Sauerteig-05: Die Traditionen der Väter

Hütet euch vor dem
Sauerteig der Pharisäer!

 

 

Die Pharisäer klagten Jesus an, gegen die Traditionen der Ältesten oder „Überlieferung der Alten” zu verstossen (Mt 15,2; Mk 7,3-5). Diese Beschuldigungen bildeten die Grundlage aller Auseinandersetzungen und religiösen Diskussionen, die zur totalen Verhärtung der Juden führten. Die Pharisäer duldeten keine anderen Ansichten und Handlungen, die sich nicht an die Traditionen ihrer Väter hielten. Für sie entsprachen ihre menschlichen Überlieferungen der absoluten Wahrheit und galten als genauso wichtig wie die inspirierten Schriften.

Die Frage nach der göttlichen Autorität ist ein uraltes Problem, das heute noch aktuell ist. Immer wieder haben Menschen geredet und beanspruchten göttliche Autorität. Viele meinen heute noch, sie seien von Gott bevollmächtig, in seinem Namen zu reden und neue Gebote aufzustellen. In ihrem Hochmut überheben sie sich über Gott und über alle Menschen.

Viele Menschen meinen, die göttliche Inspiration der Bibel anzuerkennen. Trotzdem halten sie sich an Bräuche und Verhaltensregeln, die der Bibel fremd sind. Wie kommt es, dass zum Beispiel ein führender „Geistlicher” sich als „Vater” verherrlichen lässt (Mt 23,9), obschon er ein „Junggeselle” ist. Ein gewöhnlicher Prediger wird als „Pastor” (= Hirte) oder „Pfarrer” angesprochen, der im biblischen Sinn ein verheirateter Ältester oder Bischof mit gläubigen Kindern sein müsste (1Tim 3,1). So wurden Titel und Ansprachen neu definiert und bis zur Unkenntlichkeit abgeändert und entstellt. Trotzdem berufen sich viele auf die Autorität der Heiligen Schrift. Man kann also die heiligen Schriften als göttlich inspirierte Autorität anerkennen, aber trotzdem nicht in der Lage sein, ihre geltenden Gebote und Bestimmungen in der heutigen Zeit biblisch korrekt anwenden. Genau das geschah schon damals mit den Pharisäern, die sich auf ihre menschlichen Traditionen beriefen, statt auf die Tora (die Bücher Mose). Jeder, der sich nicht an die neu definierten menschlichen Ansichten hielt, wurde gnadenlos als Ketzer bis zum Tod verfolgt.

Die Frage der Vollmacht
Die Pharisäer und die Sadduzäer waren sich häufig über die Frage der religiösen Vollmacht uneinig. Beide akzeptierten die Tora (fünf Bücher Mose) als verbindlich, wie alle jüdischen Sekten. Sie waren sich jedoch häufig uneinig über die Anwendung der Tora auf aktuelle Lebenssituationen und Bedürfnisse.

Das Judentum veränderte sich über all die Jahrhundert hinweg völlig. Die Juden hatten zur Zeit Mose ganz andere religiöse Bedürfnisse und Vorstellungen, als die Juden vor - oder nach der babylonischen Gefangenschaft. Seit der babylonischen Gefangenschaft lebten viele Juden ausserhalb Palästinas in der Diaspora. Die Diaspora bezeichnet fromme Juden, die zerstreut in anderen Ländern lebten. Im ersten Jahrhundert nach Christus lebten jüdische Kolonien überall in der zivilisierten Welt.

Die religiösen Bedürfnisse und Umstände der Juden in der Diaspora unterschieden sich völlig von denen der palästinensischen Juden damals. Für viele in der Diaspora waren Pilgerreisen zu den religiösen Festen in Jerusalem unmöglich. Der Tempel stand ihnen für den Opferkult nicht zur Verfügung. Das Leben inmitten heidnischer Bevölkerungsgruppen veränderte ihre sozialen Verhältnisse radikal. Wie konnte die Diaspora bestimmen, was religiös richtig war, wenn nicht einmal die Tora auf ihre besondere Situation einging? Wenn die Tora zu einem religiösen Thema oder einer moralischen Frage schweigt, wie konnte dann autoritativ bestimmt werden, was religiös richtig war?

