verbreitet.

Es gibt Spaltungen zwischen einzelnen Personen. Zwei Menschen können in ihren Beziehungen zueinander so weit kommen, dass sie sich nicht mehr sehen und nicht mehr miteinander sprechen wollen. Sogar die Arbeit einer Gemeinde kann durch Zwistigkeiten der Glieder untereinander schwierig werden.

Es gibt Spaltungen zwischen Klassen. Tatsächlich bestehen politische Weltanschauungen, die sich auf fast nichts anderes gründen als die Notwendigkeit eines Klassenkampfes. Die Worte Jesu aus Matthäus 12,25 sind heute noch zu beherzigen wie vor 2000 Jahren: „Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet; und jede Stadt oder jedes Haus, das mit sich selbst uneins ist, kann nicht bestehen.“ Einigkeit erhält, Uneinigkeit bringt zu Fall. Diese Wahrheit bleibt bestehen.

Es gibt Spaltungen in verschiedenen Parteien. Der englische Essayist Macaulay erinnert an die grosse Zeit der römischen Republik, als „niemand für eine Partei und jeder für den Staat war.“ Es ist traurig zu sehen, wie in einem modernen demokratischen Staat Parteipolitiker aus nationaler Gefahr und nationalem Unglück Kapital schlagen wollen und so handeln, als ob die nationale Wohlfahrt nur ein Stein im Spiel der Parteipolitik und der Parteikämpfe sei.

Es gibt die Rassentrennung. Noch immer existieren Gesellschaftsformen, die einen Menschen wegen seiner Hautfarbe aus einer Gemeinschaft ausschliessen. Nur wenige Wörter kennzeichnen eine grössere Verneinung der christlichen Ethik als das Wort Apartheid.

Es gibt theologische Spaltungen. Das odium theologicum - theologischer Hass ist nichts neues. Gerade im theologischen Bereich kommt es immer wieder vor, dass Menschen mit Schlagworten abgestempelt und verketzert werden.

Es gibt Spaltungen in Kirchgemeinden. Das gegenwärtig grösste Problem und die vielleicht grösste Sünde der Gemeinden scheint ihre Uneinigkeit zu sein. Kagawa, der grosse japanische Evangelist, drückte seinen Schmerz über diese Uneinigkeit einmal mit folgenden Worten aus: „Ich spreche nicht sehr gut englisch, und manchmal, wenn ich Denomination sage, denken die Leute, ich hätte condemnation (Verdammung) gesagt - und für mich bedeuten sie dasselbe.“

Das Wort dichostasia sollte eine Aufforderung sein, uns selbst zu prüfen, ehe wir andere kritisieren. Nichts ist einfacher als Vorurteile mit Grundsätzen zu verwechseln und unvernünftige Sturheit mit standhafter Entschlossenheit. Ein Christ muss oft alleine stehen, aber er wird gut daran tun, sich selbst zu prüfen, wenn er merkt, dass seine Ansichten ihn von der Gemeinschaft trennen, deren Glied er ist. Er mag recht haben, aber es ist eine grosse Verantwortung, Anlass zur Spaltung in einer Gemeinde zu sein.