Hesekiel-16: Jerusalem, die treulose Ehefrau

Die Herrlichkeit Gottes

 

 I.   Einleitung

In diesem Kapitel geht es hauptsächlich um die faszinierende Geschichte Jerusalems, die Hesekiel am Fluss Kebar in Babylon niederschrieb. Eine Geschichte, um ein verwahrlostes Neugeborenes, das auf der Strasse lag, um das sich niemand kümmerte, ausser einem Reisenden, der vorbeizog. Dieser Reisende war Gott, der sich Israel angenommen hatte, im fremden Land Kanaan. Er nahm sich dem Kind an, pflegte es und liess es zu einer wunderschönen Frau heranwachsen. Nachdem die junge Frau herangewachsen war, heiratete er sie. Doch, statt dem Mann dankbar zu sein, dass er ihr das Leben rettete und für sie sorgte, stolzierte sie umher und demonstrierte allen ihre Schönheit. Ja, noch schlimmer, sie wurde ihrem Ehemann untreu und entwickelte sich zur Hure. Der bekümmerte Ehemann musste zusehen, wie sie mit den Nationen um sie herum buhlte und Schande trieb. Gezwungener Massen griff der fürsorgliche Ehemann schliesslich ein, um ihre Würde vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Wer die krassen Kapitel des Propheten Hosea kennt, wird an die berühmte Liebesgeschichte mit einer Hure erinnert. Wie ein Echo widerhallt Hesekiels Kapitel von der Liebesbeziehung zwischen Gott und seinem Volk. Genauso verhielt es sich mit Hoseas Liebe zu seiner Frau Gomer, die nie aufhörte, wie Gottes Liebe zu seinem Volk Israel.

 

 II.   Verse 1-5: Geburt und Abstammung.

Hesekiel bekommt den Auftrag, den Einwohnern Jerusalems ihre Gräueltaten vorzuhalten, denn sie waren sich dessen nicht bewusst. Mit einer völlig falschen Selbsteinschätzung betrogen sie sich selbst (Jer. 6,15). Deshalb wurde Hesekiel beauftragt, das Volk aufzuklären, woher sie kamen und wie sie in Gottes Augen wandelten (siehe auch Lied Mose; Dt. 32!).

Die Herkunft der Stadt Jerusalem war ausländisch und abgöttisch. Sie entstand im Land Kanaan. Der Begriff „Kanaan“ steht für Götzendienst und Sittenlosigkeit. Deshalb ist ihr Charakter wie die ihrer Eltern. Kanaan ist das Land - der Amoniter (Ex. 23,23; Nu. 21,31; Jos. 24,8; Ri. 10,8) und der Hetiter (Jos. 1,4; Ri. 1,26).

Es geht hier nicht so sehr um die Abstammung aus Abraham! Vielmehr wird hier aufgezeigt, dass Gottes Volk sich in einem fremden Land integrieren und durchsetzen sollte. Sie kamen in ein Land mit multikulturellem Götzendienst. Da lebten die Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perissiter, Chiwwiter und Jebusiter (Ex. 3,8). Das sind alles Stämme, die sich im Land niederliessen und ihre eigenen Götter anbeteten. Jerusalem war besetzt von den Jebusitern, die zu den Hetitern gehörten (Jos. 15,63; Ri. 1,21, 3,5-6). In der Zeit Josuas war Adoni-Zedek König über Jerusalem. Adoni-Zedek verbündete sich mit verschiedenen Königen der Amoriter im Süden gegen die Israeliten und verlor die Schlacht zu Gibeon (Jos. 10,1-16). In der Richterzeit wird später erklärt, dass Israel die Stadt einnahm, so dass die Amoriter darin ausgelöscht wurden, doch die Jebusiter konnten nicht vertrieben werden (Ri. 1,8-36). Vollends eingenommen wurde die Stadt erst durch David, der aus ihr die Hauptstadt Israels machte (2. Sam. 5,6-12).