Die Pharisäer gingen dieses kritische Problem auf folgende Weise an. Erstens betrachteten sie die Schriften (Ketuwim) und die Propheten (Newiim) als Kommentare und Interpretationen der Tora (Pentateuch). Sie betonten, dass es wichtiger sei, die Bedeutung der Tora zu verstehen, statt sich am Buchstaben der Tora zu orientieren. Zweitens galt für sie das mündlich überlieferte Gesetz der Väter (menschliche Traditionen). So konnten sie besser auf die Fragen und Bedürfnisse der sich verändernden Welt eingehen. Für die Pharisäer gab es zwei gültige Quellen der Autorität: das schriftliche Gesetz Mose und die mündlichen Überlieferungen der Väter. Sollten Widersprüche auftreten, hatte das geschriebene Gesetz Vorrang.

Der Pharisäer und die Tradition
Die Meisten verstehen heute nicht, was die Pharisäer als Tradition bezeichneten. Die heutige religiöse Bedeutung dieses Wortes hat mit der Bedeutung, die es für die Pharisäer hatte, wenig gemein. Die Pharisäer behaupteten, das Gesetz am Sinai sei auf zwei Arten entstanden. Erstens, in der schriftlichen Form, wie es Mose aufzeichnete und zweitens in einer mündlichen Form. Die schriftliche Form wurde von Schriftgelehrten durch sorgfältige Arbeit bewahrt und kopiert. Ebenso wurde auch die mündliche Form von treuen Menschen überliefert, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Weil sie uralt sind, beanspruchen für sie beide Überlieferungen göttliche Autorität. Doch, die Behauptung, das mündliche Gesetz sei uralt, beruht auf einer falschen Annahme.

Die Pharisäer vertraten die irrtümliche Auffassung, dass Gott mit der Tora alle Lebenssituationen regeln wollte. Deshalb galt es ohne Rücksicht von Aufwand und Kosten, die Tora als Weisheit Gottes zu bewahren. Damit die Tora jedoch das gesamte Leben regeln konnte, musste sie interpretiert werden. Damit wollte das Judentum eine lebendige Religion bleiben, die sich den unterschiedlichen Bedürfnissen und Zeiten der Menschen anpasste. Somit wurde das mündliche Gesetz die Auslegung der schriftlichen fünf Bücher Mose.

Das mündliche Gesetz oder die mündliche Tradition bestand aus Weisheiten, Gewohnheiten oder Ritualen, die von grossen Gelehrten ihrer Zeit aufgestellt wurden. Das ausgeklügelte System religiöser Grundsätze und Vorschriften sollten dem Glauben Hilfe und Orientierung in allen Lebensbereichen geben. Es gab zum Beispiel Antworten auf folgende Fragen: „Was soll ich in dieser oder jener Situation tun? Wie halte ich das Gesetz in dieser oder jener Angelegenheit richtig ein? Wie erfülle ich in dieser oder jener Situation meine religiöse Verantwortung?“ So legte das ungeschriebene Gesetz fest, wie das schriftlich überlieferte Gesetz Mose in praktischen Alltagssituationen gehalten und ausgeübt werden sollte.

