Griechische Begriffe 1
24. Merimna = Sorge
von William Barclay
Das Substantiv merimna bedeutet Sorge, Besorgnis, Beängstigung und das Verb merimnan Sorge tragen, ängstlich besorgt sein. Es ist sehr wichtig, dass wir die Bedeutung dieser Wörter genau verstehen, denn die ganze Lebenseinstellung der Christen hängt davon ab.
Beide Wörter werden im NT immer wieder benutzt. Merimna bezeichnet die Sorge dieser Welt, welche die Saat des Wortes und das Leben aus Gott erstickt (Mt 13,22 vgl. Mk 4,19; Lk 8,14). Lukas gebraucht es, um uns zu sagen, dass wir unsere Herzen nicht mit Sorgen über äusserliche Dinge beschweren sollen, die uns unfähig machen, Christus in der rechten Weise zu erwarten (Lk 21,34). Petrus benutzt es in seiner Aufforderung, alle Sorgen auf Gott zu werfen (1 Petr 5,7). Paulus gebraucht es, indem er sagt, dass er Sorge trägt für alle Gemeinden (2 Kor 11,28). Hier können wir schon sehen, dass merimna eine zweifache Bedeutung hat. Die Sorgen des Lebens, die das Wort Gottes ersticken, sind anderer Art als die Sorge, die Paulus für die Gemeinden trägt.
Die wichtigste Anwendung des Verbs merimnan finden wir in der Bergpredigt (Mt 6,25.27-28. 31.34; vgl. Lk 12,22.25.26). In all diesen Stellen lesen wir bei Luther, in der Zürcher- und auch in der Pattloch-Bibel Sorge oder sorgen. Sorget nicht für euer Leben, sorget nicht für morgen usw. Andere Übersetzungen sagen: „Seid nicht zu beschäftigt mit eurem Leben!“ „Seid nicht bekümmert, unruhig um euer Leben!“ „Belastet euch nicht mit Kleinigkeiten über Essen und Trinken!“ Wir müssen uns klar werden über dieses Gebot Jesu, denn es bestimmt unsere ganze Lebenshaltung.
Ehe wir uns näher mit der Bedeutung dieser Wörter befassen, müssen wir noch auf seine anderen Anwendungen im NT eingehen. Merimnan wird in Lk 10,41 gebraucht, als der Herr Jesus Martha zu bedenken gibt, dass sie sich um viele Dinge sorgt. Es wird auch benutzt, als Jesus seine Jünger auffordert, sich nicht darum zu sorgen, was sie sagen sollen, wenn sie wegen ihres Glaubens zur Verantwortung gezogen werden (Lk 12,11). Der Apostel Paulus benutzt merimnan sehr oft, davon einige Male in 1 Kor 7,32-34, wo er davon redet, dass sich der Christ auf die Wiederkunft Christi vorbereiten soll, die jederzeit erfolgen kann. Paulus sagt hier, dass die Unverheirateten sich um die Ewigkeit sorgen, die Verheirateten aber um die Dinge dieser Welt und mehr darum, wie sie sich gegenseitig gefallen können, als darum wie sie dem Herrn gefallen mögen. In 1 Kor 12,25 drückt merimnan die Sorge der Gemeindeglieder füreinander aus. In Phil 2,20 wird es für die Sorge benutzt, die Timotheus für die Christen in Philippi trägt. In Phil 4,6 bittet Paulus die Philipper, sich nicht zu sorgen - merimnan.
Wir können feststellen, dass merimnan genau wie merimna in zweifacher Weise benutzt wird. Die Sorge für unsere Mitchristen ist ganz offensichtlich etwas anderes als die Sorge um die Dinge der Welt.
Wir müssen nun die Bedeutung dieser Wörter im nichtreligiösen griechischen Sprachgebrauch untersuchen, damit wir ihre Aussage im NT besser verstehen können.
Im klassischen Griechisch kann merimnan einfach bedeuten mit etwas beschäftigt sein. In Sophokles’ Theaterstück fragt Oedipus den Hirten, welchen Beruf er ausübe, mit was er beschäftigt - merimnan sei (König Oedipus, 1124). Das Substantiv merimna steht manchmal in Verbindung mit lype, was Kummer, Leid bedeutet. In Euripides’ Ion 244 findet Ion die Kreusa weinend im Heiligtum und fragt sie: „Wieso trägst du eine solche Sorgenlast,“ Das Wort kann also wirklichen Schmerz und Kummer ausdrücken.
