Genesis-45: Josef gibt sich seinen Brüdern zu erkennen

Gründung der hebräischen Nation

 

 

 Einleitung

Nachdem Josef seine Brüder bis aufs Blut herausgefordert hatte, war er bereit, sich ihnen zu erkennen zu geben. Er sah, wie sie um ihren jungen Bruder bangten und besorgt waren. Er erfuhr, wie Juda um Benjamin kämpfte und versuchte, ihn aus den Klauen des ägyptischen Herrschers zu entreissen. Er war beeindruckt von der Reaktion seiner Brüder.

Nun stand seiner Offenbarung nichts mehr im Weg. Sie hatten ihre Lebenslektion gelernt. Diese Lektion machte aus ihnen bessere Menschen. Menschen, die nicht mehr so schnell bereit waren, einen ihrer Brüder wegzugeben und als Sklave zu verkaufen. Der allmächtige Gott hat es auf wunderbare Weise so gefügt, dass sie zur Einsicht kamen und sich so ihr Denken und Handeln völlig veränderte.

 

 I.   Josef gibt sich seinen Brüdern zu erkennen (Verse 1-15)

Josef hörte der Rede Judas ganz genau zu (44,18-34). Es berührte ihn zutiefst. Er sah in Juda wahre Liebe und Besorgnis für Benjamin und den Vater Jakob. Deshalb konnte er sich nicht länger halten (V. 1).

Josef befahl alle den Saal zu verlassen, damit er alleine mit seinen Brüdern sein konnte. Hohen Beamten war es nicht gestattet, in der Ausübung ihrer Pflicht, ihre Gefühle gehen zu lassen. Schon zwei Mal zuvor wandte er sich ab von seinen Brüdern, weil er weinen musste (42,24; 43,30). Doch nun wurde Josef völlig überwältigt von seinen Gefühlen. Diesmal weinte er so laut, dass die Ägypter, die sich im Haus befanden, es hören konnten (V. 2). Sogar im Haus des Pharaos hörte man Josef weinen. Josefs Verhalten änderte sich so schnell (vom Strengen zum Einfühlsamen), dass die Brüder es nicht nachvollziehen konnten, als er ihnen gestand (V. 3): „Ich bin Josef.“ „Lebt mein Vater noch?“

Bestürzt standen sie vor dem ägyptischen Herrscher, der plötzlich behauptete, ihr Bruder zu sein. Sie verstanden die Welt nicht mehr und fragten sich vermutlich verwirrt: Wie kann dieser Herrscher den Namen unseres vermissten Bruders kennen? Wie kann dieser Herrscher behaupten Josef zu sein, der ja seit Jahren verstorben war? Wenn dieser Mann wirklich Josef war, weshalb ging er mit uns so hart um? Spielte dieser Herrscher ein Spiel, um uns später zu bestrafen?

Josef bat seine Brüder näher zu ihm heranzutreten (V. 4). Erneut bestätigte er ihnen, dass er ihr Bruder sei, den sie nach Ägypten verkauften. Damit wurde das Geheimnis enthüllt, das nur seine Brüder kannten und Jahrzehnte lang mit sich herumtrugen. Sofort begann Josef ihnen gut zuzureden und zu beteuern, dass er keine Vergeltung suche. Damit wurde die drückende Last auf ihrem Gewissen weggehoben. Im Gegenteil! Er versuchte ihnen zu verstehen zu geben, dass dies alles Gottes Plan war (V. 5a). Damit machte er eine aussergewöhnliche Aussage, die er nur aus tiefstem Glauben machen konnte. Im Hebräer 11,22 müsste deshalb nicht bloss auf die Gebeine Josefs Bezug genommen werden, sondern auch auf seine vergebende Haltung. Weil Josef aus Glauben an den lebendigen Gott handelte, bekam sein Leben einen tieferen Sinn. Josef ist ein Schatten, der auf Jesus hinweist. Wie Josef der geliebte Sohn Jakobs war, so ist Jesus der geliebte Sohn Gottes. Wie Josef wurde auch Jesus von seinen Brüdern gehasst. Wie sie Josef die Kleider auszogen, so taten die Juden es auch mit Jesus. Wie Josef aus Neid für Silberstücke verkauft wurde, so geschah es auch mit Jesus. Wie Josef seinen Brüdern ihre böse Tat vergab, so vergibt auch Jesus allen einsichtigen Feinden ihre Sünden.

