Begriffe2-10: Thymos – Zorn

Fleisch oder Geist

William Barclay

 

In den folgenden Stellen wird das Wort mit Zorn wiedergegeben: Röm 2,8; 2 Kor 12,20; Eph 4,31; KoI 3,8.

Die Bedeutung des Wortes thymos reicht vom sehr Guten bis zum äussersten Bösen. Es kann eine Eigenschaft kennzeichnen, die jeder gute Charakter haben muss; es kann aber auch eine Eigenschaft beschreiben, die alle persönlichen Beziehungen und das Leben einer Gemeinschaft zerstört.

Im AT und in den Apokryphen kommt thymos mehr als 300mal vor. Es wird in schlechtem und auch in gutem Sinne auf den Menschen angewandt. Von den Brüdern Simeon und Levi wird gesagt, dass sie im Zorn - thymos gemordet haben (1. Mos. 49,6); und im nächsten Vers wird dieser heftige, grausame Zorn verflucht. In Kohelet 7,9 lesen wir, dass Ärger - thymos im Herzen des Toren ruht, und in Sprüche 27,4, dass thymos - Grimm (Elberfelder) grausam ist.

Von einem positiven Zorn beim Menschen lesen wir in dem apokryphen Buch Jesus Sirach. Hier wird gesagt, dass drei Dinge den Weisen zum Zorn reizen: Wenn ein mächtiger Mann verarmt und darben muss, wenn angesehene Leute in Verachtung geraten und wenn sich einer von der Gerechtigkeit weg und zur Sünde hinwendet (Sirach 26,18). Hier kennzeichnet thymos gerechte Entrüstung gegenüber dem Bösen.

Auch auf wilde Tiere wird thymos angewandt. Der Weise kennt die Natur der Lebewesen und die Triebe - thymoi der wilden Tiere (Weisheit 7,20). Auch von der schrecklichen Wut wilder Tiere ist die Rede (Weisheit 11,18; 16,5). Tatsächlich ist thymos, wie wir noch sehen werden, der einzig mögliche Ausdruck für die Wut der Tiere.

Sehr viele Stellen, in denen thymos gebraucht wird, beziehen sich auf den Zorn Gottes. Jahwe warnte das Volk Israel wiederholt vor seinem Zorn, der entbrennen würde, wenn sie seine Gebote missachten (2. Mos. 22,23). Mose und die Propheten bitten Gott oft, dass er seinen Zorn von dem Volk abwenden möchte (2. Mos. 32,12). In Psalm 78 frohlockt Asaph darüber, dass Gott seinen Zorn oft abwandte (Ps. 78,38). Der Prophet Jesaja sagt, dass die Erlösten dem Herrn danken werden für die Abwendung seines Zorns (Jes 12,1).

Auch im NT, vor allem in der Offenbarung, bezeichnet thymos den Zorn Gottes. Die Sünder werden gezwungen werden, den Kelch des grimmigen Zornes Gottes zu trinken (Offb 19,15; 16,19; vgl. 14,19; 15,1; 16,1). In diesem Buch wird thymos aber auch in Bezug auf den Teufel benutzt. Der Teufel kommt zu euch hinab und hat einen grossen Zorn und weiss, dass er wenig Zeit hat (Offb 12,12).

Wir haben bisher ganz klar gesehen, dass die Bedeutung von thymos sehr weittragend ist. Es umfasst menschlichen und göttlichen, teuflischen und tierischen, edlen und zerstörenden Zorn. Auch bei den griechischen Schreibern kennzeichnet thymos eine positive und eine negative Eigenschaft.

Bei Aristoteles bedeutet thymos oft Geist in dem Sinne, wie wir von einem intelligenten, lebensvollen Menschen sagen, er habe Geist, Esprit. Hier hat thymos etwas mit Mut zu tun (Nikomachische Ethik 116b 23). Es ist die seelische Kraft, die den Menschen befähigt zu lieben, die ihm Macht zu befehlen, Begeisterung für die Freiheit gibt, die ihn entrüstet sein lässt über Unrecht. Es ist das herrschende und unbezähmbare Element der Seele (Politik 7.6.3). Keine Seele, so schreibt Platon, kann sich ohne edle Leidenschaft - thymos gegen das Böse stellen (Gesetze 731). Xenophon beschreibt thymos mit Kraft und Mut (Cyropaedia 4.2.21). Thymos kann also eine Eigenschaft der Seele bezeichnen, ohne die es Kraft, Edelmut, Ritterlichkeit und Führerqualität nicht gibt.

