Fleisch oder Geist
William Barclay
Das Wort eris kommt zum Beispiel in 1. Korinther 1,11 und in Römer 1,29 vor. In diesen Stellen ist es in der Zürcher Übersetzung mit Streitigkeiten und Hader übersetzt. Echthra und eris sind sehr eng miteinander verbunden. Echthra - Feindschaft drückt eine Gesinnung, eine Haltung gegenüber anderen Menschen aus, während eris - Hader das Ergebnis dieser Haltung ist.
In dem apokryphen Buch „Die Weisheit Jesu, des Sohnes Sirach“ erscheint eris dreimal als eines der Dinge, die das Leben zerrütten. Bei Homer und Hesiod ist Hader eine grimmige Göttin. Hader, Erweckerin von Heeren, so nennt sie Homer (Ilias 20.48); an einer anderen Stelle (Ilias 18.535) nennt er Hader, Kampf und grausamen Tod in engstem Zusammenhang. Hesiod erzählt, wie die tödliche Nacht Nemesis gebar, um die sterblichen Menschen zu bedrängen, und danach Betrug... und hartherzigen Streit - eris. Bei den Griechen war Eris, die Göttin des Streits, eine der verderblichen Mächte im Leben, die Schöpferin von Gewalt und Tod.
In der frühen griechischen Philosophie ist eris eine der grundlegenden, wesentlichen und unzer¬störbaren Kräfte des Universums. Alle Dinge, sagt Heraklit über die natürlichen Vorgänge in der Natur, geschehen aus Streit oder Notwendigkeit (Frag. 215). Das Wesen der Natur ist Wirkung und Wechselwirkung zwischen Gegensätzlichem, und wenn das aufhörte, wenn ein Element so vorherrschend würde, dass ihm nichts mehr entgegenzusetzen wäre, dann bedeutete das das Ende des Universums. Auch Empedokles hatte diese Vorstellung vom Universum. Simplicius gibt dessen Ansicht so wieder: „Empedokles spricht von vier Elementen der Materie: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Sie alle sind unvergänglich und verändern ihr Volumen und ihre Menge, indem sie sich mischen und teilen. Die Motive aber, die diese Elemente in Bewegung bringen, sind Liebe und Streit. Die Elemente sind ständig einer wechselnden Veränderung unterworfen, einmal vermischt durch die Liebe, ein andermal getrennt durch den Streit“ (Empedokles, Frag. 426; Simplicius Phys. 25.21). Die griechischen Philosophen hielten also den Streit für etwas, das im Bau des Universums wurzelt. Deshalb hatte eris, zumindest bei den früheren griechischen Schreibern, keine negative Bedeutung. Vielmehr beschrieb es das Aufeinanderprallen zweier Ansichten, woraus oft wirkliches Wissen kommt, und eine Rivalität in gutem Sinne, die zur Vortrefflichkeit führen kann.
Im NT dagegen ist eris - Streit immer etwas Böses. Paulus kennzeichnet eine ganz bestimmte Haltung mit diesem Wort und zeigt sie in zwei verschiedenen Situationen.
1. Eris ist eine der charakteristischen Sünden in der heidnischen Welt (Röm 1,29). Diese Welt ist eine Welt der Spaltungen, eine Welt, in der Beziehungen zueinander zerbrechen. Nur im christlichen Leben kann es wahre Gemeinschaft und Einigkeit geben. Den Christen ist es untersagt, in Völlerei und Trunkenheit, in Wollust und Unzucht, in Hader und Neid zu leben (Röm 13,13). Diese Sünden muss ein Mensch ablegen, wenn er Christ wird.
2. Paulus gebraucht das Wort eris sechsmal. In vier dieser sechs Stellen steht es im Zusammenhang mit dem Leben in der Gemeinde. Drei davon finden wir in den Korintherbriefen (1 Kor 1,11; 3,3; 2 Kor 12,20). Eris spaltete die Gemeinde zu Korinth in Parteien auf, weil einige Christen sich auf Petrus, andere auf Apollos, andere auf Paulus und wieder andere sich auf Christus beriefen. Eris hatte die Gemeinde zersplittert und Feindschaft geschaffen, wo doch Liebe herrschen sollte. Im Brief an die Philipper schreibt Paulus, dass diejenigen, die Christus aus eigensüchtigen Motiven predigen und Paulus dadurch Schaden zufügen wollen, dies um eris willen tun (Phil 1,15). Eris dringt in die Gemeinde ein und wird charakteristisch für sie, wenn die Leiter und die Glieder der Gemeinde mehr auf Menschen, Parteien, Schlagworte und persönliche Meinungsverschiedenheiten achten als auf Christus. Darin liegt eine Warnung für uns. Wenn in einer Gemeinde die zentrale Stellung Christi verloren geht, werden auch die Beziehungen untereinander verkehrt. Wenn jemand nicht mehr zur Verherrlichung Christi predigt, sondern um seine persönliche Ansicht über Christus hervorzuheben, wenn er also eine Theologie und nicht ein Evangelium predigt, wenn er mit seinen Argumenten sein Gegenüber vernichten will anstatt ihn zu gewinnen, dann beginnt eris.
Keine andere Sünde ist häufiger in der Gemeinde zu finden als eris - Streit; keine andere zerstört die christliche Gemeinschaft mehr. Wenn aber Christus seinen rechten Platz in der Gemeinde hat, wenn er regiert, kann eris keinen Eingang in diese Gemeinde finden.