Von der Perspektive der Nationen her gesehen, war Jerusalem kein erwünschtes Kind. Das kommt in der Beschreibung der Geburt gut zum Ausdruck: Die Nabelschnur wurde nicht durchgeschnitten. Niemand wusch das Neugeborene mit Wasser. Es wurde auch nicht mit Salz abgerieben und in Windeln gewickelt. Salzbehandlungen waren im Altertum offenbar üblich, weil Salz eine reinigende Wirkung hat und das Kind auf diese Weise abgehärtet wurde. Dr. Masterman beschreibt den Brauch in Palästina: Sobald die Nabelschnur abgeschnitten war, wurde das Kind mit Salz eingerieben, mit Wasser gewaschen und mit Öl behandelt. Schliesslich wurde es für sieben Tage in Windeln eingewickelt. Dieser Prozess wurde 40 Tage lang ausgeführt. Kein Mensch hatte Mitleid und erbarmte sich dem Kind. Im Gegenteil, man warf das Neugeborene aufs freie Feld.

Hier kommt die tiefe Verachtung und Gleichgültigkeit zum Ausdruck, die die Nationen für die Stadt Jerusalem empfanden.

 

 III. Verse 6-7: Hilfe für das verwahrloste Kind.

Wie ein einfühlsamer Reisender, ging der Herr an dem strampelnden Neugeborenen vorbei, an dem niemand Interesse hatte. Es lag blutverschmiert am Boden, war krank und kurz davor zu sterben. Doch der Herr hatte Erbarmen mit dem Neugeborenen und sprach: „Du sollst am Leben bleiben!“ Gott allein bestimmt über Leben oder Tod eines Menschen. Gott bestimmt auch über das „Schicksal“ und Wachstum jeder Stadt, auf diesem Planeten. Ohne den Herrn geht gar nichts, auch in der örtlichen Gemeinde. Der Herr allein bestimmt darüber, ob der Leuchter einer Gemeinde stehen bleiben darf oder weggestossen wird (Offb. 2,5).

So bestimmte allein Gott darüber, dass die Stadt Jerusalem, wie eine Blume auf dem Feld, heranwachsen durfte. Der hoffnungslose Zustand Jerusalems war während einer Zeit, als die Israeliten bereits im Land wohnten, aber die Jebusiter noch nicht vertrieben hatten. Da sandte der Herr den tapferen Krieger David, um die Stadt endlich einzunehmen. Obschon seine Landsleute nicht daran glaubten, überwältigte David und seine Männer, mit des Herrn Hilfe, die Burg Zion (2. Sam. 5,7-10).

Die Stadt Jerusalem wird mit einem heranwachsenden jungen Mädchen verglichen, das sehr schön und überall bekannt (berühmt) war. Schlank und schön geformt war sie, mit prallen Brüsten und langen Haaren. Doch sie war nach wie vor nackt, das heisst schutzlos, hilflos, wehrlos. David baute in Jerusalem einen schönen Palast, mit Zedernholz aus Tyrus (2. Sam. 5,11). Er schlug die angreifenden Philister (2. Sam. 5,17-25). Er brachte die Bundeslade (die Gegenwart Gottes) ins Lager zurück, wo sie in Jerusalem ihren festen Platz erhielt (2. Sam. 6).

 

 IV. Verse 8-14: Gesegnet wie eine Königin.

Als ob Gott für eine kurze Zeit weg war und dann wieder kam, ging er an der herangewachsenen jungen Frau erneut vorüber und stellte fest, dass sie paarungsbereit, doch noch immer nackt war. Führsorglich und mit Anspruch auf Besitz, ging der Herr wie ein Mann (damals) zu ihr hin und bedeckte ihren nackten Körper (Rut 3,9). Damit bezeugte er, dass er sie zur Frau nehmen und für sie sorgen würde. Er schloss mit ihr einen Bund fürs Leben und schwor ihr die Treue.

In dieser Darstellung geht es eigentlich nur um die Stadt Jerusalem. Gott machte aber nicht bloss mit der Stadt Jerusalem einen Bund, sondern mit dem ganzen Volk Israel (Ex. 19,5-6). Hinzu kommt, dass der Herr schon vor langer Zeit mit Abraham, Isaak und Jakob einen Bund schloss (Gn. 15,8-18). Um diese Darstellung mit der ganzen Geschichte Israels zu verknüpfen, müssen wir ein bisschen flexibel sein. Es scheint sehr passend zu sein, wenn wir dieses nackte Mädchen mit der gesamten Zeit Israels vergleichen, beginnend mit der ägyptischen Knechtschaft. Nach den zehn Plagen, adoptierte Gott Israel zu seinem Volk: Ex. 6,2-8. Erst mit dem Auszug aus Ägypten, handelte der Herr an seinem Volk gemäss seinem Bund, indem er diese Worte sagte: „Du sollst am Leben bleiben!“

Als der Herr seinen Bund mit Israel in die Tat umsetzte, bewies er ihr seine ganze Liebe, wie ein hingebungsvoller Ehemann.

