Fleisch oder Geist
William Barclay
Die siebte Tugend der Frucht des Geistes ist pistis - Glaube. Pistis ist eines der häufigsten Wörter im NT, denn der Glaube ist ja die Grundlage der christlichen Religion. Aber im Zusammenhang dieser Aufzählung der Früchte des Geistes ist Glaube eine irreführende Übersetzung. In den meisten anderen Stellen des Neuen Testaments, in denen pistis vorkommt, bedeutet es Glaube im Sinne von absolutem Vertrauen, absoluter Hingabe und absolutem Gehorsam zu Christus. In unserer GalatersteIle ist aber nicht so sehr die Rede von unserem Verhältnis zu Gott als von unseren Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Was mit pistis hier gemeint ist, ist nicht Glaube, sondern Glaubwürdigkeit, Treue; es ist die Tugend der Zuverlässigkeit, der Vertrauenswürdigkeit, die den Menschen zu einer Person macht, auf die man sich völlig verlassen kann, auf deren Wort man ohne weiteres vertrauen kann. Manche neuen Übersetzungen geben pistis in Galater 5 auch mit Vertrauen oder Treue wieder. Wenn man die anderen neutestamentlichen Stellen betrachtet, in denen pistis in diesem Sinne gebraucht wird, so scheint Treue die beste Übersetzung zu sein.
Nicht oft hat pistis im NT diese Bedeutung. In Matthaus 23,23 macht Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern den Vorwurf, dass sie beim Verzehnten von Kümmel, Dill und Minze peinlich genau verfahren, aber das Wichtigste im Gesetz vernachlässigen, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben - pistis. Jesus will hier sagen, dass sie zwar sehr sorgfältig auf die Entrichtung des Zehnten achteten, selbst da, wo das über das Gesetz Gottes hinausging, aber die wirklichen Forderungen Gottes wie Gerechtigkeit, Güte und Treue vernachlässigten. In Titus 2,10 wird den Knechten nahe gelegt, nichts zu veruntreuen, „sondern in sich in allem als gut und treu zu erweisen …“ Ein Knecht, der Christ ist, soll ehrlich und vertrauenswürdig sein. In Römer 3,3 vergleicht Paulus die Unbeständigkeit der Menschen mit der Treue Gottes. Gottes Verheissungen bleiben trotz aller Untreue der Menschen bestehen. Menschliche Untreue kann die Treue Gottes niemals aufheben.
Wahrscheinlich wird pistis auch in der Offenbarung mehr als einmal in diesem Sinne gebraucht. Die Offenbarung wurde in erster Linie für die verfolgten Christen geschrieben, also in einer Zeit, in der Christsein sehr häufig Martyrium bedeutete und in der die wichtigste Tugend des Christen die Treue zu Christus war. Die Gemeinde in Pergamon wird von dem, der das zweischneidige Schwert trägt, dafür gelobt, dass sie, obschon sie wohnt, wo Satans Thron ist, auch in den Tagen der Verfolgung den Glauben - pistis an ihn nicht verloren hat (Offb 2,13). Gerade in einer Zeit der blutigen Verfolgung beweist sich die Ausdauer und der Glaube, die Treue - pistis der Heiligen (Offb 13,10; 14,12).
Das zu pistis gehörige Adjektiv pistos ist im NT häufiger als das Substantiv. Es hat genau wie pistis zwei Bedeutungen: gläubig und treu oder zuverlässig. Die Untersuchung des Gebrauchs von pistos wird das Verständnis von pistis noch erweitern.
1. Pistos charakterisiert einen guten und treuen Diener. Von einem Haushalter wird ganz selbstverständlich erwartet, dass er treu ist (1Kor 4,2). Jesus gebraucht pistos für einen treuen und klugen Knecht, den der Herr als Haushalter über alle seine Güter setzen wird (Mt 24,45; Lk 12,42) und für die frommen und treuen Knechte in den Gleichnissen mit den anvertrauten Zentnern und Pfunden (Mt 25,21; Lk 19,17). Im Anschluss an das Gleichnis vom untreuen Haushalter gebraucht Christus das Wort mehrere Male. „Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Grossen treu; ... Wenn ihr nun mit dem ungerechten Mammon nicht treu seid, wer wird euch das wahre Gut anvertrauen? Und wenn ihr mit dem fremden Gut nicht treu seid, wer wird euch geben, was euer ist?“ (Lk 16,10-12). Eigentlich erwartet man Vertrauenswürdigkeit bei seinen Mitmenschen; auch Jesus erwartet diese Eigenschaft bei seinen Nachfolgern.
2. Pistos kennzeichnet deshalb selbstverständlich auch den Diener Christi, den Diener des Evangeliums und der Gemeinde des Herrn. Paulus wendet dieses Adjektiv auf sich selbst an. Er dankt Christus dafür, dass er ihn für treu erachtet und ihn in das Amt, besser wäre das Wort Dienst, eingesetzt hat (1Tim 1,12). Die Lehrer der Gemeinde sollen treue und tüchtige Menschen sein (2Tim 2,2). Hier hat das Wort vielleicht eine doppelte Bedeutung, nämlich gläubig und treu.
