Gründung der hebräischen Nation
Einleitung
Josef war überglücklich, seinen jüngeren Bruder Benjamin wiederzusehen, deshalb verwöhnte er ihn beim Essen und liess ihm fünf Mal mehr auftragen als den übrigen Brüdern (Gn. 43,34).
Bevor sich Josef seinen Brüdern zu erkennen gab, wollte er die älteren Brüder noch einmal auf Herz und Nieren testen. Waren sie immer noch so skrupellos wie damals, als sie ihn verkauften? Sahen sie ihre Schuld wirklich ein oder suchten sie nur ihre eigene Haut zu retten?
I. Josef testet die Brüder mit seinem Silberbecher (Verse 1-5)
Die letzte Prüfung begann wie die erste. Als die Brüder damals nach dem Handel in Ägypten auf dem Heimweg waren, stellten sie plötzlich mit Erschrecken fest, dass das Geld, mit dem sie das Getreide bezahlen sollten, sich wieder in ihren Säcken befand (42,25). Es war Josef, der seinen Dienern anordnete, das Geld oben in die Säcke zu legen. Auch diesmal war das kein Zufall, denn Josef gab seinem Hausverwalter erneut den Befehl das so zu tun (V. 1). Doch diesmal befahl Josef, dass zusätzlich sein Silberbecher mit in den Sack des Jüngsten (= Benjamin) gelegt werden sollte (V. 2). Vermutlich verwunderte sich der Hausverwalter sehr über die Absichten Josefs. Doch er traute sich nicht seinen Herrn zu fragen. Er tat einfach gehorsam, was von ihm verlangt wurde.
Ein solcher bedingungsloser Gehorsam ist in unserer westlichen Welt ziemlich verlorengegangen. Jede Autorität und jede Führung wird heute gern in Frage gestellt, weil sich die Meisten ungern führen lassen. Wir leben in einer Zeit, in der sich die Menschen schnell auflehnen gegen alles und jedermann, weil sie ungehorsam, selbstsüchtig und undankbar sind (2. Tim. 3,1-5). Sicher ist es gut, wenn Bevollmächtigte auf allen Gebieten des Lebens gezwungen werden, gerechter und massvoller zu führen, als das in der Vergangenheit der Fall war, aber alles hat seine Grenzen (Bsp. Streikende Arbeitnehmer).
Josef wollte mit dieser Tat die Einstellung der älteren Brüder gegenüber ihrem jüngsten Bruder Benjamin prüfen. Deshalb erhöhte er den Druck auf sie, um zu sehen wie sie reagierten. Würden sie Benjamin fallen lassen, wie sie damals Josef fallen liessen? Aus früheren Kapiteln wissen wir, dass Rachel nur zwei Söhne hatte: Josef und Benjamin (35,24; V. 27). Benjamin wäre der letzte Sohn der Lieblingsfrau Jakobs gewesen, der abhandengekommen wäre.
Nichtsahnend brachen die Brüder Josefs am frühen Morgen auf, um ihren Heimweg nach Kanaan anzutreten. Sie waren gut gelaunt und hatten auch allen Grund dazu. Ihre Esel waren vollgepackt mit Getreide für die hungrige Familie. Simeon wurde aus dem Gefängnis entlassen. Benjamin war auch unter ihnen und konnte bald unverletzt seinem Vater wieder in die Arme fallen. Die Reise schien ein voller Erfolg zu werden und Juda konnte stolz sein, da er kurz davor war, sein Versprechen gegenüber dem Vater Jakob einzuhalten.
II. Der Verwalter erfüllt getreu seinen Auftrag (Verse 6-13)
Doch kaum hatten sie die ägyptische Stadt verlassen, jagte ihnen eine Gruppe von Ägyptern nach. Was ist geschehen? Was haben sie getan?
Josef gab seinem Verwalter den Auftrag, den zehn Brüdern nachzujagen und sie des Diebstahls zu beschuldigen. Sie hätten den Silberbecher seines Herrn mitgehen lassen, aus dem er trinke und wahrsage (V. 5). Für die heidnischen Völker im Nahen Osten war es damals üblich, wie aus dem „Kaffeesatz“ oder andern Trinkresten zu lesen (Bsp. wie Bleigiessen). Jeder Regent in Ägypten besass einen Wahrsagerbecher. Bei wichtigen Entscheidungen goss er Wasser, Wein oder Öl in seinen Becher und konnte daraus ein „Ja“ oder „Nein“ für seine Frage herauslesen. Die Menschen glaubten, dass nur die Herrscher des Landes mit dieser besonderen Gabe ausgestattet waren. Deshalb war dieser persönliche Silberbecher Josefs besonders wertvoll. Der Verwalter glaubte, dass auch sein Herr ihn für diesen Zweck benötigte. Doch Josef hatte ja längst erklärt, dass Traumdeutungen und andere Zukunftsdeutungen nur Gott zustehe (41,16.25.39). Für Josef bedeutete der Silberbecher vermutlich nicht mehr als ein Zeichen der Autorität seines Amtes. Hier wird der kulturelle Einfluss sichtbar, dem Josef samt seinen Söhnen in Ägypten nicht entfliehen konnte. Der Text sagt nirgends, dass Josef abergläubisch war und seinen Becher zur Wahrsagerei einsetzte. Wahrsagerei und ähnliche heidnische Aktivitäten wurden später durch das Gesetz Mose strengsten verboten (Lv. 19,26; Nu. 23,23; Dt. 18,10).
