Das Leben Jesu-03: Die jüdische Gesellschaft

Das Leben Jesu

 

 I.   Wie weit passte sich Jesus seiner jüdischen Gesellschaft an?

Es wäre falsch, Jesus von der jüdischen Gesellschaft getrennt zu betrachten. Jesus wuchs unter dem Einfluss der jüdischen Gesellschaft auf und hielt sich als Jude an das mosaische Gesetz. Ebenso stand er auch unter dem Einfluss der griechischen Kultur, die in der damaligen Welt noch eine grosse Bedeutung hatte. Es war kein Zufall, sondern offensichtlich Gottes Absicht, seinen Sohn genau in diese Zeit in die Welt einzuführen (Gal 4,4). Deshalb ist es angebracht zu fragen: Wie weit passte sich Jesus seiner jüdischen Gesellschaft an?

Wer Jesus von seinem geschichtlichen Hintergrund her kennenlernen will, muss dieser Frage nachgehen. Glücklicherweise finden wir in den Evangelien genügend Informationen. Auch ausserbiblische Quellen von damals sind hilfreich (z. B. der Geschichtsschreiber Josephus und andere).

Aus den Evangelien geht deutlich hervor, dass Jesus vom Judentum überzeugt war und sich treu an die Grundlagen des jüdischen Glaubens hielt. Immer wieder verwies er auf die Lehren und geschichtlichen Ereignisse des Alten Testaments und zeigte damit, dass er diese Schriften in vollem Umfang als Worte Gottes akzeptierte (Mt 11,20-24; 12,1-8; Mk 10,17-22; 12,24-27). Bei der Versuchung in der Wüste antwortete Jesus dem Teufel mit den Worten (Lk 4,1-13): „Es steht geschrieben …” und zitierte damit aus Deuteronomium. In seiner Bergpredigt erklärte er dem Volk seine Absichten. Er kam nicht, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen (Mt 5,17). Er warnte sogar davor, auch nur das kleinste Jota oder Häkchen im Gesetz wegzulassen (Mt 5,17-19). Jesus ging es um die Erfüllung des Gesetzes und nicht um die Einhaltung menschlicher Traditionen (Mt 15,1-20). Jesus war sich gewohnt, regelmässig am Sabbat in die Synagoge seines Wohnorts zu gehen und an der Anbetung teilzunehmen (Lk 4,16). Jesus unterstützte auch persönlich die notwendige Tempelsteuer (Mt 17,24-27). Zudem nahm er als Jude am jährlichen Passafest teil und ass mit seinen Jüngern das Passalamm, wie es im Gesetz vorgeschrieben war (Mt 26,17-19). Obschon Jesus mit einigen Dingen seiner Glaubensbrüder nicht einverstanden war, unterstützte er viele jüdischen Institutionen (Mt 23,1-3).

Schlussfolgerung: Jesus war ein tiefreligiöser und praktizierender Jude, aber er passte sich nicht vorbehaltslos seinen jüdischen Zeitgenossen an. Es widersprebte ihm, an menschlichen Überlieferungen festzuhalten.

 

 II.   Hintergründe des jüdischen Glaubens

Die typischen Eigenschaften des jüdischen Glaubens im ersten Jahrhundert, setzte sich von den übrigen Völkern der Antike ab.

Der Monotheismus:
Dieser Begriff ist der Glaube, dass es nur einen Gott gibt. Das war typisch jüdisch im Gegensatz zum Pantheismus, den viele anderen Völker in der Antike pflegten. Pantheismus bedeutet, Gott ist in allem, d. h. in der Natur sowohl im Kosmos. Die Vielzahl der Gottheiten kontrollieren verschiedene Teile des Universums und stehen miteinander im Konflikt. Die einzigartige Weltanschauung der Juden drückt sich in den Versen aus, die uns als «Shema» bekannt sind (Dtn 6,4-5): „Höre, Israel: Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft.” Ein strenggläubiger Jude zitierte diese Verse zwei Mal täglich. Sie bildeten das Fundament des jüdischen Glaubens. Das «Schema» (ausgesprochen: «Schma») reflektiert das erste der zehn Gebote (Ex 30,2; Dtn 5,7): „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.”

