Griechische Begriffe 1
26. Parousia = Ankunft
von William Barclay
Die Anwendung des Wortes parousia im nichtreligiösen Griechisch zur Zeit des Neuen Testaments ist ausserordentlich interessant.
1. Im klassischen Griechisch bedeutet es einfach die Gegenwart oder Ankunft einer Person oder einer Sache. Es kann benutzt werden im Sinne von die Gegenwart von Freunden oder gegenwärtiges Unglück. Ein Mann bekräftigt mit einem Eid, in Gegenwart - parousia von Zeugen, dass er eine bestimmte Pflicht erfüllen will. Paulus gebrauchte parousia sehr oft in dieser einfachen allgemeinen Weise. Er freut sich über die Ankunft - parousia des Stephanus (1 Kor 16,17). Er wurde getröstet durch die Ankunft - parousia des Titus (2 Kor 7,6). Er bittet die Philipper während seiner Abwesenheit ebenso gehorsam zu sein, wie während seiner Anwesenheit - parousia (Phil 2,12). Einige Korinther verhöhnen den Apostel Paulus, indem sie sagen, dass seine Briefe zwar eindrucksvoll seien, die Gegenwart - parousia seines Leibes aber schwach (2. Kor. 10,10).
2. Charakteristisch ist parousia aber für die Wiederkunft Christi (Mt 24,3.27.37.39; 1 Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23; 2 Thess 2,1.8.9; Jak 5,7-8; 2 Petr 1,16; 3,4.12; 1 Joh 2,28). Wir wollen zunächst den zeitgenössischen, nichtreligiösen Gebrauch des Ausdrucks untersuchen, um zu sehen, welche Vorstellung die ersten Christen damit verbanden.
In den Papyri und im hellenistischen Griechisch drückt parousia die Ankunft eines Kaisers, Königs, Statthalters oder irgendeiner berühmten Persönlichkeit aus. Für solch einen Besuch waren Vorbereitungen zu treffen. Steuern wurden erhoben, um z. B. dem König eine goldene Krone zu präsentieren. Für den Besuch des Ptolemäus Soter in dem Dorf Kerkeosiris mussten 80 Mass Mais gesammelt werden. Für das Kommen des Königs muss immer alles bereit sein. Ausserdem war es allgemein üblich, dass man nach dem Besuch - parousia des Kaisers eine neue Zeit¬rechnung begann. Ein anderer Brauch zur Erinnerung des Besuches eines Königs war es, neue Münzen zu prägen. Die Reisen Hadrians kann man an Hand solcher Gedenkmünzen verfolgen. Als Nero die Stadt Korinth besuchte, wurden Münzen zur Erinnerung seiner Ankunft (adventus - das lateinische Wort für parousia) geprägt. Es war so, als ob mit dem Kommen - parousia des Königs, alles einen neuen Wert bekommen hätte.
Parousia wird manchmal auch gebraucht für die Invasion einer Provinz durch einen General. In diesem Sinne wird es verwendet für die Eroberung Asiens durch Mithridates. Es beschreibt das Erscheinen einer neuen siegreichen Macht.
Schliesslich wird parousia auch benutzt für den Besuch eines Gottes. Zum Beispiel suchte ein Gott einen leidenden Menschen im Tempel des Äskulap auf und heilte ihn. Auf politischem Gebiet war die parousia eines Königs, Kaisers oder Statthalters oft der Anlass zur Überreichung von Bittschriften und Gnadengesuchen. Das Wort bezeichnete einen Besuch, der ordnete und wiederherstellte.
An all diese Möglichkeiten wollen wir denken, wenn wir uns nun dem Gebrauch von parousia im NT zuwenden.
1. Es drückt die grundsätzliche Forderung aus, das Leben unsträflich zu erhalten bis zur Ankunft des Königs. Christen bereiten sich auf dieses Kommen vor (1 Thess 3,13; 5,23; 1 Joh 2,28).
2. Die parousia des Herrn ist ein Grund zur Geduld (Jak 5,7-8). Der Tag wird kommen, an dem die Ankunft dieses Königs wahre Gerechtigkeit schaffen wird.
3. Diese Ankunft ist etwas, wonach die Christen sich sehnen und wofür sie beten sollen (2 Petr 3,4.12). R. L. Stevenson erzählt von einem Mann, der eine sehr niedrige Arbeit zu leisten hatte, sich darum aber nie grämte, „denn“, so sagte jener Mann, „wer in der jenseitigen Welt etwas besitzt, braucht sich nicht arm zu fühlen“.
Deissmann sagt, dass parousia genau das zum Ausdruck bringt, was in Sach 9,9 und in Mt 21,5 zu lesen ist: „Siehe, Dein König kommt zu dir.“ Der Christ ist ein Mensch, der seinen König erwartet.