Das mündliche Gesetz war umfassender und ausführlicher als das geschriebene Gesetz. Es entstand aus den Fragen und Bedürfnissen der Juden und veränderte sich mit der Zeit. Das mündliche Gesetz diente also einerseits der Auslegung und Anwendung der geschriebenen Überlieferung und ergänzte es. Die mündliche Anleitung wird als Mischna bezeichnet. Sie wurde zunehmend als verbindliche religiöse Vorschrift betrachtet, unabhängig davon, was das schriftliche Gesetz zu sagen hatte. So entstand aus der Liebe und Ehrfurcht vor dem Wort Gottes eine menschliche Tradition, die von der wahren Quelle immer mehr abwich. Schriftgelehrte und Rabbiner taten dies nicht aus Missachtung oder bewusster Manipulation, um vom Gesetz Mose abzuweichen, sondern aus falscher Motivation. Für die Pharisäer waren ihre menschlichen Traditionen und die Tora Mose unzertrennbar. Sie stammten aus derselben göttlichen Quelle und verfolgten denselben Zweck.

Das mündliche Gesetz
Die Pharisäer betrachteten die Heiligen Schriften mit grosser Ehrfurcht und Respekt. Deshalb bauten sie mit ihren menschlichen Traditionen sozusagen einen Zaun um das Gesetz Mose. Damit wollten sie das Gesetz durch ihre mündlichen Überlieferungen schützen. Das umfassende System von Vorschriften, das sie durch ihre mündlichen Gesetze schufen, sollte verhindern, dass jemand gegen die Heiligen Schriften verstösst. Diese Vorschriften dienten als Sicherheitsschranken, um nicht über das Gesetz hinauszugehen. Damit sollten diese mündlichen Vorschriften die Einhaltung der Tora garantieren. Grundsätzlich ein guter Gedanke, der aber letztendlich dem inspirierten Wort Gottes nicht die nötige Vollmacht und Überlegenheit zutraut. Der Mensch wollte es einmal mehr besser wissen als Gott und alles selber in die Hand nehmen.

Das levitische Gesetz wurde buchstabengetreu bis ins kleinste Detail befolgt. Auf die rituelle Reinheit wurde grossen Wert gesetzt. Deshalb fragten Schriftgelehrte und Pharisäer Jesus, weshalb seine Jünger mit ungewaschenen Händen assen (Mk 7,3). Ohne rituelle Reinigung eine Mahlzeit einzunehmen war für sie eine Übertretung des Gesetzes. Doch Jesus hielt nicht an der „Überlieferung der Alten” fest, sondern allein am Gesetz Mose. Er hätte niemals das vollkommene Opfer für unsere Sünden sein können, wenn er das Gesetz übertreten hätte.

Das Gesetz Mose legte die Lebensmittel fest, welche rein und zum Verzehr geeignet und welche unrein und verboten waren (Lev 11). Auch der Zehnte wurde durch das Gesetz geregelt und von den Pharisäern peinlich genau eingehalten und durchgesetzt (Dtn 14,22). Jesus klagt sie an, weil sie viel wichtigere Forderungen des Gesetzes, wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue, ausser Acht liessen (Mt 23,23). Mit ihren Traditionen betonten sie rituelle Reinigungen und dergleichen und vernachlässigten die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Gott im Gesetz Mose auch vorgesehen hatte.

Die Traditionen, die zur Bewahrung des Gesetzes (Tora) aufgestellt wurden, basierten auf alten Bräuchen oder Prinzipien, die als „Dekrete“ (Gezerot) und „Erlasse“ (Takkanot) bekannt waren. So verlangte die Tora zum Beispiel, dass einer Frau zum Zeitpunkt der Scheidung ein schriftlicher Scheidungsbrief ausgehändigt wird (Dtn 24,1-4). In der Tora war jedoch nicht festgelegt, was in der Scheidungsurkunde stehen sollte und wie sie ausgestellt werden sollte. Die Art des Scheidungsschreibens und auch die Art und Weise, wie es der Frau ausgehändigt wurde, bestimmte eine lang bestehende Praxis. Das geschriebene Gesetz wurde so durch das mündliche Gesetz erfüllt. Es gab viele andere Dinge, die so durch menschliche Traditionen dem Gesetz ebenbürtig wurde, wie die religiösen Steuern, der Zehnte, die Opfergaben, der Sabbat usw. Im Gesetz Mose (Tora) standen Gebote, die befolgt werden sollten. Doch die Art und Weise wie diese Gebote detailliert eingehalten wurden, bestimmten die menschlichen Traditionen. So wurde der Brauch zum traditionellen Gesetz.