Josefs Leben wird zum Musterbeispiel für wahre Versöhnung: Josef hätte sich nicht zu erkennen geben müssen. Er hätte es seinen Brüdern so richtig heimzahlen können, ohne dass sie jemals erfuhren, wer er war. Wäre er ein hartherziger Mensch gewesen, so hätte ihn seine Familie samt seinem Vater kalt gelassen und er hätte sich nicht länger um sie gekümmert. Schliesslich hatte er es geschafft und brauchte seine Familie nicht mehr. Er hätte es seinen Brüdern so richtig heimzahlen können, ohne dass sie jemals erfuhren, wer er war. Wäre er ein hartherziger Mensch gewesen, so hätte ihn seine Familie samt seinem Vater kalt gelassen und er hätte sich nicht länger um sie gekümmert. Schliesslich hatte er es geschafft und brauchte seine Familie nicht mehr. Doch Josef war ein beziehungsorientierter Mensch. Er war feinfühlig und liebte seine Familie. Er konnte gar nicht anders handeln, weil er ein warmherziger Mensch war, mit einem ganz grossen Herz. Ein Herz, das nicht nur für seine Familie schlug, sondern vor allem für Gott. Deshalb suchte Josef die Versöhnung. Er ging sogar soweit, dass er seine Brüder tröstete, mit den Worten: „Seid nicht traurig und macht euch keine Vorwürfe!“ Damit zeigte er, wie sehr er bereit war, alles Böse, das sie ihm angetan hatten, hinter sich zu lassen und kein bisschen nachtragend zu sein. Damit zeigte Josef seine wirkliche Glaubensgrösse. Er sagte mit andern Worten (V. 5b): „Egal was eure Pläne waren, um mich loszuwerden, Gottes Pläne sind grösser und er brauchte eure Taten, um mich vor euch her zusenden.“

Josef informierte seine Brüder über die Hungersnot (V. 6). Sie dauerte erst zwei Jahre und würde noch weitere fünf Jahre anhalten. Das heisst, es war erst der Anfang der Not. Die grosse Dürreperiode stand noch bevor und war lebensbedrohend für Mensch und Tier. Josef verwies ein weiteres Mal auf Gott, der ihn zum „Vater“ (V. 8 d. h. zum Herrscher) über Ägypten gemacht hatte. Insgesamt drei Mal verwies Josef auf Gott (V. 5b; V. 7; V. 9). Der Begriff Vater wurde verschieden angewandt: wenn ein König zu einem Propheten sprach (2. Kön. 6,21), wenn auf einen Herrscher hingewiesen wurde (Jes. 22,20-21), wenn von einem Heerführer gesprochen wurde (2. Kön. 5,13), oder wenn auf einen Priester bezogen wurde (Ri. 17,10; 18,19). Josefs Position beim Pharao war ein fürsorglicher Vater und Berater, dem alle Macht und Autorität im ganzen Land zustand (Gn. 41,40-44.55; 42,6.30.33).

Es war Gottes Plan, die Nachkommen Abrahams zu bewahren und auf wundersame Weise in das verheissene Land zu führen (Gn. 15,13-16). Doch zuerst mussten sie das Land verlassen um in das gottlose Ägypten zu ziehen. Das musste dem Vater Jakob aus Gottes Sicht erklärt werden, sonst wäre er nie und nimmer nach Ägypten umgesiedelt. Nur der göttliche Plan machte Sinn für alle Beteiligten. Der Herr schreibt die Geschichte nach seinem Willen (Heb. 2,4) und ER hatte mit seinem Volk noch grosses vor. Deshalb wollte Gott die Sippe Jakobs am Leben lassen und aus ihrer Not erretten (V. 7). Deshalb brauchte Gott Josef für seinen grossartigen Plan (V. 8).

Viele Situationen des Lebens nehmen uns oft so sehr ein, dass wir allzu leicht vergessen, dass der Herr hinter dem Ganzen steckt. Alles, was wir im Leben durchmachen, darf nicht nur vordergründig betrachtet und auf Menschen bezogen werden, sondern in erster Linie auf Gott! Gott ist es, der alles nach seinem Willen zulässt oder verhindert. Gott kann aus Schlechtem Gutes entstehen lassen und umgekehrt. Die Fragen, die wir dem Herrn stellen sollten, lauten: „Was hast du mit mir vor, Herr?“ „Was ist dein Plan für mich?“ „Wenn es dein Wille ist, möge diese Situation schadlos an mir vorüber gehen? Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mt. 26,39).

