Begriffe2-21: Agathosyne – Güte

Fleisch oder Geist

William Barclay

 

Es ist schwierig, die Bedeutung der sechsten Tugend der Frucht des Geistes genau zu umreissen. Die anderen acht Tugenden sind durch ganz bestimmte Merkmale des Charakters eines Christen gekennzeichnet. Aber Güte ist ein weiter und allgemeiner Begriff. Die Schwierigkeit der Definition dieses Wortes liegt darin, dass es seine Bedeutung aus dem Zusammenhang erhält, aus dem jeweiligen Bereich des beschriebenen Vorzugs. Man kann zum Beispiel sagen, dass ein Tier gut ist. Handelt es sich um ein Schlachttier, dann ist seine Güte von der Menge des Fleisches und Fettes abhängig. Handelt es sich um ein Zuchttier, so ist die Güte von seinem Stammbaum abhängig. Wenn das Tier für ein Rennen bestimmt ist, so hängt seine Güte von der Ausbildung der Muskeln und dem Fehlen überflüssigen Fleisches ab. Von einem Menschen sagt man, dass er auf diesem oder jenem Gebiet gut ist; wir definieren den Bereich, auf den sich die Güte erstreckt. So kann ein Mensch zum Beispiel in Sprachen gut und in Mathematik schlecht sein; er mag ein guter Sportler, aber ein schlechter Student sein; er kann gut sein bei seiner Arbeit, aber schlecht als Ehemann und Vater. Er kann einen guten Charakter besitzen, aber eine schlechte Gesundheit. Der Begriff der Güte ist sehr allgemein, und unsere Aufgabe soll es sein, den Bereich, für den Paulus dieses Wort verwendet, näher zu umreissen. Im folgenden wollen wir zwei Möglichkeiten aufzeigen, Güte - agathosyne zu definieren. In jedem Fall liegen aber die Bedeutungen von chrestotes und agathosyne sehr eng beieinander.

Man kann sagen, dass agathosyne mehr Aktivität in sich birgt. Chrestotes ist eine Eigenschaft des Herzens und des Gemüts, agathosyne dagegen eine Qualität der Verhaltensweise und des Handelns. Chrestotes ist potentielle agathosyne, agathosyne gibt chrestotes Energie (Lightfoot). Aus diesen Gedanken kann man folgern, dass agathosyne in die Tat umgesetzte chrestotes ist. Es gibt aber eigentlich keinen Beweis dafür, dass die beiden Begriffe im Sprachgebrauch tatsächlich so unterschieden wurden.

Eine andere Möglichkeit, chrestotes und agathosyne zu umreissen ist folgende. Chrestotes ist durch milde und anziehende Freundlichkeit gekennzeichnet, während agathosyne mehr Ernst und Strenge als chrestotes einschliessen kann. Bei chrestotes ist die Freundlichkeit betont, während bei agathosyne das Gewicht mehr auf dem moralischen Urteilsvermögen liegt. Agathosyne entfaltet sich eher im Eifer für das Gute und die Wahrheit, im Ermahnen, Warnen und Zurechtweisen. Jesus zeigte agathosyne, als er die Händler und Wechsler aus dem Tempel trieb (Mt 21,13) und als er seine Drohungen gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten aussprach (Mt 23). Aber er zeigte chrestotes, als er freundlich mit der bussfertigen Frau sprach, die eine Sünderin war und seine Füsse mit Öl salbte (Lk 7,37-50).

Da agathosyne kein sehr gebräuchliches Wort ist, wird es noch schwieriger, die Bedeutung dieses Begriffes zu definieren. Im allgemeinen griechischen Sprachgebrauch kommt es überhaupt nicht vor. In der Septuaginta erscheint es etwa dreizehnmal und im NT, ausser im Galaterbrief, noch dreimal.

Man könnte versuchen, die Bedeutung von agathosyne zu erklären, indem man das entsprechende Adjektiv, agathos, definiert. Aber hier stossen wir auf die entgegengesetzte Schwierigkeit, da agathos eines der häufigsten griechischen Wörter ist. In der Septuaginta kommt es fast 520mal vor und im NT 100mal; ausserdem ist seine Bedeutung sehr weit gespannt. Es kann einen Baum beschreiben (Mt 7,17), ein Geschenk (Mt 7,11), einen Menschen (Mt 12,35), einen Sklaven (Mt 25,21), einen Lehrer - in diesem Falle Jesus selbst (Mk 10,17), fruchtbaren Boden (Lk 8,8), das menschliche Gewissen (Apg. 23,1), den Willen Gottes (Röm 12,2), die christliche Hoffnung (2 Thess 2,16), Worte und Taten (Eph 2,10; 2 Thess 2,17). Die Bedeutung des Wortes agathos ist so umfassend, dass es Gutes auf allen Gebieten bezeichnen kann. Es wird uns also auch nicht helfen, agathosyne näher zu definieren.