In den folgenden Versen wird eindrücklich geschildert, wie er ihr diente und sie an nichts mangeln liess: Sie wurde gebadet und von ihrem Blut gereinigt, das sie sich durch ihre Wunden auf offenem Feld zuzog. Sie wurde mit Öl eingesalbt, d. h. sie erhielt auch medizinische Behandlung. Er kleidete sie mit bunten Stoffen, mit mehrfachen Farben, wie sonst nur Königinnen mit grossem Reichtum gekleidet waren (Ps. 45,13-14; Ri. 5,30). Ihre Sandalen wurden aus „Tachasch“ hergestellt (aus demselben Material wie man das heilige Zelt überdeckte; Dachs- oder Seehundsfell; Nu 4,6-25; Ex. 26,14). Dachsfell (KJV: badgers skin). Seehundsfell (in alter Zürcherbibel Übersetzung). Mit hochwertigem Leinen wurde ihr Kopf bedeckt. Als Umhang trug sie feinste Kleiderstoffe, wie z. B. Seiden. Sie bekam wertvollen Schmuck, Spangen an beiden Armen und eine Halskette. An der Nase und an den Ohren wurde sie mit je einem goldenen Ring geschmückt (das waren ganz bestimmt nicht die billigen Piercings, die heute getragen werden). Schliesslich wurde sie mit einer prachtvollen Krone gekrönt, die die schönsten Edelsteine enthielt. Gleichzeitig ernährte sie sich mit den damals kostbarsten und teuersten Nahrungsmitteln auf dem Markt, wie Weizengriess, Honig und Öl (Dt. 32,13).

Gott segnete Jerusalem nur mit dem allerbesten: Hosea 2,10 (alt: 2,8). All die Segnungen des Herrn machte Jerusalem zu einer attraktiven Stadt von internationaler Berühmtheit. Aus der Geschichte geht deutlich hervor, dass alle diese Segnungen von Gott kamen und unverdient waren.

 

 V.  Verse 15-22: Undankbar der Hurerei verfallen.

Diese Verse sind überflutet mit dem Wort „Hurerei“ (14x), mit Begriffen, die unter der Gürtellinie liegen und uns in Scham versetzen. Auf krasse Art versucht Gott seinem Volk klarzumachen, wie sehr es sich versündigte und ihn damit zutiefst verletzte.

All die Geschenke, die Gott seinem Volk gab, missbrauchte es zum Götzendienst. Die kostbaren Gewänder wurden missbraucht, um die Kultstätten auf den Höhen zu schmücken (2. Kön. 23,7: Die Frauen woben Gewänder für die Aschera).

Aus dem Reichtum Jerusalems wurden männliche Figuren hergestellt (weil Jerusalem als Frau dargestellt wird, sind ihre Götzen männlich). Die gestickten Gewänder, das kostbare Öl und das Räucherwerk, das dem Herrn dienen sollte, wurden für die Götzen verwendet. Gott gab ihr Kleider, die für die Hochzeit bestimmt waren (V. 9-10). Stattdessen brauchte sie sie, als ob sie einen andern Mann heiraten würde. Sie warf sich jedem an den Hals, der ihr über den Weg lief.

