Griechische Begriffe 1
25. Paidagogos = Erzieher
von William Barclay
Das Wort paidagogos kommt im NT nur zweimal vor, aber seinen genauen Sinn zu erfahren, ist von wesentlicher Bedeutung, wenn der Gedanke des Apostels Paulus recht verstanden werden soll. Paulus sagt den Korinthern: „Denn ob ihr gleich zehntausend paidagogoi - Zuchtmeister hättet in Christus, so habt ihr doch nicht viele Väter; denn ich habe euch gezeugt in Christus Jesus durchs Evangelium“ (1 Kor 4,15). Andere Übersetzungen sagen hier Lehrmeister oder Leiter. Aber keine ist ganz zufriedenstellend, denn es gibt in unserem Erziehungssystem keine Funktion, die der eines paidagogos vollkommen gleichkommt. Bis zum 7. Lebensjahr war ein griechischer Junge fast ausschliesslich unter der Obhut seiner Mutter. Aber falls ein paidagogos im Hause war, redete er selbst zu diesem frühen Zeitpunkt in der Erziehung mit. Sokrates sagt in Platons Protagoras (325): „Mutter, Kindermädchen, Vater und paidagogos streiten um die Weiterbildung des Kindes, sobald es sie verstehen kann.“ Mit dem Eintritt des Jungen in die Schule übernahm der paidagogos seine Erziehung ständig bis zu seinem 18. Lebensjahr. Der paidagogos war kein Lehrer in unserem Sinne. Seine Aufgabe war es, den Jungen jeden Tag zur Schule zu begleiten, auf seine Sicherheit zu achten, seine Bücher und seine Leier zu tragen, sein Benehmen in der Schule und auf der Strasse zu überwachen. Er hatte ihn in Moral und in gutem Benehmen zu unterrichten. Er musste darauf achten, dass der Junge bescheiden, mit gesenktem Kopf durch die Strassen ging, dass er älteren Leuten Platz machte und in ihrer Gegenwart still war, wie es sich gehörte; er musste ihm gute Tischsitten beibringen und wie er seine Kleider mit Anstand zu tragen hätte. Er musste ihn alles das lehren, was die Griechen unter eukosmia verstanden, gute Sitten, gutes Benehmen, angenehmes Wesen. K. J. Freeman sagt, dass ein paidagogos „eine Mischung aus Kindermädchen, Diener, Beschützer, Anstandsdame und Hauslehrer war.“ Der paidagogos hatte eine sehr praktische, aber auch sehr schwierige Aufgabe, vor allem, wenn der Junge kühn und selbständig war. Platon vergleicht das Verhältnis eines paidagogos zu seiner Aufgabe mit dem eines Invaliden zu seiner körperlichen Verfassung: „Seine Krankheit ist immer gegenwärtig, er kann sie nicht heilen, er lebt in beständiger Angst und hat keine Zeit für etwas anderes“ (Der Staat, 406a). Clemens von Alexandrien schreibt in seinem Werk „Der Paedagogos“: „Die Arbeit des paidagogos ist eine praktische, keine theoretische; sein Ziel ist die Weiterbildung der Seele, seinen Schützling nicht zu einem intellektuellen, sondern zu einem tugendhaften Leben zu führen.“ Plutarch berichtet in seiner Biographie des Quintus Fabius Cunctator, wie Fabius Hannibal besiegte. Er lehnte eine offene Schlacht ab, aber er folgte Hannibals Armeen mit Zähigkeit. „Er hielt Schritt mit ihnen; wenn sie marschierten, folgte er ihnen; wenn sie lagerten, tat er das gleiche.“ Manche wollten grosse Taten sehen, sie verhöhnten Fabius, er sei der paidagogos Hannibals, „denn er tat nichts anderes, als ihm zu folgen und auf ihn zu warten“ (Fabius Maximus 5).
Wir können nun die entscheidende Bedeutung erkennen. Manchmal war der Sklave, der als paidagogos bestimmt wurde, alt und verlässlich. Mancher hatte die höchste Auffassung von seiner Aufgabe. Von einem guten paidagogos wird erzählt, dass man ihn fragte: „Was ist deine Pflicht?“ Er antwortete: „Meine Pflicht ist es, dem Jungen das Gute angenehm zu machen.“ Themistokles wählte für seine heimliche Botschaft an Xerxes, die jenem zum Verhängnis wurde, Sikinnos, den paidagogos seiner Söhne und belohnte ihn später mit Reichtum und dem Bürgerrecht (Herodot 8.75). Manchmal war der paidagogos wirklich der Vertraute der Familie. Aber viel öfters gab er eine unglückliche Figur ab, denn, wie Plutarch es beklagt, wurde er oft für diese Aufgabe ausersehen, weil er zu alt und zu hinfällig für eine andere Arbeit war.
In jedem Fall war der paidagogos dazu da, seinen Schützling unabhängig von seiner Fürsorge zu machen. Xenophon schreibt in seinem Werk über Sparta (3.1): „Wenn sie von Kindern zu jungen Männern heranreifen, entwachsen sie den paidagogoi und Lehrern. Niemand führt sie mehr, sie sind ihre eigenen Herren geworden.“ Wenn Paulus von dem Gesetz als von unserem paidagogos redet, der uns zu Christus bringen soll, so behauptet er in diesem Satz, dass das Gesetz etwas Ungenügendes, Unbefriedigendes war, dessen Ende gekommen war (Gal 3,24). Damit drückte er nur mit anderen Worten aus, dass Christus das Ende des Gesetzes ist.