Josef wollte seinen Vater unbedingt bald wiedersehen und deshalb erklärte er seinen Brüdern die Vorgehensweise (V. 9-11). Macht es dem Vater klar und deutlich (V. 9): „So spricht dein Sohn Josef.“ Damit sollte dem Vater bewusst werden, dass sein Sohn nicht tot war, wie er fälschlicherweise annahm. Josef lebte und Gott machte ihn zum Herrn über ganz Ägypten. Sie sollten ihrem Vater vorschlagen, die ganze Sippe nach Ägypten umzusiedeln (V. 10). Er konnte für ihn und für die ganze Familie sorgen in ihrer Not (V. 11). Interessanterweise nahm Josef nicht mit einem Wort Bezug auf seine Träume, die er damals hatte, die doch endlich in Erfüllung gingen. Vermutlich konnte Jakob darin die Fügung Gottes selbst erkennen. Josef gab seinem Vater auf eine andere Art zu verstehen, dass bei allem was geschah, Gottes mächtige Hand dies so fügte. Es war von Anfang an Gottes Wille, dass sich Israel im Land Goschen niederliess.

Josef wusste, dass sein Vater bereits sehr alt geworden war. Eine Übersiedlung nach Ägypten war für ihn, die Frauen und Kinder samt den Tieren, eine riesige logistische Herausforderung. Doch in Anbetracht der grossen Hungersnot war dieser Vorschlag Josefs die Befreiung für die ganze Sippe, denn in Kanaan ging es nur noch ums nackte Überleben. Auch das war natürlich von Gott so gefügt worden.

Dann wandte Josef sich direkt an seine Brüder und betonte, dass sie nicht nur Überbringer seiner guten Botschaft seien, sondern Zeugen dafür, dass er lebte. Benjamin, sein einziger und voller Bruder konnte dies bezeugen. Zudem sprach Josef sie in der hebräischen Sprache an und nicht mehr über einen Übersetzer (V. 12). Daran konnten sie erkennen, dass dies wirklich ihr Bruder (Halbbruder) war. Zudem sollten sie dem Vater Jakob unbedingt von seinen „Ehren in Ägypten“ und von allem, was sie erlebt und gesehen hatten, erzählen. Schliesslich sollten sie sich beeilen, Jakob nach Ägypten zu bringen (V. 9.13).

Zum Abschluss fiel er Benjamin um den Hals und küsste weinend auch seine übrigen Brüder (V. 14-15). Die Reaktion der Brüder Josefs war verhalten, ausser die Benjamins. Zuerst waren sie geschockt und sprachlos. Dann waren sie misstrauisch und schliesslich redeten sie mit Josef (V. 15b). Aber sie vergossen keine Tränen. Ihre Unsicherheit gegenüber der Aussage Josefs, sie für ihre Böse Tat nicht zu bestrafen, blieb bestehen bis nach dem Tod des Vaters (Gn. 50,15-18).

 

 II.   Der Pharao lädt die ganze Sippe ein, nach Ägypten umzuziehen (V. 16-25)

Im Haus des Pharaos verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer, dass Josefs Brüder nach Ägypten gekommen seien (V. 16a). Das gefiel dem Pharao und seinen Dienern (V. 16,b). Zur Bestätigung seines Einverständnisses, die Sippe Jakobs nach Ägypten umziehen zu lassen, liess der Pharao Josef folgendes mitteilen: Beladet die Tiere mit dem Besten das Ägypten zu bieten hat (V. 17.23). Der Begriff „das Beste“ kommt in den Versen (18-23) immer wieder vor. Gebt ihnen Verpflegung auf den Weg, für hin und zurück (V. 21.23b). Nehmt Wagen mit, damit der gebrechliche Vater, die Frauen und Kinder leichter nach Ägypten transportiert werden können (V. 19).

Zusätzlich gab Josef jedem ein Festkleid auf den Weg, das vermutlich für Schafhirten unerschwinglich teuer war. Benjamin erhielt gleich fünf Gewänder (V. 22). Damit wollte er ihnen Freude bereiten und zum Ausdruck bringen, dass für sie eine erfolgreiche Zeit begonnen hatte; die Zeit zum Festen und Feiern. Sie hatten es für den Rest ihres Lebens geschafft (wie ein 6er im Lotto). Gott allein beschenkte sie mit diesem Sieg!

Als Zeichen seiner vergebenden Haltung, schenkte Josef dem Benjamin 300 Silberstücke, fünfzehn Mal mehr als die lächerliche Summe, mit dem sie Josef damals verkauften (Gn. 37,28). Über das hinaus beschenkte Josef seinen Vater zehn Esel, beladen mit dem Besten, was Ägypten zu bieten hatte (V. 23). Mit all dem versuchte er seinen Vater zu beeindrucken und ihn zu umwerben nach Ägypten umzusiedeln, in das Land wo Reichtum und Überfluss herrschte. Das alles war hoffentlich Beweis genug, um Jakob zu überzeugen.