Und als ob die Hurerei noch nicht genug wäre, schlachtete sie ihre Söhne und Töchter den nichtigen Götzen (20,31). Auch der Zeitgenosse Jeremia spricht von Kindern, die den Göttern als Brandopfer dargebracht wurden (Jer. 7,31; 19,5; 32,35). Der Prozess für Kinderopfer war unterschiedlich: In einigen Fällen wurden Kinder lebend auf dem Altar verbrannt. In andern Fällen wurden ihre Körper zuerst geschlachtet und dann als Brandopfer dargebracht. Vom König Josia heisst es (2. Kön. 23,10): „Und er entweihte das Tofet [das ist die Kultstätte], die im Tal Ben-Hinnom lag [südlich Jerusalems], damit niemand mehr seinen Sohn oder seine Tochter für den Moloch durchs Feuer gehen liess.“ Besonders unter König Ahab (2. Kön. 16,7) und Manasse (2. Chron. 33,6) wurde das praktiziert. Den Königen im Norden, die 150 Jahre früher regierten, werden solche Gräueltaten zur Last gelegt (2. Kön. 17,17). Dabei hatte der Herr die Israeliten, schon bevor sie das verheissene Land betraten, ganz klar angewiesen, dass er es niemals sehen will, dass Kinder dem Moloch geopfert werden (Lv. 20,1-5). Wer solches verübt, soll gesteinigt werden. Wenn aber das Volk dafür keine Todesstrafe verhängt, dann wird der Herr höchstpersönlich kommen und den Bann an diesem Mann (d. h. an dem Familienvater, als dem Haupt) vollstrecken.

Wie konnte das Volk Gottes sich auf solche primitive Praktiken der Naturvölker einlassen? Kinder sind doch ein Segen Gottes! Sie gehören dem Herrn und nicht den Eltern. Eltern sind nur Verwalter der Kinder, die Gott ihnen für eine bestimmte Zeit zuordnet. Das hat sich bis heute nicht verändert! Jede Mutter und jeder Vater muss sich heute fragen: Wem oder für was gebe ich mein Kind hin? Gebe ich es hin, damit es einmal berühmt wird? Opfere ich es dem Sport, der Politik oder ganz allgemein dem Erfolg in dieser Welt? Erziehe ich es so, dass es sich einmal mit einem Gottlosen vermählt oder erziehe ich es bewusst für den Herrn? Unsere Kinder gehören ganz allein dem Herrn und niemandem anders! Wenn wir sterben, dann gehen alle Seelen zurück zu Gott.

Wie die Israeliten damals, besitzen auch wir Gottes Instruktionen und Warnungen! „Denn über die Zeiten der Unwissenheit sieht Gott nun hinweg und ruft jetzt alle Menschen überall auf Erden zur Umkehr“ (Apg. 17,30). „Seid also nicht unverständig, sondern begreift, was der Wille des Herrn ist“ (Eph. 5,17). Denn Gott will, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Tim. 2,4).

Der Herr fragt Jerusalem: Hast du vergessen, woher du kamst? Hast du vergessen, dass du nackt und hilflos in deinem Blut auf offener Strasse lagst? Das ist auch eine wichtige Frage, die wir uns stellen sollten, damit wir nicht undankbar werden, denn wir sind adoptierte Kinder Gottes (Eph 1,5; Röm 8,15).

 

 VI. Verse 23-34: Wehe dir, Jerusalem!

Der Herr sagt zu Jerusalem: „Wehe dir, denn du steckst in grosser Schuld! Wehe dir, weil du deine Schuld nicht einmal einsiehst!“

Im ganzen Land gab es Kultstätten mit Dächern, unter denen sakrale Prostitution oder Zeugungsriten stattfanden (6,13). Jerusalem war wie eine Hure, die für jeden Dahergelaufenen ihre Beine spreizte. Sie trieb Hurerei mit den Ägyptern (V. 26), den Philistern (V. 27), den Assyrern (V. 28) und den Babyloniern (V. 29). Die Ägypter mit dem grossen Glied bedeutet, dass sie besonders lustvoll waren (wie heute die Deutschen in Thailand). Sie hat ihre Schönheit missbraucht und ist zu einer abstossenden Hure verkommen. Zudem hat sie den Herrn zutiefst gekränkt.

Sie liess sich auf religiöser und politischer Ebene mit ihren Nachbarn ein. Einerseits passte sie sich ihren Göttern und ihrem Glauben an. Andererseits machte sie politische Allianzen mit den Nachbarstaaten. Diese Allianzen waren oft ein Fluch und gaben Israel nicht die gesuchte Sicherheit (Jes. 20,5-6; 30,1-5; 31,1; Hos. 7,11; 12,1).

