Fleisch oder Geist
William Barclay
Die fünfte Eigenschaft der Frucht des Geistes ist chrestotes. Luther übersetzt es in Galater 5 und an anderen Stellen (2 Kor 6,6; KoI 3,12; Tit 3,4) mit Freundlichkeit, in Epheser 2,7 mit Güte. Die meisten anderen Ausgaben übersetzen Güte, Freundlichkeit, Güte.
Chrestotes ist das Wort für eine wunderbare Tugend. Es kennzeichnet, auf den Menschen angewandt, die verständnisvolle Freundlichkeit und Milde des Wesens, die wohltuend auf andere wirkt und niemals Schmerz bereiten würde. Güte, Wohlwollen, Freundlichkeit, Milde, Freigebigkeit - alles scheint in chrestotes enthalten zu sein.
Es hatte schon einen grossen geschichtlichen Hintergrund, als es in den christlichen Wortschatz aufgenommen wurde. Mark Aurel gebraucht es, um Gott zu beschreiben. Er spricht von der Güte, mit der Gott den Menschen herrlich gemacht hat (Selbstbetrachtungen 8.34). Er spricht von der Pflicht des Menschen, dem Sünder und dem Verblendeten zu vergeben. Es ist eine Pflicht, weil die Götter chrestoi - gütig sind und auch sie deshalb dem Sünder vergeben (Selbstbetrachtungen 8.11). Die heidnischen Philosophen lobten die Tugend der Güte. Mark Aurel sagt, dass Güte unwiderstehlich ist, wenn sie ernst und nicht gespielt ist (Selbstbetrachtungen 11.18). Bei Epiktet lesen wir, dass der Mensch das Wesentliche seines Menschseins verloren hat, die Eigenschaft, die ihn zum Menschen erhebt, wenn er seine Güte und seine Treue verloren hat. Er sagt: Eine Münze und ihren Eigentümer erkennen wir an der Prägung, die sie trägt. Genauso wissen wir, dass ein Mensch zu Gott gehört, wenn er geprägt ist von Güte, Grossmut, Geduld und Mitgefühl.
Den eigentlichen Hintergrund für die Bedeutung von chrestotes im NT bildet die Septuaginta. In ihr werden chrestos und chrestotes mehr auf Gott als auf die Menschen angewandt. Fast überall, wo im AT Gott als „gut“ bezeichnet wird, steht im griechischen Urtext chrestos. „Gut“ bedeutet also, auf Gott angewandt, nicht gut im moralischen Sinn, sondern gütig, freundlich. Immer wieder singt der Psalmist: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich“ (Ps 106,1; 107,1; 136,1). Was ihn so sehr bewegt, ist die lautere Güte Gottes. Sein Bitten um die göttliche Gnade, sein Gebet um Erhörung und seine Hoffnung auf Vergebung gründen sich allein auf die Güte und Freundlichkeit Gottes (Ps 69,17; 86,5; 100,5; 109,21). „Gedenke meiner nach deiner Barmherzigkeit, Herr, um deiner Güte willen“ (Ps 25,7)!
Die Güte Gottes ist keine moralische Heiligkeit, vor der der Mensch voller Furcht zurückschreckt. Sie ist eine Güte, die den Menschen mit Banden der Liebe zu sich hinzieht. Die Schreiber des Alten Testaments sehen den Ausdruck der Güte Gottes in vielen Dingen.
1. Sie zeigt sich in der Natur. Der Psalmist sagt: „dass uns der Herr Gutes tue, und unser Land seine Frucht gebe“ (Ps 85,13). „Du krönst das Jahr mit deinem Gut, und deine Fussstapfen triefen von Segen“ (Ps 65,12 Z). Die Fülle der Natur ist der Ausdruck göttlicher Güte.
2. Auch in den Ereignissen der Geschichte zeigt sich die Güte Gottes. Der Psalmsänger dankt Gott für sein Tun; auf der Flucht vor dem ungerechten König Saul verlässt er sich auf die Güte Gottes. „Ich will harren auf deinen Namen vor deinen Heiligen, denn du bist gütig“ (Ps 52,11b). „Nun weiss ich, dass der Herr seinem Gesalbten hilft und ihn erhört von seinem heiligen Himmel“ (Ps 20,7).
3. Selbst die Gerichte Gottes zeugen von seiner Güte. Der Psalmist betet: „Wende von mir die Schmach, die ich scheue; denn deine Ordnungen sind gut - chrestos“ (Ps 119,39). Wenn Gottes Gerichte nur moralisch gut wären, dann würden sie nur Furcht bringen. Aber Gottes Gerichte sind gütig, und darin liegt unsere Hoffnung.
4. Auch in der Unterweisung Gottes kommt seine Güte zum Ausdruck. Der Psalmist spricht zu Gott: „Du bist gütig und freundlich, lehre mich deine Weisungen“ (Ps 119,68). „Der Herr ist gut und gerecht, darum weist er Sündern den Weg“ (Ps 25,8). Gottes Güte findet für uns Menschen ihren sichtbaren Ausdruck in der Offenbarung seines Willens und seiner Heiligkeit.