Juda rechtfertigte sich und seine Brüder, indem er dem Verwalter erklärte, dass sie ja das Geld vom letzten Mal nicht zurückgebracht hätten, wenn sie Diebe wären (42,35; 43,12). Er war sich ihrer Unschuld so sicher, dass er tollkühn versprach: „Bei dem irgendwelches Diebesgut gefunden werde der sei des Todes und die übrigen Brüder würden in die Sklavschaft gehen“ (V. 9). Viele Jahre zuvor befand sich Jakob in einer ähnlichen Situation (Gn. 31,32-35). Seine Frau Rachel entwendete die Hausgötzen ihres Vaters und versteckte sie unter dem Sattel ihres Kamels. Damals machte auch Jakob eine tollkühne Aussage ohne zu wissen, dass seine Liebste alle belog. Die zehn Brüder waren sich nicht bewusst, dass sie mit dieser Aussage sich selbst richteten. Sie fürchteten sich zwar sehr vor der Sklavschaft (43,18). Doch Juda und die Brüder waren sich keiner Schuld bewusst. Deshalb gingen sie bis zum äussersten. Trotzdem ist es in jedem Fall ein grosser Fehler, solche Aussagen zu machen, da sie wie Schwüre lasten können! Hier bestätigt sich, wie gefährlich das Schwören ist. Deshalb verbietet Jesus jegliches Schwören (Mt. 5,33-37).
Der Verwalter ging darauf ein, indem er die Aussage abschwächte und sagte: „Also gut, bei dem etwas gefunden wird, der soll mein Sklave sein“ (V. 10). Er liess jeden Sack öffnen, angefangen beim Ältesten bis zum Jüngsten (V. 11). Die Suche war sehr gründlich und hatte System. Der Verwalter wurde von Josef instruiert nach dem Alter vorzugehen, gerade so wie sie am Vortrag zu Tische sassen (43,33). Die zehn Brüder waren angespannt und fühlten sich neun Mal bestätigt. Doch dann fand man den Silberbecher ausgerechnet beim Jüngsten. Die Brüder waren entsetzt und zerrissen ihre Kleider, was damals ein Ausdruck äusserster Empörung und Trauer war (Nu. 14,6). Auch der Vater Jakob tat dasselbe, als die Brüder ihm das blutbesudelte Kleid seines geliebten Sohnes zeigten (37,33-34). Nun gingen alle Zehn durch denselben Trauerprozess. Sie waren sich bewusst, dass dies ihr Vater nicht überleben würde, wenn er davon erfuhr. So blieb ihnen keine andere Wahl als ihre Esel zu beladen und mit den Ägyptern als Sklaven in die Stadt zurück zu kehren, wo ihr jüngster Bruder Benjamin die Todesstrafe erfahren sollte.
III. Die Brüder bekennen sich schuldig (Verse 14-17)
Josef, der das alles inszenierte, wartete zu Hause auf seine Brüder (V. 14). Erneut kamen sie und warfen sich vor ihm nieder, wie Josef schon damals in seinen Träumen voraussah (37,7). Dies war das vierte Mal (42,6; 43,26.28; 44,14). Gott hatte es von Anfang an so gefügt und vorausgesagt. Keiner in der Familie Jakob hörte auf Gottes Stimme, die durch Josef sprach. Sie sagten damals nur (37,20): „Wir werden ja sehen, was aus seinen Träumen wird.“ Wie weit sind wir bereit auf Gottes Stimme zu hören? Gott spricht heute noch zu uns durch die Predigt, durch Lebenssituationen ... Seine Worte sind voll Wahrheit und Weisheit und wer sich gegen sie auflehnt, wird die Konsequenzen tragen müssen, wie die Brüder Josefs. Zu oft schauen wir auf das Äusserliche, das Sichtbare, statt zum Beispiel auf den Inhalt einer Aussage oder auf das göttliche Prinzip, das dahintersteckt und uns Heil und Segen bringen kann. Die Predigten über Jakob, Josef und seine Brüder sind nicht bloss unterhaltsame Geschichten, sondern enthalten viele tiefe Wahrheiten für uns. Doch, wie sollen wir zur Einsicht kommen, wenn wir oft so schnell beleidigt sind und wie Josefs Brüder antworten: „Wer bist du?“ „Willst du über uns herrschen?“ Wie kann jemand je etwas lernen, wenn er von seiner eigenen Weisheit mehr überzeugt ist, als von Gottes Weisheit? Viele können die göttlichen Weisheiten nie in sich aufnehmen, weil sie stolz und uneinsichtig sind. Sie können die Wahrheit in Engelszungen hören und trotzdem fühlen sie sich persönlich angegriffen. Wer aber der Weisheit Gottes sein Ohr schenkt, der wird belohnt werden: Sprüche 2,1-11.