In Kapitel 17 klagt Hesekiel die Allianz zwischen König Zedekia und Ägypten an. Niemals hätte es dazu kommen dürfen, denn sie war verhängnisvoll und brachte die Zerstörung über Jerusalems mit sich (587 v. Chr.). Als Zedekia Ägypten um Hilfe bat, wegen der babylonischen Übermacht, von der er bedroht wurde, da war es bereits zu spät. Zu diesem Zeitpunkt hätte Ägypten nichts für Jerusalem tun können, auch wenn sie es gewollt hätte. Doch eine Allianz mit Ägypten war ein Treuebruch gegenüber Gott. Damit offenbarte Israel ihren Mangel an Glauben und Vertrauen zu Gott.

Deshalb streckt Gott nun seine drohende Hand aus gegen Jerusalem (25,7). Er nimmt ihr weg, was ihr zugestanden hätte. Er liefert sie den gierigen Philisterinnen aus, die sie hassen. Sogar sie verabscheuten Jerusalems schamlose Hurerei. Der Hass der Philister gegen Israel ist im ganzen AT dokumentiert. Fremde Nationen sahen zu, wie unbeständig Israel von einem Gott zum andern wechselte. Diese heidnischen Nationen waren viel loyaler zu ihren Göttern, als Israel zum ihrem lebendigen Gott.

Die Verbündung mit Ägypten war unbefriedigend. Deshalb wandte sich Israel an die Assyrer (2. Kön. 16,7-8; Hos. 5,13; 8,9). Doch als die Assyrer sie nicht genügend befriedigen konnte, wandte sie sich an die Kaldäer (2. Kön. 20,12-13), das Land der Kaufleute. Kaldäa (neu: Kasdäa oder Babylonier) war ein hoch produktives Land, geschäftlich wachsend und lukrativ.

Doch Israel war nymphomanisch (kriegte nie genug) in religiöser und politischer Hinsicht. Sie hatte ein Herzproblem, denn von brennender Begierde beherrscht, trieb sie es schlimmer als die schlimmste Hure. Gott klagt über die verdorbenen Menschen, denen nichts mehr heilig war. Jerusalem war eine ehebrüchige Frau, die zu einer verabscheuungswürdigen Hure wurde. Verabscheuungswürdig deshalb, weil sie, im Gegensatz zu anderen Huren, keine Diskretion und Privatsphäre mehr kannte. Alle wussten es und sahen zu, was Jerusalem trieb. Normalerweise ist es so, dass eine Hure für ihre Dienste Geld einfordert. Israel aber ging so weit, dass sie von ihren Freiern nicht einmal mehr Geld oder Geschenke entgegennahm. Im Gegenteil! Sie beschenkte ihre Freier mit Geld und bestach sie, damit sie von überall herkamen, um mit ihr zu huren.

Was für eine Ehebrecherin! Was für ein Skandal! Hurerei könnte ein profitables Geschäft sein. Die meisten Huren tun dies des Geldes wegen. Doch Israel war bereit, ihre Freier zu bezahlen. Israel kannte keine moralischen Grenzen mehr. Sie verliess den Herrn und trat den heiligen Bund Gottes mit Füssen. Das musste geahndet werden!

 

 VII. Verse 35-43: Das Ende der Hure und ihrer Stadt.

„Darum“ kündigt die Schlussfolgerung an. Gott bezeichnet Jerusalem als Hure. Es wird zwar nirgends gesagt, dass Israel buchstäblich Unzucht beging, aber zum Götzendienst gehörten solche Praktiken dazu (z. B. Tempelprostitution, männlich und weiblich). Gott ruft die Hure auf, gut zuzuhören, was ER ihr zu sagen hat! (6,3; 13,2; 21,3; 25,3; 34,7.9; 36,1.4; 37,4).

Denn Jerusalem ist unrein geworden, wie die Monatsblutung einer Frau (36,17; Lv. 15,19-24). Doch, statt sich zu bedecken, buhlt sie weiter und kennt keine Scham. Sie entblösst sich weiter vor ihren Liebhabern und ihren Mistgötzen, denen sie ihre Kinder schlachtet.