Untersuchen wir nun das Material, das uns zur Verfügung steht.
1. In der Septuaginta kennzeichnet agathosyne ganz allgemein das Gute. Der Psalmist schreibt: „Du liebst das Böse mehr als das Gute und redest lieber Falsches als Rechtes“ (Ps 52,5). Hier steht agathosyne für das Gute im Gegensatz zum Bösen.

2. In der Septuaginta kann es auch Wohlergehen bedeuten. Der Prediger sagt: „Am guten Tage sei guter Dinge“ (Koh 7,14). Wenn ein Mann das Gute nicht geniesst, hat er ein nutzloses Leben geführt (Koh 6,3.6). „So habe ich nun das gesehen, dass es gut und fein sei, wenn man isst und trinkt und guten Mutes ist bei allen Mühen …“ (Koh 5,17). „Weisheit ist besser als Kriegswaffen; aber ein einziger Bösewicht verdirbt viel Gutes“, nämlich Wohlstand (Koh 9,18). In Kohelet 5,10 lesen wir: „Wo viele Güter sind, da sind viele, die sie aufessen.“ Hier sehen wir deutlich, dass agathosyne materielle Güter bezeichnen kann. Aber diese Tatsache bringt uns der Deutung des Begriffes nicht viel näher.

3. Es kann auch Gewinn bedeuten. Der Prediger sagt: „Für wen mühe ich mich denn und gönne mir selber nichts Gutes“ (Koh 4,8)? Er meint wohl: Warum beraube ich mich der Vorteile, des Gewinns, den ich geniessen könnte? Die letzten Worte des Buches Nehemia sind: „Gedenke mir’s, mein Gott, zum Besten“. Aber auch diese Bedeutung hilft uns nicht viel weiter.

4. In der Septuaginta kann agathosyne auch die Bedeutung von Grossmut haben. Nehemias Beschuldigung gegen das Volk ist: „Sie haben dir nicht gedient zur Zeit ihrer Macht bei all deiner grossen Güte, die du ihnen erwiesen hast, in dem weiten und fetten Lande, das du ihnen gegeben hast“ (Neh 9,35). Er sagt von dem Volk, das in das verheissene Land einzog: „Und sie assen und wurden satt und fett und lebten in Wonne durch deine grosse Güte“ (Neh 9,25). Wir würden sagen, sie schwelgten in Überfluss, den Gott ihnen in seiner Grosszügigkeit gab. Demnach bedeutet agathosyne also auch Grossmut; vor allem wird es für die Grossmut Gottes gebraucht.

Auch die Stellen im NT, in denen agathosyne gebraucht wird, sagen nicht sehr viel mehr über die Bedeutung des Wortes aus. In 2. Thessalonicher 2,17 betet Paulus für seine Brüder, dass Gott sie in allem guten Werk und Wort stärken möge. In Epheser 5,9 sagt Paulus, dass die Frucht des Lichts lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit ist. In Römer 15,14 schreibt er an die Christen in Rom: „Ich weiss aber selbst gar wohl von euch, liebe Brüder, dass ihr selber voll Güte seid, erfüllt mit aller Erkenntnis, so dass ihr euch untereinander ermahnen könnt.“

Aber immer noch fehlt der entscheidende Hinweis, der uns die Bedeutung des Wortes genau feststellen lässt. Am ehesten werden wir dieses Ziel erreichen, wenn wir agathosyne mit zwei anderen Wörtern vergleichen, von denen eines eine Parallele, das andere eine entgegen-gesetzte Bedeutung hat.

Das Adjektiv agathos wird sehr oft zusammen mit dem Wort dikaios - gerecht und das Substantiv agathosyne zusammen mit dem Wort dikaiosyne Gerechtigkeit gebraucht. Die Griechen sahen in dem gerechten Menschen einen, der den Göttern und den Menschen gab, was er ihnen schuldig war. Von dieser Ansicht gehen die griechischen Schreiber aus und vergleichen dikaiosyne und agathosyne. Gerechtigkeit, so sagen sie, ist die Tugend, die dem Menschen das zugesteht, was ihm gebührt. Güte dagegen ist die Tugend, die darüber hinaus handelt, die dem Menschen alles geben möchte, was ihm nützt und hilft. Der Gerechte hält sich genau an seine Verpflichtungen, der Gute dagegen geht weit darüber hinaus.