Was den Monotheismus der Juden über die Jahrhunderte einzigartig machte, ist die Tatsache, dass sie sich, im Gegensatz zu allen übrigen Völkern, an den einen Gott hielten. Das heisst, in der Antike war es üblich, die Götter von anderen Völkern zu übernehmen und sich zu eigen zu machen. Diese Praktiken sind uns als Synkretismus (Vermischung) bekannt. Es wird von erzwungenem Synkretismus gesprochen, wenn Völker einer fremden Macht unterworfen wurden und sich der Glaube an ihre Gottheiten miteinander verschmolzen. Die Juden wurden oft von anderen Mächten bezwungen und standen in Gefahr, sich von anderen Göttern beeinflussen zu lassen. Die Propheten verurteilten die Anbetung fremder Götter auf's Schärfste (Jer 2,4-13; Ez 8,7-18; 1 Kön 18,1-46). Offenbar fielen die Juden immer wieder fremden Göttern zum Opfer. Diese Tatsache ist der Beweis, dass der jüdische Glaube auf dem Monotheismus aufgebaut war.

Die Auserwählung:
Durch Gottes Bund mit Abraham (Gen 12 und 15), sahen sich die Juden als einzigartiges Volk Gottes (Dtn 7,7-8). Sie wurden dazu auserwählt, um der Welt Gottes Heil zu überbringen. Ihre Geschichte erzählt Gottes erlösendes Handeln für die ganze Menschheit (Gen 12 & 15; 49,10). Diese Überzeugung führte zwangsläufig zu einer ausschliesslichen Denkart, die rassistisch bemüht war, sich nicht mit fremden Völkern und Religionen zu vermischen. Diese Einstellung spitzte sich besonders nach dem babylonischen Exil zu, indem es den Juden nicht mehr bloss um Theologie ging, sondern auch zu einer Angelegenheit des Überlebens wurde. Im Buch Esra und Nehemia erfahren wir einiges über die damalige Situation der Juden, während der Zeit ihres Exils.

In den Evangelien kommt diese starke Überzeugung der Auserwählung im Konflikt zwischen den Juden und den Samaritanern zum Ausdruck. Die Samaritaner setzten sich aus zurückgebliebenen Juden zusammen, die nicht ins Exil geführt wurden, und aus heidnischen Nachbarn, mit denen sie sich einliessen (durch Ehen usw.). Die aus dem Exil zurückgekehrten Juden entsetzten sich (Esra 9) über die Vermischung und den Einfluss mit den gottlosen Nationen in ihrem Land. Während sie sich im Exil bemühten, ihre jüdische Identität in fremden Landen zu bewahren, geriet in Palästina alles ausser Kontrolle. Das führte über Jahrhunderte zu Feindseligkeiten, Misstrauen und Ablehnung. Deshalb war das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samaritaner für jüdische Ohren auch so skandalös (Lk 10,25-37). Ihrer Ansicht nach war es daneben, einen Samaritaner, der Gottes Gebote verliess, als einen Menschen hinzustellen, der Gutes Tat. Der Priester und der Levit hingegen schnitten bei Jesus deshalb so schlecht ab, weil ihnen die menschlichen Traditionen höher standen als Gottes Gebote (wie in Mt 15,9).

Weil die Samaritaner vom Wiederaufbau des Tempels (536 v. Chr.) ausgeschlossen wurden (Esra 4,3), bauten sie sich ihr eigenes Heiligtum auf dem Berg Garizim, in Samaria und zogen sich vom Judentum zurück. Von diesem Hintergrund aus fand schliesslich die Diskussion zwischen Jesus und der Samaritanerin am Brunnen statt (Joh 4). Jesus gab der Frau zu verstehen, dass das Heil von den Juden kommt und dass auf dem Berg Zion die Begegnung mit Gott stattfindet. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass es in Zukunft keine besondere Anbetungsstätte mehr geben wird, wo Menschen Gott begegnen können. Sondern, überall auf der Welt sollte Gott in Geist und Wahrheit angebetet werden können (Joh 4,21-24).

Das Gesetz:
Seit dem Auszug aus Ägypten und den erhaltenen zehn Geboten am Sinai, spielte das Gesetz im jüdischen Glauben eine zentrale Rolle. Nach der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier (586 v. Chr.), bekam das Gesetz wieder eine besonders wichtige Bedeutung für die Juden. Es gab den heimatlosen Juden innere Stabilität und Führung. Es schenkte ihnen auch ihre Identität, die sich von anderen Völkern deutlich unterschied. Besonders durch die Beschneidung und durch reines und unreines Essen, sonderten sich die Juden von allen übrigen Völkern ab. Auch die Einhaltung des Sabbats war wichtiger Bestandteil des Gesetzes. Gleichzeitig stärkte es auch ihre Gewissheit die Krise, in der sie steckten, siegreich zu überwinden.