Gott ruft alle Liebhaber Jerusalems zusammen, die Geliebten und die Verachteten. Das heisst, sie liess sich sogar mit Nationen ein, die sie hasste. Sie alle sollen kommen und gegen die Stadt aussagen. Dann sollen der Hure, vor den Augen aller, die Kleider ausgezogen werden, damit jeder ihre Blösse sieht (Hos. 2,12; Nah. 3,5; Jer. 13,22.26). Seit Adam und Eva im Paradies gesündigt hatten, schämte sich der normale Mensch vor andern nackt zu sein. Wie schlimm muss ein Vergehen sein, bis ein Ehemann eine solche Schande mit seiner Frau zulassen würde. Doch Gott wurde zutiefst verletzt und erlebte eine schreckliche Ehekrise mit Israel. Wie jeder Ehemann oder jede Ehefrau sich einen treuen Partner wünscht, so wünschte sich Gott einen verlässlichen Partner. Er wollte, dass sein Volk den Namen fremder Götter nicht einmal auf den Lippen trug, verschwiegen dann anbetete (Ex. 23,13): „Und ihr sollt achtsam sein bei allem, was ich euch gesagt habe. Den Namen anderer Götter sollt ihr nicht nennen, er soll nicht gehört werden aus deinem Mund.“ (Weitere Stellen: Dt. 12,30; Jos. 23,7; Hos. 2,17; 13,4; Ps. 16,4).

Das Urteil für Jerusalem lautet einstimmig: schuldig! Wie Mörderinnen und Ehebrecherinnen sollte sie verurteilt werden. Gemäss Gesetz lastete, auf Mord oder Ehebruch, die Todesstrafe (Lv. 20,10; Dt. 22,23-24). Doch Gottes Gnade lässt es nicht zu, dass die Nation völlig zerstört wird, doch sein Zorn und seine Eifersucht rufen nach Gerechtigkeit.

Gott wird Jerusalem in die Hände seiner Liebhaber geben, die folgendes mit ihr tun werden: Sie werden die Kultstätten mit den Hurenaltären zerstören. Sie werden ihr die Kleider vom Leib reissen und ihren prächtigen Schmuck wegnehmen, der von der Liebe ihres Mannes zeugt. Sie werden sie nackt und hilflos liegen lassen, wie am Anfang, als Gott sie fand. Sie werden die Volksmenge wider sie aufhetzen, die sie steinigen (damit ist Nebukadnezars Armee gemeint, 17,17; 38,4). Sie werden sie mit ihren Schwertern zerstückeln. Sie werden ihre Häuser niederbrennen (23,47; 2. Kön. 25,8-9). Sie werden vor vielen Frauen das Urteil vollstrecken, damit es allen eine Lehre sein wird.

Dann wird sich Gott beruhigen und der Zorn legen. Dann wird die Eifersucht Gottes weichen. Dann wird Jerusalem aufhören, herum zu huren. Dann ist der Stadt Gerechtigkeit widerfahren.

 

 VIII. Verse 44-58: Die Schwestern sind gerechter.

Hesekiel gebraucht hier ein zweites Gleichnis und verlinkt es mit dem ersten. Das Thema lautet: Judas Gräueltaten. Die Lektion bleibt dieselbe: Judas Gräueltaten aufdecken.

Juda kommt aus einer gottlosen Familie: Der Vater war ein Amoriter. Die Mutter, eine Hetiterin, verachtete ihren Mann und ihre Kinder, wie die Tochter das nun tut. Im Volksmund würde man sagen: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Juda verübt dieselben Gräueltaten wie ihre Mutter und ihre Schwestern, die beide deswegen bereits umkamen. Die kleinere Schwester ist Sodom (im Süden). Doch Juda ist verdorbener als die gottlose Stadt Sodom. Sodom war ja bekannt für Homosexualität (Gn. 19,5) und sexuelle Perversionen (Lv. 18,22; 20,13). Sodom schwelgte auch sorglos in ihrem Wohlstand. Sie kümmerte sich nicht um die Armen. Sie war arrogant und stolz in ihrem Erfolg. Trotzdem wird Juda zur Last gelegt, dass sie noch schlimmer sei. Die grosse Schwester ist Samaria (Nordstämme). Juda handelte abscheulicher mit ihrem Götzendienst als Samaria (Jer. 3,11). Mit ihrer Gottlosigkeit gab sie Samaria allen Grund zur Rechtfertigung. Juda schaffte es, dass Samaria neben ihr noch gut aussah. Sie löste die Frage aus, ob Gott noch gerecht sei: Samaria liess er untergehen. Juda liess er bestehen.