Für diese Unterscheidung gibt es eine interessante Nutzanwendung. Die Gnostiker sagten: Der Gott des Alten Testaments ist dikaios - gerecht, während der Gott des Neuen Testaments agathos - freundlich und gütig ist. Das AT zeigt anscheinend einen Gott, der das moralische Gesetz in Kraft treten liess und der jedem nach Verdienst gab. Das NT dagegen einen Gott, der mit den Menschen nicht nach dem Gesetz, sondern nach der Gnade handelt, und der ihnen gibt, nicht was sie verdient haben, sondern was seine Liebe freiwillig und unverdienterweise schenkt. Klemens I. (gest. 101 n. Chr., nach katholischer Überlieferung Bischof in Rom) sagt in einer seiner überlieferten Predigt, dass Gott sowohl agathos als auch dikaios sei; agathos deshalb, weil er dem bussfertigen Sünder vergebe, und dikaios, weil ein jeder nach seinen Taten empfange. Dikaiosyne ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Mensch den genauen Lohn oder die volle Strafe für seine Taten erhält. Agathosyne charakterisiert die Güte, die dem Menschen gibt, was er von sich aus nie hätte verdienen können. Die hauptsächliche Eigenschaft von agathosyne ist also Grossmütigkeit. Gerechtigkeit lässt keinen Raum für Erbarmen und Gnade. Absolute Gerechtigkeit steht dem Erbarmen und der Gnade im Weg, die dagegen natürliche Bestandteile der Güte sind, die ja das gewährt, was unverdient ist.

Das Gegenteil von agathos ist poneros, ein allgemeines Wort für das Böse oder Schlechte. „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse - poneros und Gute - agathos“ (Mt. 5,45). Der Mensch wollte erkennen, was gut und was böse war (1. Mos. 2,9.17). Ho poneros - der Böse ist eine der häufigsten Bezeichnungen für Satan (Mt 6,13; Eph 6,16; 1 Joh 2,14).

Aber poneros hat noch eine ganz bestimmte Bedeutung, die am deutlichsten in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg wird. Am Ende des Tages erhielten alle Arbeiter den gleichen Lohn, und diejenigen, die länger gearbeitet hatten, beschwerten sich. Der Besitzer des Weinbergs fragte daraufhin: „Habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel - poneros drein, weil ich so gütig - agathos bin“ (Mt 20,15)? An dieser Stelle bedeutet poneros offenbar gemein, geizig, neidisch, während agathos grosszügig, freigebig ist. In Matthaus 6,23 sagt Jesus: „Wenn aber dein Auge böse - poneros ist, so wird dein ganzer Leib finster sein“, was wohl bedeutet: Wenn du neidisch, missgünstig und geizig bist, dann ist dein ganzes Leben überschattet und finster. In Markus 7,22 steht dort, wo Luther „Missgunst“ übersetzt, im Grundtext „böses Auge“. Hier heisst poneros ganz offensichtlich geizig, missgünstig.

In der Septuaginta gibt es auch einige Stellen, in denen poneros so gebraucht wird: „Iss nicht bei einem Neidischen - poneros, und wünsche dir von seinen feinen Speisen nichts“ (Spr 23,6). „Ein Mann unter euch, der zuvor verwöhnt und in Üppigkeit gelebt hat, wird seinem Bruder und der Frau in seinen Armen und dem Sohn, der noch übrig ist Wer habgierig - poneros ist, jagt nach Reichtum und weiss nicht, dass Mangel über ihn kommen wird“ (Spr. 28,22). Im fünften Buch Mose gibt es zwei ähnliche Beispiele. „Der weichlichste und am meisten verzärtelte Mann bei dir, dessen Auge wird missgünstig - poneros auf seinen Bruder blicken ...“ (5. Mos. 28,54; Elberfelder). Nach dem Gesetz sollten in jedem siebenten Jahr alle Schulden erlassen werden. Unter solchen Umständen war es nur natürlich, dass ein geiziger Mann es ablehnte, irgend etwas zu verleihen, wenn das siebente Jahr bevorstand, aus Angst, er könne sein Geld nicht zurückbekommen. Deshalb ermahnt das Gesetz, niemand soll ein böses - poneros Auge auf seinen Bruder haben, dass er ihm etwa nichts leihen wolle. Das bedeutet, dass jemand nicht so geizig sein soll, in dieser Zeit einem Armen nichts zu leihen (5. Mos. 15,9).

Poneros bedeutet also sehr oft gemein, geizig, neidisch, und agathos, da es im Gegensatz dazu steht, muss deshalb freigebig, grosszügig, hochherzig bedeuten. Ausserdem ist der Mensch, der agathos ist, nicht wie einer, der dikaios ist, der also dem anderen gibt, was er verdient hat - nicht weniger und nicht mehr, vielmehr wird er grosszügig geben, was der andere nicht verdient hat. Der Mensch, der agathos ist, ist nicht wie einer, der poneros ist, der alles meidet, was er geben soll; er ist vielmehr freigebig, hat eine offene Hand und ein offenes Herz. Agathosyne ist die Freigebigkeit, die aus einem freundlichen Herzen kommt.