Immer wieder bezeichnet Paulus seine Gehilfen als treu im Herrn. Timotheus, Tychikus, Epaphras und Onesimus werden so beschrieben (1Kor 4,17; Eph 6,21; KoI 1,7; 4,9). Petrus gebraucht dasselbe Wort für Silvanus (1Petr 5,12) und Johannes für Gajus (3Joh 5). Treue und Vertrauenswürdigkeit sind Eigenschaften, die jeder Vorgesetzte an seinen Mitarbeitern schätzt.
Pistos bezeichnet auch die Tugend der Häuslichkeit. „Ihre Frauen sollen ehrbar sein, ... nüchtern, treu in allen Dingen“ (1Tim 3,11). Die Gemeinde, die Ehe, alle engen menschlichen Beziehungen sind undenkbar ohne Treue und Vertrauen.
3. Besonders in den Pastoralbriefen wird pistos oft in Verbindung mit logos - Wort gebraucht. Ein pistos logos ist eine Feststellung, auf deren Wahrheit man sich unbedingt verlassen kann, eine Feststellung, die ganz sicher richtig ist. „Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen …“ (1Tim 1,15). „Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert. Denn dafür arbeiten und kämpfen wir, weil wir unsre Hoffnung auf den lebendigen Gott gesetzt haben …“ (1Tim 4,9). „Das ist gewisslich wahr. Und ich will, dass du dies mit Ernst lehrst, damit alle, die zum Glauben an Gott gekommen sind, sich mit guten Werken hervorzutun …“ (Tit 3,8). Jede dieser Feststellungen wird als ein pistos logos bezeichnet, eine Feststellung, die über jeden Zweifel erhaben ist. Dieselbe Feststellung wird auch von der Botschaft des auferstandenen Christus in der Offenbarung getroffen, sie ist wahrhaftig und gewiss (Offb 21,5; 22,6).
4. Pistos kennzeichnet den Menschen, dessen Treue ihn fähig macht, für die Sache Christi zu sterben. „Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! ... Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“ (Offb 2,10).
5. Die volle Bedeutung von pistos haben wir aber immer noch nicht gesehen. Mehr als einmal wird es benutzt, um Jesus Christus selbst zu beschreiben. Christus ist der treue Zeuge, der Treue und Wahrhaftige (Offb 1,5; 19,11). Der Mensch kann sein Leben auf die Wahrheit dessen, was Jesus Christus gesagt hat, gründen. Jesus ist barmherzig und ein treuer Hoherpriester (Hebr 2,17). Der Mensch darf darauf vertrauen, dass Christus ihm den Weg zum Vater geöffnet hat. Christus ist dem treu, der ihn gemacht hat und ihn über sein ganzes Haus gesetzt hat (Hebr 3,2-5). Einen Menschen pistos zu nennen, bedeutet, ihn mit nichts weniger als einer Eigenschaft Jesu selbst zu kennzeichnen.
6. Ein Letztes, Höchstes soll hier über dieses Wort gesagt werden. Immer wieder gibt uns pistos eine Beschreibung von Gott, vor allem in den Briefen des Apostels Paulus. Gott ist treu, der uns zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus berufen hat (1Kor 1,9). Gott ist treu, der uns nicht über unser Vermögen versuchen lässt (1Kor 10,13). Gott ist treu, der uns ruft er wird das Werk seiner Verheissung auch erfüllen (1Thess 5,24). Gott, der uns stärken und vor dem Bösen bewahren wird, ist treu (2Thess 3,3). Immer wieder ruft uns Paulus in seinen Briefen zu: Du kannst dich auf Gott verlassen!
Der Schreiber des Hebräerbriefes betont, dass wir uns auf Gott, der uns seine Verheissung gegeben hat, verlassen können (Hebr 10,23). Trotz ihres hohen Alters gebar Sarah ein Kind, weil sie den Verheissungen Gottes glaubte (Hebr 11,11). Petrus ermahnt seine Brüder, in ihrem Leiden doch ihre Seelen dem treuen Schöpfer anzubefehlen (1Petr 4,19). Johannes sagt, dass, wenn wir unsere Sünden bekennen, Gott treu sein wird und uns reinigt und vergibt (1Joh 1,9). Einmütig bezeugen die Schreiber des Neuen Testaments die grosse Treue Gottes, die sie selbst immer wieder erfahren haben.
Pistos ist in der Tat ein grosses Wort. Es beschreibt einen Menschen, auf dessen treuen Dienst wir uns verlassen, auf dessen Treue wir bauen dürfen, dessen Wort wir unbedingt vertrauen dürfen. Es beschreibt einen Menschen, in dem die unerschütterliche, unwandelbare Treue Jesu Christi und die völlige Zuverlässigkeit Gottes wohnen.