Die klassischen Schreiber sind sich aber auch über die Gefahr im klaren, die thymos in sich birgt. Es ist wie ein Sprengstoff, der zum Beseitigen von Hindernissen auf einem Weg gebraucht werden kann, aber auch dazu, eine Stadt in Trümmer zu legen. Aristoteles gebraucht es einfach im Sinne von Leidenschaft (Nikomachische Ethik 111b 11). Wenn thymos eine augenblickliche Leidenschaftlichkeit ausdrückt, kann die Tat, die daraus entspringt, nicht auf eine böse Absicht zurückgeführt werden (Nikomachische Ethik 135b 26). Platon sagt in seinen „Gesetzen“, dass niemand ohne thymos die Gerechtigkeit vertreten kann; aber er sagt gleich darauf, dass dasselbe thymos auch die Ursache zum Mord sein kann, und dass thymos deshalb, wenn es seinen richtigen Platz einnehmen soll, in Zucht gehalten werden muss (Gesetze 867b d). Weiter definiert Platon thymos als „heftige Regung ohne Grund“ (415e). Aristoteles ist etwas anderer Meinung; er trennt thymos nicht gänzlich von der Vernunft. Er gibt dafür ein anschauliches Beispiel. „Zorn“, sagt er, „hört die Vernunft wohl, aber hört nicht richtig zu, so wie ein Diener, der aus dem Zimmer stürzt, noch ehe sein Herr den Befehl beendet hat“ (Nikomachische Ethik 149a 3). Thymos ist eine gute Eigenschaft, die aber strenge Zügel braucht.

Es ist interessant und trägt sehr zur Klärung des Begriffes thymos bei, zu wissen, von was die griechischen Schreiber dieses Wort ableiteten. Aristoteles spricht von der „Hitze“ und der „Eile“, die mit thymos verbunden sind (Nikomachische Ethik 1145b 31). Es wurde von dem Verb thyein - kochen abgeleitet. „Thymos hat seinen Namen vom Wüten und Kochen der Seele“, schreibt Platon (Cratylus 419e). Basileius beschreibt es als „Rausch der Seele.“

Das ist auch die charakteristische Eigenschaft, die thymos von orge, das gewöhnlich mit Zorn übersetzt wird, unterscheidet. Orge wird zum Beispiel von Paulus für den Zorn Gottes gebraucht. Thymos ist sehr heftig, aber auch von sehr kurzer Dauer; es beschreibt einen grossen Ärger, der aber bald vorübergeht. Die Stoiker bezeichnen thymos als beginnenden Zorn (Diogenes, Laertius 7.63) im Gegensatz zu orge, das Cicero als ira inveterata, als eingewurzelten Zorn definiert (Cicero, Tusc. Disp. 4.9). Ammonius bezeichnet thymos als proskairos - vorübergehend, augenblicklich und orge als polychronos, mnesikakia - langes Hegen der Erinnerung an Böses. Thymos, sagten die Griechen, sei wie ein Strohfeuer, das schnell entflammt, aber genauso schnell erlischt. Thymos ist also kein lange genährter Zorn, sondern ein Wutausbruch, begleitet von heftigen Worten und Taten, der schnell wieder aufhört.

Paulus verwendet das Wort thymos mehrmals in seinen Briefen. In Römer 2,8 bezeichnet es den Zorn Gottes. Ungnade - orge und Zorn - thymos erwarten den Zerstörer des Friedens. Paulus befürchtet, bei seiner Rückkehr nach Korinth thymos in der eigensinnigen Gemeinde vorzufinden (2 Kor 12,20). Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung sei ferne von euch samt aller Bosheit (Eph 4,31). Zorn, Grimm, Bosheit, Lästerung und schandbare Worte sind heidnische Sünden, von denen sich ein Christ trennen sollte (KoI 3,8). Thymos, dieser unberechenbare Charakterzug, ist etwas, das der Christ aus seinem Leben entfernen sollte.

Viele Menschen sind sich bewusst, dass sie ein heftiges Wesen haben; sie behaupten, dass sie nichts daran ändern könnten und erwarten, dass ihre Mitmenschen sich damit abfinden und ihren Wutausbrüchen nachsichtig gegenüberstehen. Das NT macht aber deutlich, dass solche Leidenschaft Sünde ist und dass sie zeigt, dass ein Mensch noch immer unter der Herrschaft seines sündigen Fleisches lebt. Es kann sein, dass so ein Mensch sich niemals ganz klar gemacht hat, dass er andere verletzt und eine für eine Gemeinschaft schwierige Situation schafft. Weil er aufbraust und dann vergisst, glaubt er, dass die anderen den Schmerz, den er ihnen zugefügt hat, genauso schnell vergessen können. Man sollte diesen Menschen daran erinnern, dass sein Verhalten Sünde ist, dass er die Leidenschaft nur mit der Kraft des heiligen Geistes in seinem Herzen zügeln kann.

Aber niemand würde den Zorn ganz aus dem Leben verbannen wollen. Im NT finden wir zwei sich scheinbar widersprechende Aussagen darüber. Jesus sagt in Matthaus 5,22: „Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig.“ Andererseits schreibt Paulus: „Zürnt ihr, so sündigt nicht“ (Eph 4,26). Was ist das Gegenmittel, das das starke Gift des Zornes in eine brauchbare Medizin verwandelt? Die Antwort ist einfach. Zorn, der ichbezogen ist und dem Stolz und der übertriebenen Empfindlichkeit entspringt, ist immer falsch. Zorn um der anderen willen, um des Guten willen, Zorn ohne Eigensucht kann von Gott als Werkzeug gebraucht werden.