Im allgemeinen griechischen Sprachgebrauch kann merimnan anzeigen, dass jemand über seine Arbeit nachdenkt, oder dass ein Philosoph sich den Kopf zerbricht über irgendein Problem. Xenophon erzählt, wie Sokrates diejenigen tadelt, die die Bewegung der Himmel, die Gott ersonnen hat, zu ergründen versuchen. Er sagt, wer sich mit diesen Dingen einlässt - merimnan, kann seinen Verstand verlieren, genau wie Anaxagoras, der von einem irrsinnigen Hochmut befallen wurde wegen seiner Erklärung der göttlichen Weltordnung (Memorabilien 4.7). Er erzählt, wie Sokrates keine Zeit für die Theoretiker hat, die sich um die endgültige Natur der Dinge sorgen (Memorabilien 1.1). An anderer Stelle berichtet er, wie Sokrates zu Perikles sagt: „Ich denke, du machst dir viel Mühe - merimnan, damit du keine Erkenntnis versäumst, die einem General nützen kann“ (Memorabilien 3.5). In seiner Lebensbeschreibung von Kyrus berichtet Xenophon, wie Kyrus am Ende seiner Tage Tanaoxares eine Stellung hinterlässt, die weniger Verantwortung als eine Königsherrschaft in sich birgt, in der er nicht belastet sein würde mit den vielen Sorgen, die von Verantwortung und Ehrgeiz herrühren (Cyropaedie 8.7). Hier haben wir wieder die zweifache Bedeutung, einmal eine Besorgnis rechter Art und zum anderen ein angstvolles Sorgen, das uns von der Wirklichkeit ablenkt und von übel ist.
Nun wollen wir uns der letzten Informationsquelle, dem zeitgenössischen Griechisch der Papyri zuwenden. In den Briefen des Volkes zur Zeit des Neuen Testaments finden wir die Wörter merimna und merimnan ziemlich oft. Eine Frau schreibt ihrem abwesenden Mann: „Ich kann nicht einmal schlafen, denn meine grosse Sorge - merimna ist deine Sicherheit.“ Eine Mutter, die erfahren hat, dass es ihrem Sohn gut geht, schreibt: „Das ist all mein Gebet und mein Sorgen - merinma.“ Ein Wahrsager warnt seinen Klienten vor vielen Sorgen - merimnai und Nöten. Anakreon schreibt: „Wenn ich Wein trinke, vergehen meine Sorgen - merimnai.“ Im Brief des Aristeas (271) wird die Frage gestellt: „Was erhält ein Königreich?“ Die Antwort lautet: „Sorge - merimna und Achtsamkeit, damit diejenigen, die über das Volk zu herrschen gesetzt sind, niemand Unrecht zufügen.“ Ein Familienangehöriger, der unterwegs ist, schreibt nach Hause: „lch will euch schnell schreiben, damit ihr euch nicht sorgt - merimnan.“ Das Wort amerimnia bedeutet Sicherheit, Gewissheit, ein sorgloser Zustand. Wenn zwei Partner ein Geschäft miteinander abschliessen, schreibt einer dem andern: „Zu deiner Sicherheit - amerimnia habe ich diesen Vertrag ausgearbeitet.“
Die Betrachtung von merimna und merimnan im nichtreligiösen Sprachgebrauch hat uns dasselbe Ergebnis gezeigt, nämlich, dass es eine rechte und eine verkehrte Art des Sorgens gibt. Nun bleibt uns noch übrig, zum NT zurückzukehren, um zu sehen, in was das rechte und das verkehrte Sorgen besteht.
Zuerst wollen wir die falsche Sorge betrachten.