Rabbinische Dekrete wurden so zu traditionellen Gesetzen. In Deuteronomium 15,1-3 wird beispielsweise erklärt, dass Darlehen alle sieben Jahre gekündigt werden sollten. Auf diese Weise konnte das Volk in regelmässigen Zeitabständen von hohen Verschuldungen befreit und für weitere finanzielle Projekte unterstützt werden. Aufgrund dieses Gesetzes weigerten sich viele Geldverleiher, im fünften und sechsten Jahr Kredite zu vergeben. Wenn es unwahrscheinlich erschien, dass ein Darlehen vor dem siebten Jahr zurückbezahlt werden konnte, verweigerten die Geldgeber ihr Darlehen. Das führte wiederum zu einem Dekret, dass ein ordnungsgemässes, von Richtern oder Zeugen versiegeltes Gerichtsdokument dem Kreditgeber das Recht gab, sein Darlehen jederzeit zurückzufordern. So waren die gesetzlich geschützten Geldverleiher wieder bereit, im fünften und sechsten Jahr Darlehen zu gewähren.

Traditionen sind Gesetzesübertretungen
Es liegt auf der Hand, dass das mündliche Gesetz (die Überlieferungen der Väter) zur legalen Gesetzesübertretung anspornte. Dabei war es als Zaun für das Gesetz Mose gedacht. Doch das Gegenteil war der Fall! Es setzte das Gesetz ausser Kraft. Wie so oft können Absicht und Wirkung in direktem Widerspruch zueinander stehen. Darum wandte sich Jesus entschieden gegen die menschlichen Überlieferungen (Mt 15,3-6):

„Da antwortete er ihnen: Warum übertretet denn ihr das Gebot Gottes zugunsten eurer Überlieferung? Denn Gott hat gesagt: Ehre Vater und Mutter, und: Wer Vater oder Mutter verflucht, der sei des Todes. Ihr aber sagt: Wer zu Vater oder Mutter sagt: Dem Tempel soll geweiht sein, was dir von mir zusteht, der braucht seinen Vater nicht zu ehren! Damit habt ihr das Wort Gottes ausser Kraft gesetzt zugunsten eurer Überlieferung.”

 Durch die mündlichen Gesetze, die als verbindlich galten, entartete der jüdische Glaube zu einer starren Form des Legalismus mit endlosen Regeln und Vorschriften, die es einzuhalten galt. Dieser Legalismus wurde zum Formalismus (Überbetonung von Formeln). Denken und Verstehen war nicht mehr wichtig. Hingegen die Einhaltung der Vorschriften waren wesentlich. So konnte man alle Formeln, Regeln und Vorschriften befolgen, ohne die persönliche Beziehung zu Gott und den persönlichen Glauben zu pflegen.

Der Mangel an Liebe und Leidenschaft für den Glauben brachte Jesus zunehmend in Konflikt mit den Pharisäern. Die Traditionen der Väter standen den Juden im Weg, weil sie mehr auf sie hörten, statt auf die ursprünglichen Gebote. Ihr Glaube wurde auf sture Regeln und Vorschriften hinuntergestuft.

Deshalb zitiert Jesus den Propheten Jesaja, der 700 Jahre vor Christus göttlich inspiriert zum Volk redete, als er sprach (Mt 15,7-10):

„Ihr Heuchler! Wie zutreffend ist doch, was Jesaja über euch geweissagt hat: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, ihr Herz aber hält sich fern von mir. Nichtig ist, wie sie mich verehren; was sie an Lehren vortragen, sind Satzungen von Menschen.”