Gott fügte es so, dass Juda und die übrigen Brüder nichts mehr sagen konnten (V. 16). Sie waren überführt, zu Unrecht wie Josef damals der von ihnen verkauft wurde. Josef sagte ihnen mit andern Worten (V. 15): „Wusstet ihr denn nicht, dass ein Mann in meiner Position alles genau erkunden kann?“ Juda bemühte sich erst gar nicht mehr die Situation zu verteidigen und seine Lage zu rechtfertigen. Alles kam auf sie zurück. So wie sie dem unschuldigen Josef viel Leid zugefügt hatten so mussten sie nun selbst als Unschuldige leiden. Eine der Hauptlektionen in der Lebensgeschichte Josefs lautet: „Pass auf was du tust, denn alles wird auf dich zurückkommen!“ (Mt. 26,52). In den Sprüchen heisst es (Spr. 20,22): „Sag nicht: Ich will Böses heimzahlen. Hoffe auf den Herrn, dass er dir hilft.“ Juda gestand nur noch (V. 16b): „Gott hat die Schuld deiner Diener an den Tag gebracht.“ Damit bezog er sich nicht bloss auf die unglückliche Situation, in der sie sich alle gerade befanden. Vor den Ohren der Ägypter hörte sich das als klares Schuldeingeständnis an. Doch Juda hatte mit seinen Brüdern eine Lebenslektion gelernt. Er wusste genau, dass dies nun die Vergeltung dafür war, dass sie sich an ihrem Bruder Josef schwer versündigten und ihre Sünde für über zwei Jahrzehnte vor ihrem Vater Jakob geheim hielten. Diese schändliche Tat verfolgte die zehn Brüder ein Leben lang (42,21; 44,16b). Einmal mehr sehen wir, wie die Sünde unser Leben zerstören kann. Sie frisst sich durch unsere Seele, wie ein Krebsgeschwür. Darum ist es wichtig, dass wir unsere Sünden vor Gott und wenn nötig vor den Menschen so schnell wie möglich bekennen und reinen Tisch machen (1. Joh. 1,8-9). Sonst tragen wir die drückende Last der Schuld ständig mit uns herum. Daher werden wir aufgerufen, jede hemmende Last abzulegen und uns von der Sünde zu trennen, die uns hindert, im Wettlauf des Glaubens (Heb. 12,1).
Bei der ersten Begegnung mit Josef, der sie hart anging, empfanden sie Reue über das was sie mit ihrem Bruder getan hatten (42,21). Doch diesmal bekannten sie gemeinsam ihre Schuld. Juda, der Sprecher der Gruppe, gab resignierend auf und sagte zum ägyptischen Herrn (V. 16c): „Wir alle sind deine Sklaven.“ „Mach mit uns was du willst.“ Doch Josef lehnte es ab, alle zurückzubehalten. Schliesslich hatte sich nur Benjamin dafür zu verantworten. Es wäre ungerecht, alle Brüder dafür zu bestrafen. Damit setzte Josef sie erneut unter Druck, um zu sehen, ob es ihnen wirklich Leid tat und sie etwas aus der Vergangenheit gelernt hatten. Könnten sie tatsächlich in Frieden heimwärts ziehen und Benjamin als Sklave zurücklassen, wie Josef damals? Oder würden sie für ihren Jüngsten einstehen?
IV. Juda setzt sich mit seinem Leben für Benjamin ein (Verse 18-34)
Aus den folgenden Versen sehen wir, dass es für die Brüder keine Option war, ohne Benjamin in Frieden nach Hause zum Vater zurückzukehren. Mutig trat Juda mit einem leidenschaftlichen Appell für seinen Bruder hervor, um ihn vor einer lebenslangen Sklavschaft in Ägypten zu verschonen (V. 18). Zuerst gebrauchte er das Wort „Bitte“. Dann sagte er: „Mein Herr“. Schliesslich bezeichnete er sich selbst als „Diener“ des Regenten (Josef).