1. Die Angst und Sorge, die uns überfällt, wenn wir zu sehr in die Angelegenheiten dieser Welt verstrickt sind, ist immer falsch (Mt 13,22 vgl. Mk 4,19; Lk 8,14 und 21,34). Wenn ein Mensch so sehr mit diesseitigen Angelegenheiten beschäftigt ist, dass er keine Zeit für die ewigen Dinge hat, dann befindet er sich in einer gefährlichen Lage. Er kann so viel mit andern Menschen zu reden haben, dass er keine Zeit mehr hat, zu Gott zu beten. Die Dinge, mit denen er in dieser Welt so beschäftigt ist, müssen an sich nicht schlecht sein, aber „das Zweitbeste kann oft der grösste Feind des Besten sein!“
2. Sorgen über die Zukunft sind verkehrt, denn sie machen uns blind, sie lassen uns die Freigiebigkeit Gottes nicht sehen. Wenn Gott für die Vögel und Blumen sorgt, wird er erst recht für die Bedürfnisse der Menschen sorgen (Mt 6,25-26.28-30). Diese Sorge ist auch verkehrt, weil sie nichts nützt. Solche Sorgen haben noch nie etwas eingebracht (Mt 6,27). Sie sind verkehrt, weil sie einem ungläubigen Herzen entspringen (Mt 6,32). Ein Heide mag sich zersorgen, aber nicht ein Christ. Diese Sorge ist falsch, weil sie den Menschen unfähig macht, mit wirklichen Problemen fertig zu werden (Mt 6,34).
3. Sorgen sind verkehrt, wenn sie unsere Energie für unwesentliche Dinge verausgaben. Das war Marthas Fehler (Lk 10,41-42). Jesus begehrte nicht ein Festmahl, sondern Ruhe und Frieden, bevor er nach Golgatha ging.
4. Unangebracht ist auch die Sorge darum, wie man dem Widerstand begegnen und in den Prüfungen bestehen wird, die einen Christen erwarten (Lk 12,11). Wenn sie an uns herantreten, wird Gott uns die Kraft dazu schenken; er verlässt einen treuen Jünger nicht.
5. Sorgen, wie man Menschen um jeden Preis gefallen kann, sind ebenso verkehrt (1 Kor 7,32-34). Wir sollen danach trachten, Gott zu gefallen. Ein Mensch, der in Wahrheit Gott fürchtet, wird sich nie vor Menschen zu fürchten haben.
6. Das Heilmittel gegen die Sorgen ist, alle Dinge im Gebet vor Gott zu bringen (1 Petr 5,7; Phil 4,6). Mit anderen Worten, wenn wir erkennen, dass wir im Lebenskampf nicht alleine stehen, dass Gott unser Helfer ist, haben wir keinen Grund mehr zur Besorgnis.
Nun wollen wir sehen, welches die rechte Art von Sorgen ist.
1. Wir sollen füreinander sorgen (1 Kor 12,25). Es kann oft geschehen, dass wir unsere eigenen Sorgen über denen unserer Mitmenschen vergessen. Unser Leben wird leichter und erfüllter, wenn wir uns die Sorgen und Nöte anderer zu eigen machen.
2. Vor allem sollen wir für unsere Mitchristen sorgen (Phil 2,20). Timotheus sorgte für die Nöte der Philipper. Kein Christ kann ein sorgenfreies Leben führen, wenn zur selben Zeit irgendwo in der Welt Christen in Not und Elend leben.
3. Es ist recht, für die Gemeinde des Herrn zu sorgen (2 Kor 11,28). Die Sorge, die Paulus für alle Gemeinden getragen hat, war eine Bürde, aber gleichzeitig auch ein Vorrecht. Der Christ soll beständig besorgt sein, wie er der Gemeinde am besten dienen kann.
Es ist uns gesagt, dass wir uns nicht um unser Leben, um unsere Zukunft sorgen sollen; das bedeutet, dass das unnötige Sorgen, das uns untüchtig für unsere wirklichen Aufgaben macht, untersagt ist, nicht aber die helfende Fürsorge und Vorsorge. Es ist die Pflicht des Christen, alles zu tun, was in seiner Kraft steht und alles andere Gott zu überlassen. Gleichzeitig ist es die Pflicht jedes Christen, für seine Mitmenschen, vor allem die Mitchristen und für die Gemeinde so zu sorgen, wie Gott selbst das tut.