Begriffe2-16: Agape – Liebe

Fleisch oder Geist

William Barclay

 

Ein Lehrer der Ethik ist fortwährend bestrebt, die Bestandteile eines guten Lebens hervorzuheben. Das tut der Apostel Paulus, wenn er in Galater 5,22-23 die Früchte des Geistes aufzählt: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Keuschheit. Notwendigerweise muss die Liebe am Anfang der Liste stehen, denn Gott ist die Liebe (1 Joh 4,8), und darum ist die Liebe das Grösste (1 Kor 13,13). Die Liebe ist das Band der Vollkommenheit, das alles in vollkommener Harmonie verbindet (KoI 3,14), und sie ist des Gesetzes Erfüllung (Röm 13,10).

Die deutsche Sprache erscheint manchmal armselig, wenn man sie mit der griechischen vergleicht. Im Deutschen haben wir nur ein Wort für Liebe, das für eine ganze Reihe von Gefühlen herhalten muss. Im Griechischen dagegen gibt es dafür vier Wörter.

1. Da ist das Wort eros, das die Liebe zwischen Mann und Frau kennzeichnet. Es ist auf den Körper bezogen und hat stets mit sexueller Liebe zu tun. Aristoteles sagt, dass eros immer mit der Lust der Augen beginnt, dass sich niemand verliebt, ohne dass er vorher von Schönheit bezaubert wurde, dass Liebe nur dann Liebe ist, wenn man sich nach dem Geliebten sehnt (Nikomachische Ethik 9.4 und 3). Epiktet beschreibt diese Liebe als leidenschaftlichen Drang (Unterredungen 4.1.147). Das Wort eros kommt im NT überhaupt nicht vor, nicht weil körperliche Liebe im NT missachtet oder abgelehnt wird, sondern weil dieses Wort in neutestamentlicher Zeit eher mit Lust als mit Liebe zu tun hatte.

2. Philia ist im griechischen Sprachgebrauch der höchste Ausdruck für Liebe. Es beschreibt eine innige, enge und zärtliche Gemeinschaft des Körpers, der Seele und des Geistes. Es schliesst die körperliche Liebe ein, denn das Verb philein kann küssen oder liebkosen bedeuten. Obwohl philia weit mehr als nur die körperliche Liebe beschreibt, fehlt diesem Begriff doch noch etwas. Shakespeare sagt: „Liebe ist nicht Liebe, wenn sie sich mit den Umständen verändert.“ Aber philia kann sich verändern wie alles, was der Mensch hervorbringt. Aristoteles schreibt: „Des Liebhabers Lust ist der Anblick seiner Geliebten, und der Geliebten Lust ist es, Aufmerksamkeit von ihrem Liebhaber zu empfangen. Aber wenn die Schönheit der Geliebten schwindet, schwindet die Freundschaft - philia“ (Nikomachische Ethik 8.4.1). Philia beschreibt zwar höchste menschliche Liebe, aber das Licht dieser Liebe kann flackern und ihre Wärme nachlassen.

3. Eine weitere Bezeichnung für Liebe ist storge. Dieses Wort ist in seiner Bedeutung eng begrenzt. Im griechischen Sprachgebrauch kennzeichnet es die Familienliebe, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die Liebe der Kinder zu ihren Eltern, die Liebe zwischen Brüdern und Schwestern, zwischen Verwandten und Bekannten.

4. Dann gibt es noch das Wort agape. Das Verb agapan wird im allgemeinen Griechisch gebraucht, das Substantiv agape erscheint jedoch nur in ganz wenigen griechischen Schriften. Das Wort gewann eigentlich erst im Christentum seine volle Bedeutung. Das ist nicht zufällig. Agape beschreibt eine neue Eigenschaft, eine neue Einstellung zum Mitmenschen, eine Einstellung, die erst in der christlichen Gemeinschaft entwickelt wurde, eine Einstellung, die ohne die Kraft Christi nicht möglich ist.