5. Verschiedenen Menschen erzeigt Gott seine Güte besonders. Sie wird vor allem den Angefochtenen geschenkt. „Der Herr ist gütig und eine Feste zur Zeit der Not und kennt die, die auf ihn trauen“ (Nah 1,7). Seine Güte schenkt er den Armen, denen, die sich ihrer Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit bewusst sind. „Ein Vater der Waisen und ein Helfer der Witwen ist Gott“ (Ps 68,6). Er schenkt seine Güte allen, die auf ihn hoffen und ihm vertrauen. Der Psalmist ruft den Menschen zu: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. Wohl dem, der auf ihn trauet“ (Ps 34,9)! Seine Güte wird denen geschenkt, die ihn ehren und fürchten. „Wie gross ist deine Güte, Herr, die du bewahrt hast denen, die dich fürchten, und erweisest vor den Leuten denen, die auf dich trauen“ (Ps 31,20)!
6. Es ist nicht verwunderlich, dass es der Besitz dieser Güte ist, der den Menschen gut macht, und der Mangel dieser Eigenschaft, der Verdammnis bringt. Der Psalmsänger klagt, dass niemand da sei, der Gutes tue, auch nicht einer (Ps 53,4). „Hoffe auf den Herrn und tu Gutes“ (Ps 37,3). „Die Toren sprechen in ihrem Herzen: ‚Es ist kein Gott.’ Sie taugen nichts; ihr Treiben ist ein Greuel; da ist keiner, der Gutes tut … auch nicht einer“ (Ps 14,1.3). „Wohl - chrestos dem, der barmherzig ist und gerne leiht …“ (Ps 112,5). Nicht gleichgültig sein gegen den Nächsten, sich um ihn sorgen, gütig sein, das ist das Wesen des guten Lebens.
7. Schliesslich wird chrestos im AT auch gebraucht, um etwas sehr Kostbares zu beschreiben. Hesekiel benutzt es zum Beispiel zweimal für Edelsteine (Ez 27,22; 28,13). Es kann auch etwas Gutes und Nützliches kennzeichnen. Jeremia wendet es an, um gute Feigen von schlechten, ungeniessbaren zu unterscheiden (Jer 24,2-5). Diese Tatsache bereichert die Bedeutung des Wortes, denn es gibt auch eine schwächende, ermüdende Güte; aber die Güte, die das AT von den Menschen fordert und ständig auf Gott anwendet, ist kostbar, nützlich und heilend.
Untersuchen wir nun den Gebrauch und die Bedeutung von chrestos und chrestotes im NT.
1. Auch das NT spricht von der Güte Gottes. Paulus prophezeit dem Menschen die Verdammnis, der nicht sehen will, dass diese Güte Gottes uns zur Busse führen soll (Röm 2,4). Diese Güte Gottes gibt in der Tat dem Christen die Kraft, selbst auch gütig zu sein. Weil die Menschen diese Güte Gottes geschmeckt haben, sollen sie ihr sündiges Wesen ablegen (1 Petr 2,3). Die Güte Gottes soll nicht als Gelegenheit zur Sünde betrachtet werden. Es ist verderblich, mit der Güte Gottes handeln zu wollen. Die Güte Gottes ist keine bequeme, gefühlsduselige Sache; vielmehr geht sie Hand in Hand mit der Strenge Gottes (Röm 11,22). Gott vereint beides in sich: Strenge und Güte.
Die Güte Gottes umschliesst alles. Auch gegen die Undankbaren und Bösen ist Gott gütig (Lk 6,35). Man kann gar nicht in dieser Welt leben und sich am Licht der Sonne erfreuen, ohne dabei die Güte Gottes zu erfahren. Jeder Mensch ist dieser Güte verpflichtet, denn sie wird jedem geschenkt, nicht dem Verdienst, sondern der segnenden Güte Gottes entsprechend.
In dieser Güte Gottes liegt eine rettende Kraft. Als die Freundlichkeit Gottes, unseres Heilands erschien, wurden wir gerettet (Tit 3,4). Es ist seine Güte, die vergangene Sünden vergibt und den Menschen mit der Kraft des heiligen Geistes ausrüstet, künftig selbst gütig zu sein. Sie vergibt dem Sünder nicht nur, sondern sie macht auch einen guten Menschen aus ihm. Und deshalb zeigt sich die Güte Gottes zu uns überschwenglich in Christus Jesus (Eph 2,7). Das Kommen Christi in diese Welt ist die grösste Tat der Güte Gottes, und diese Güte ist in Jesus Christus verkörpert.
2. Wie im AT, so kennzeichnet die Güte auch im NT ein gutes Leben. Paulus zitiert den Psalmisten, der die Tragödie des Menschen mit folgenden Worten kennzeichnet: „Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer. Da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der nach Gott fragt. Sie sind alle abgewichen und allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer“ (Röm 3,10-12). Es ist eine Gefahr für den Christen, dass schlechte Gesellschaft die guten Sitten verderben (1 Kor 15,33). Deshalb soll der Christ die Güte anziehen (Kol 3,12).
In dieser Güte sollen die Christen einander vergeben, wobei ihnen die Vergebung Gottes selbst ein Vorbild ist. „Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem anderen, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus“ (Eph 4,32).
In Matthäus 11,30 sagt Jesus: „Mein Joch ist sanft” - chrestos, Hier kann chrestos gut oder passend bedeuten. Der Dienst für Christus wird dem Menschen nicht mit Gewalt aufgelegt; der Mensch ist kein Sklave dieses Dienstes. Vielmehr ist der Dienst leicht und sanft; die Aufgabe, die Christus einem Menschen gibt, ist genau auf ihn zugeschnitten.
Die christliche Güte ist freundlich und mild. Sie handelt so an den Mitmenschen, wie Gottes Güte sich uns zuerst erzeigt hat.