Gott verspricht deshalb, dass es Juda ergehen wird, wie ihren beiden Schwestern. Dabei muss Gott mit Sodom grosszügiger umgehen, wenn er mit Juda gnädig sein will. Eigentlich galt Sodom als abschreckendes Beispiel, das Gott vollständig zerstören wollte. Doch, wenn er Juda für kurze Zeit ins Exil führt, dann hätte er auch Sodom die Gelegenheit geben müssen, ins Exil geführt und später wieder heimgelassen zu werden. Jeremia prophezeite die Wiederherstellung von Israels Nachbarn (Jer. 12,14-17; 48,47; 49,6.39). Beide wurden in die Gefangenschaft geführt und später wieder befreit. Vielleicht sind diese Aussagen ein Hinweis auf den Messias, der Juden und Heiden vereinen wird (37,22). Juda kommt auf jeden Fall nicht darum herum, für ihre Schandtaten und Abscheulichkeiten zu büssen. Juda fühlte sich so viel besser als Sodom und Samaria. Ihre Selbstgerechtigkeit war so abstossend, dass ihr endlich einmal jemand die Wahrheit sagen musste.

 

 IX. Verse 59-63: Gott bleibt treu.

Der allmächtige Gott schloss mit seinem Volk einen Bund (Dt. 29,11-14). Einen Bund, der nicht nur für die damalige Generation galt. Einen Bund, der auch denen galt, die damals noch gar nicht geboren waren. Dieser Bund versprach allen Generationen Israels grossen Segen, die sich an ihn hielten. Allen aber, die sich nicht an ihn hielten, wurde er zum Fluch. Weil Israel diesen Bund verschmähte, wurde es von Gott zurückgewiesen. Jeder Bund beruht auf Gegenseitigkeit; weil Israel ihn brach, hörten Gottes Segensversprechungen auf.

Die Zerstörung Jerusalems war unvermeidbar, trotzdem war noch nicht alles verloren! Denn Hesekiels Prophetie richtet sich nun auf die Zeit nach der Zerstörung der Stadt und dem Exil der Bewohner. Offenbar plant Gott eine neue Beziehung zu seinem Volk, eine Beziehung, die auf Mitleid und Vergebung basiert. Jeremia, der während derselben Zeit predigte, kündete diesen neuen Bund an, der kommen wird (Jer. 31,31-34). Dieser Bund weist auf den Bund Christi hin, im Neuen Testament (Heb. 8,8-13). Auch Hesekiel spricht später (Kap. 34) von diesem neuen Bund. Doch das Versprechen, das hier in Hesekiel 16,60 gemacht wird, bezieht sich mehr auf die Zeit, in der die Gefangenschaft im Exil vorbei sein würde. Denn es wird hier von einem Bund gesprochen, an den sich Gott erinnern wird, als Juda noch jung war, als sie noch in ihrer Jugend steckte und mit Gott einen Bund schloss. Es kann hier also nicht der neue Bund in Christus gemeint sein. Es geht hier vielmehr um den bestehenden Bund, der am Sinai geschlossen wurde, der wiederhergestellt werden soll. Dies fand später statt, unter der Leiterschaft von Esra und Nehemia.

Gott sagt mit andern Worten zu Israel: „Obschon du ungehorsam warst und mir untreu wurdest, will ich den Bund erneuern, den ich mit dir gemacht habe. Dann wirst du erkennen, dass ich der Herr bin. Denn es geht mir nicht darum, dich zu richten, sondern dich zu erziehen. Es geht mir darum, dir gegenüber meine Liebe zu erweisen.“ Dann sagt Gott weiter: „Wenn du dich an den Bund erinnerst, wirst du dich schämen (20,43; 36,31). Doch alles, was du getan hast, werde ich dir vergeben.“

Der Herr warnte Israel so oft vor der Gefahr, den Bund mit IHM zu vergessen und zu brechen (Dt. 8,2-20; 16,12). Immer wieder erinnerte Gott sein Volk an den Bund (Gn. 9,15-17; Ex. 2,24; 6,5; Lv. 26,42-45), doch es war vergebens! Obschon Jerusalem abscheulicher handelte, als seine Schwestern Samaria und Sodom, stellte der Herr sie höher. Später wurden diese Städte nicht mehr länger Schwestern genannt, sondern Töchter. Denn als Töchter mussten sie sich unterordnen und standen unter Israels Rechtsurteil. Israel hatte keinen Anspruch auf Vergebung, trotzdem war Gott willig zu vergeben und an Israel seine grosse Gnade zu erweisen. Was für ein eindrückliches Beispiel, das uns Gottes barmherzigen Charakter offenbart!