Er bat ihn auch höflich, nicht zornig zu werden, sondern ihn kurz anzuhören. Zuerst nahm er Bezug auf die Frage, die der ägyptische Herrscher ihnen stellte, als er sich nach ihrem Vater erkundigte, wie es ihm gehe (V. 19). Damit stellte er die besondere Beziehung wieder her, die sie mit dem Regenten pflegten, indem sie über private Familienzustände offen Auskunft gaben. Sie gaben ihm zur Antwort, dass sie noch einen alten Vater hätten, der in hohem Alter noch einen Sohn bekam, den er sehr lieb hatte. Mittlerweile war Benjamin weit über dreissig Jahre alt und vermutlich schon verheiratet (46,21). Dann versuchte er Mitleid zu erwecken, indem er vom toten Bruder sprach und vom einzigen Sohn (Benjamin), der dem Vater noch übrig blieb (V. 20). Dies war unnötig, da sie dies bei einer andern Gelegenheit bereits erzählten (43,27-29). Doch Juda gab alles in seiner Einsprache, um Benjamin zu verschonen. Denn dies war eine einmalige und allerletzte Gelegenheit. Dann erwähnte er, dass der Herrscher bei der ersten Begegnung darauf bestand, dass sie das nächste Mal Benjamin mitbrachten (V. 21-23). Diese Forderung habe dem Vater grosse Mühe bereitet (V. 24-28). Er hätte ihnen gar gedroht, ja nicht ohne Benjamin zurückzukehren. Sonst würden sie sein graues Haar vor Leid ins Totenreich hinabstossen (V. 29). Er wollte Josef zu verstehen geben, dass das Leben ihres Vaters auf dem Spiel stand, denn das würde er nicht mehr überleben (V. 30-31). Damit übertrieb er keineswegs.
Schliesslich holte Juda zum letzten überzeugenden Argument aus und bot dem ägyptischen Herrscher einen Handel an. Er erklärte, dass er sich für Benjamin beim Vater verbürgt hatte (V. 32; 43,9). Wenn er Benjamin nicht unversehrt nach Hause zurückbringen könnte, würde er sich ein Leben lang schwere Vorwürfe machen. Deshalb bot er ihm sein eigenes Leben als Ersatz für Benjamins Leben an (V. 33). Damit bewies Juda wirklich eine Änderung in seinem ganzen Denken. Er wusste, dass er für die Freiheit seines Bruders ein Leben lang zur Sklavschaft verdammt wurde. Er war sich bewusst, dass er damit auch seine Frau und Kinder in Kanaan zurückliess (46,12). Juda war zu allem bereit (V. 34). Mit seiner Selbstlosigkeit bewies er, dass ihm Benjamin und sein Vater mehr am Herzen lagen, als sein eigenes Leben. Das zeugt von grosser Liebe, wie sie uns im Neuen Testament gelehrt wird durch den Apostel Johannes, der sagt (1. Joh. 3,16): „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er [Jesus] sein Leben für uns eingesetzt hat. Auch wir sind verpflichtet, das Leben einzusetzen für die Brüder.“
Schlussfolgerungen
Gott lässt sein Volk prüfen und demütigen, damit er erkennt, wie sehr sie ihn lieben (Dtn 8,2). Auch wir werden von Gott durch viele Lebenserfahrungen geläutert wie Gold, damit die Echtheit unseres Glaubens sichtbar wird (1. Pet. 1,7). Manchmal sind es Ungläubige (Bsp. Nachbarvölker im AT), die uns bedrängen. Manchmal sind es die eigenen Geschwister im Glauben (wie bei Josef), durch die unser Glaube getestet wird. Die Frage ist: Sind wir bereit, unsere Lebenslektionen zu lernen, wie die Brüder Josefs?
Alles, was wir erleben, hat einen tieferen Sinn! Wir brauchen bloss unsere geistigen Ohren zu öffnen und wir werden die Stimme Gottes hören und lernen, sie richtig zu interpretieren. Stolz, falsche Selbsteinschätzung und persönliches Beleidigt sein, hat keinen Platz, wenn wir im Glauben wachsen und Gottes Führung in unserem Leben annehmen wollen.
Wer seine Mängel, Fehler und Sünden eingesteht, wird ein besserer Mensch. Gott führt uns so, dass wir Schritt für Schritt lernen, die Lebenshürden zu überwinden, die er uns gibt. Gott machte aus den skrupellosen und eifersüchtigen Brüdern Josefs, einfühlsame und hingebungsvolle Männer, unter denen einer sogar bereit war, sein Leben zu opfern. Egal wie viele Reisen wir nach Ägypten machen müssen; Hauptsache wir lernen jedes Mal etwas und werden bessere Menschen.