Bevor die Brüder loszogen gab ihnen Josef ein letztes Wort mit auf den Weg (V. 24): „Ereifert euch nicht unterwegs!“ Josef kannte seine Brüder gut genug. Er wusste, dass sie auf dem langen Heimweg genügend Zeit hatten, sich zu streiten und sich gegenseitig die Schuld zu zuschieben, was damals genau geschehen war, als sie Josef verkauften. Das hatte er ja bereits erfahren, als er sie zum Essen in den Palast einlud (42,22). Ein anderer Grund für seine mahnenden Worte könnte sein, dass sie vor einem grossen Problem standen, nämlich: „Wie erklären wir all das unserem Vater?“ Sie mussten sich absprechen und einig werden darüber, wie sie ihrem Vater begegneten und wie sie ihm alles erzählten. Das war sicher keine einfache Angelegenheit, da sie ihm ja seit über zwei Jahrzehnten ein grosses Geheimnis vorenthielten. War ihr Vater bereit, ihnen für diese unglaubliche Lügengeschichte zu vergeben? Gleichzeitig hatten es die Brüder sicher schwer, sich selbst zu vergeben. Sie konnten auch nicht glauben, wie ernst es Josef war, ihnen zu vergeben. Hier wird ersichtlich wie schwierig wir Menschen uns anstellen, wenn es um Versöhnung und vollständige Vergebung geht (2. Kor. 5,20-21).

 

 III. Die Reaktion Jakobs (Verse 26-28)

Voll beladen mit Speisen, Gütern und mit den Anweisungen Josefs, zogen die Brüder hinauf nach Kanaan. Sie gingen zum Vater Jakob und erzählten ihm, dass Josef lebte und der Herrscher über ganz Ägypten sei (V. 26). Doch er glaubte ihnen kein Wort. So viele Jahre hatte er getrauert um seinen geliebten Sohn, den er so sehr vermisste, dass er es nicht mehr wahrhaben konnte. Diese Neuigkeit brauchte einige Zeit bis er sie verstand. Es war sicher nicht leicht für ihn.

Jakob sah, was seine Söhne alles aus Ägypten mitgebracht hatten (V. 27). Sie erzählten ihm voller Freude über Josef und seine Einladung, nach Ägypten umzusiedeln. Selbst Benjamin bestätigte diese verrückte Geschichte. Da lebte der Geist Jakobs plötzlich wieder auf. Er sagte nur noch (V. 28): „Genug erzählt! Bringt mich nach Ägypten, denn ich will Josef sehen bevor ich sterbe!“ Hier wird Jakob mit dem neuen Namen „Israel“ benannt, den der Engel ihm nach dem Ringkampf gab (32,28-20). Mit dem Umzug nach Ägypten, wird das Volk Israel geboren. Ägypten ist sozusagen die Wiege Israels.

 

 Schlussfolgerungen

Auch wir werden einst verstummen, wie die Brüder Josefs, wenn Jesus sich zu erkennen gibt, bei seiner Wiederkunft (Röm. 3,19). Wie Josef über seine Brüder weinte und ihnen vergab, so weinte Jesus über den Untergang der Stadt Jerusalems (Mt. 23,37-38). Gott hat kein Wohlgefallen an Todesstrafen für Ungerechte, sondern ER ist voll Mitleid und Erbarmen und möchte nicht, dass eine Seele verlorengeht (2. Tim. 2,4; Joh. 3,16; Ez. 18,32; Jak. 5,11).

Die Brüder Josefs haben auf schmerzhafte Weise gelernt, wie zerstörerisch Eifersucht sein kann und wie ihre bösen Gedanken sie ein Leben lang quälten. Gottes Weisheit lehrt uns (Gal. 6,7-8): Alles was wir säen werden wir auch ernten. Darum, lasst uns Gutes säen, damit wir Gutes ernten, in diesem Leben und im Zukünftigen! Lasst uns eine vergebende Haltung pflegen wie Josef, der, durch seinen tiefen Glauben auf Eifersucht und Hass, seinen Brüdern mit Gnade und Vergebung begegnen konnte.

Unermüdliche Versöhnungsbemühungen und volle Vergebung sind für uns Christen ein Schlüssel zum Leben (Lk. 15,18-21; 2. Kor. 7,10; 1. Joh. 1,9). So wie Christus uns vergeben hat, so sollen auch wir einander von ganzem Herzen vergeben (Eph. 4,32). Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, dass wir an Gottes Vergebung glauben und uns selbst vergeben können.

Wer mit Gott wandelt, der schreibt alles, was er erlebt, Gottes Führung zu, seien es gute oder negative Erlebnisse. Gott erzieht uns zu unserem Besten, wie er das mit der Familie Jakob tat (Heb. 12,4-11). Darum, lasst uns dem Herrn vertrauen, dass alles zu unserem Besten dient (Röm. 8,28)!