 

 X.  Schlussfolgerungen zu Kapitel 16:

Können wir Gott verstehen, wenn wir diese Erzählung hören von der treulosen Ehefrau? Können wir mitfühlen, was es für den Herrn bedeutete, sein Volk an die toten Götter zu verlieren? Verstehen wir seinen Zorn und seine Eifersucht? Natürlich können wir das! Wir können Gott sehr gut verstehen! Er tut uns leid, dass der Herr an ein so herzloses und treuloses Volk geraten ist. Das hat der fürsorgliche Vater im Himmel in keiner Weise verdient!

Und was ist mit uns? Waren wir nicht alle auch einmal hilflos und verlassen, ohne Gott? Auch wir lagen nackt auf dem Boden und drehten uns in unserem Blut der Sünde. Als der Herr an uns vorüberging, sah er uns und hatte Mitleid. Er sagte auch zu mir und dir: „Du sollst am Leben bleiben!“ Er gab uns zu Essen und zu Trinken, damit wir zu Kräften kommen. Er bekleidete uns mit einem glänzenden Leinengewand und sorgte für uns in jeder Hinsicht, so dass wir heranwachsen und innerlich schön werden durften. Galater 4,4-7: „Als sich aber die Zeit erfüllt hatte, sandte Gott seinen Sohn, zur Welt gebracht von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, um die unter dem Gesetz freizukaufen, damit wir als Söhne und Töchter angenommen würden. Weil ihr aber Söhne und Töchter seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, den Geist, der da ruft: Abba, Vater! So bist du nun nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe – durch Gott.” Jesus Christus hat uns schliesslich zu seiner Braut gemacht, die er liebt, die er geheiligt und gereinigt hat, indem er sich für sie hingab am Kreuz (Eph. 5,25-27). Wenn Gott die Geschichte seiner Liebe zu uns zusammenfassen würde, wäre sie anders, als die Geschichte, die Hesekiel erzählte?

Darum, lasst uns ehrlich sein zu uns selbst und fragen: Sind wir wie Israel geworden? Vertrauen wir auf unsere innere Schönheit, indem wir von uns selbst halten, dass wir eigentlich recht gute Menschen sind und merken nicht, wie sehr wir uns bereits von Gott entfernt haben? Haben wir Gottes Segnungen missbraucht, indem wir Geld und Kräfte für weltliche Ziele und Wünsche einsetzten statt für Gott, der uns zu der Person gemacht hat, die wir heute sind? Haben wir Gottes Liebesherz auf irgendeine Weise verletzt, oder IHM gar den Rücken zugekehrt? Sind wir uns bewusst, dass wir so wie wir unseren Bruder oder unsere Schwester im Herrn behandeln, Gott behandeln? Jesus sagte (Mt. 25,40): „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Ich bin Gott dankbar für diesen Text. Denn er schenkt mir eine neue Wertschätzung für den einfühlsamen Schöpfergott und seine Agape-Liebe. Bevor ich über den Bewohnern Jerusalems den Stab breche, möchte ich in mich kehren und erkennen, dass auch ich der Gefahr ausgesetzt bin, nicht mehr auf Gottes Wort zu hören und den Bund mit IHM zu brechen (Heb. 3,7-19). Gott hat alles für mich getan „was für das Leben und die Frömmigkeit nötig ist“ (2. Pet. 1,3). Jetzt liegt es an mir, dass ich niemals vergesse, woher ich gekommen bin: „Ich will singen dem Herrn, mein Leben lang, ich will loben meinen Gott, solang ich bin“ (Gemeindelied 73). Gottes Botschaft an Hesekiel lebt noch heute und hilft uns niemals zu vergessen, die Tage unserer Jugend, in der wir nackt und hilflos am Boden lagen und uns in unserem Blut der Sünde wälzten. Selbst, wenn wir heute uns bewusst werden, dass wir Gott vernachlässigt haben, so ist es nicht zu spät, umzukehren und dem Herrn zu danken, denn er wird einen einsichtigen Sünder niemals zurückstossen, sondern immer wieder einen Weg finden, seinen Bund mit zu erneuern (Heb 4,16)!