Die betonte Fokussierung auf das Gesetz, während und nach dem Exil, führte zur Gründung vieler Synagogen. Obschon die Synagogen im Alten Testament nicht erwähnt werden, wurden sie zu wichtigen Begegnungsstätten, in denen der jüdische Glaube gepflegt werden konnte. Synagogen entstanden überall in fremden Landen als auch in Palästina und dienten als Ersatz für den Tempel. Sie wurden von Rabbinern dominiert, die als Experten des Gesetzes galten (Mt 6,2.5; 23,1-8 ff.). Es war ein Ort an dem das Gesetz studiert und diskutiert wurde. Es wurde aber auch gebetet und Gottesdienste abgehalten. Jesus selbst begab sich mit seinen Jüngern in die Synagoge um das Evangelium zu lehren (Mt 4,23; 9,35; 12,9 etc.). Auch Paulus zog in den Synagogen umher und verkündigte das Evangelium von Jesus (Apg 9,20; 13,5.14; 14,1 etc.).

Der Tempel:
Für die Opferungen gab es jedoch nur einen Ort: der Tempel in Jerusalem. Der Tempel war der zentrale Ort für die Juden, an dem die Opferungen und die jährlichen Feste abgehalten wurden, die das Gesetz anordnete. Auch die Priester konnten nur im Tempel ihre Dienste verrichten und die verschiedenen Opferungen betreuen.

Es gab nur einen Tempel und deshalb war er von zentraler Bedeutung für die Juden. Deshalb musste der Tempel unbedingt wiederaufgebaut werden, damit Priester eingesetzt werden konnten, um die Opferungen zu vollziehen. Den Synagogen standen Gesetzeslehrer vor. Das ganze Opfersystem hing also an den Priestern und Hohen Priestern. Während der römischen Besetzung wurden durch die Römer unqualifizierte Hohe Priester eingesetzt. Das führte zu grossen Unruhen im jüdischen Volk. Denn die Hohen Priester liessen sich durch politische Intrigen und Korruptionen beeinflussen. Damit wurde das Gesetz im grossen Stil verletzt. Deshalb trennten sich die Essener vom Tempel und der gesamten Priesterschaft, weil für sie alles hoffnungslos korrupt war.

Das kommende Zeitalter:
Jahrhunderte lang wurden die Juden von fremden Herrschern regiert. Deshalb hoffte das Volk auf das goldene Zeitalter, in dem der verheissene Herrscher, der Messias (Gesalbter „König“) kommen werde. Die meisten erwarteten einen Kriegerkönig wie David, der die römische Herrschaft mit mächtiger Hand aus dem Land treiben und Israel wieder Ruhe und Ordnung verschaffen würde wie zu alten Tagen. Die Juden warteten gespannt auf „den Trost Israels“ (Lk 2,25), den Tag, an dem Israel wiederhergestellt und unabhängig sein würde. Doch es kam alles anders, denn Jesus war zwar der verheissene König, aber sein Reich war nicht von dieser Welt (Joh 18,33-38). Einmal mehr bestätigt die Geschichte die Worte Gottes durch den Mund des Jesaja (Jes 55,8): „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, Spruch des Herrn.”

Die jüdische Frömmigkeit:
Zu den beschriebenen Opferungen im Tempel, den grossen Jahresfesten und den Gottesdiensten in den Synagogen gab es drei Handlungen, an denen die Juden in ihrem Glauben festhielten:

am Gebet,

am Fasten und

am Almosengeben für die Armen.

In der Bergpredigt prangerte Jesus genau diese Handlungen an, weil eine falsche Gesinnung dahintersteckte, um von den Menschen gesehen zu werden (Mt 6,1-18).

 

 Schlussfolgerungen

Jesus war offensichtlich ein Jude mit jüdischem Hintergrund.

Dies gilt es zu beachten und möglichst viel über seinen Hintergrund herauszufinden, damit wir seine Aussagen besser verstehen und ihm besser nachfolgen können.

Denn Jesus ist der vollkommene Mensch und deshalb unser Vorbild im Leben.