Man wird der Bedeutung von agape daher am ehesten nahe kommen, wenn man untersucht, was Jesus selbst darüber sagt. Der aufschlussreichste Abschnitt dafür ist Matthäus 5,43-48. Jesus macht hier sehr deutlich, dass die menschliche Liebe sich an dem Beispiel der Liebe Gottes ausrichten muss. Und was ist charakteristisch für die göttliche Liebe? Gott lässt über Gerechte und Ungerechte regnen, und er lässt seine Sonne über Gute und Böse aufgehen. Agape bedeutet also unbesiegbare Güte und uneingeschränktes Wohlwollen. Agape ist der Geist im Menschen, der immer das Beste und Höchste für seine Mitmenschen suchen wird, ganz gleich, wer diese Mitmenschen sind und wie sie sich ihm gegenüber verhalten mögen. Wenn man das sieht, wird man Wichtiges erkennen.

1. Aristoteles sagt, nur der Mensch könne geliebt werden, der dieser Liebe wert sei. Er spricht von Menschen, die sich nach Liebe sehnen und bezeichnet dieses Verlangen als lächerlich, wenn der betreffende Mensch nichts Anziehendes besitzt (Nikomachische Ethik 8.8.6). Er sagt ausdrücklich, dass ein Mensch nicht erwarten kann, geliebt zu werden, wenn er nichts an sich hat, was Zuneigung erwecken könnte (Nikomachische Ethik 9.1.2). Epiktet meint wohl dasselbe, wenn er sagt: „Alles was einen Menschen interessiert, das liebt er“ (Unterredungen 2.22.1). Platon sagt: „Liebe ist für den Liebenswerten.“ Das Bemerkenswerte an der christlichen Liebe ist dagegen ihre Fähigkeit und Verpflichtung, gerade das Unschöne und Unliebenswerte zu lieben. Es ist die Fähigkeit und die Verpflichtung, das Beste für den Menschen zu suchen, unabhängig davon, was dieser Mensch ist, was er tut und getan hat. In der christlichen Liebe spielt das Verdienst des Menschen überhaupt keine Rolle.

2. Für die griechischen Schreiber ist Liebe fast nur in ausschliesslicher Weise denkbar. Aristoteles definiert Liebe als höchste Freundschaft, die sich deshalb nur auf eine einzige Person beziehen kann (Nikomachische Ethik 9.10.5). Er war davon überzeugt, dass Liebe und Freundschaft begrenzt sein müssen und sich nicht auf viele erstrecken können. Ein Freundeskreis muss nach seiner Meinung klein sein, und die Liebe kann sich sogar nur auf einen einzigen Brennpunkt konzentrieren. Christliche Liebe ist genau das Gegenteil. Sie ist allumfassende Güte. Augustin sagt, dass Gott uns alle so liebt, als ob es nur einen einzigen Menschen zu lieben gäbe. Und christliche Liebe muss sich am Vorbild der göttlichen Liebe ausrichten.

3. Noch in einem anderen Punkt unterscheidet sich die christliche Liebe ganz wesentlich von der allgemeinen menschlichen Liebe. Die menschliche Liebe ist eine Regung des Herzens; sie ist etwas, was einfach geschieht, ohne dass wir uns darum bemühen. Agape, die christliche Liebe dagegen, fordert die ganze Persönlichkeit. Diese Liebe ist nicht nur ein Zustand des Herzens, sondern auch des Geistes, sie ist nicht nur Sache des Gefühls, sondern auch des Willens. Sie ist nicht einfach da, ohne dass wir etwas dazu tun, sondern sie entsteht durch unseren Willen, sie ist ein Sieg, eine Errungenschaft. Ein Aspekt von agape ist die Fähigkeit, die Kraft und die Entschlossenheit, gerade die Menschen zu lieben, die wir nicht mögen. Diese christliche Liebe ist also ein Sieg über das eigene Ich. Sie ist offensichtlich eine Frucht des Geistes, undenkbar ohne die Kraft Christi. Deshalb ist es sinnlos, darüber zu reden, dass die Welt die Ethik der Bergpredigt und der christlichen Liebe annehmen soll. Das kann der natürliche Mensch gar nicht. Das ist nur dem möglich, der sich Christus hingibt und seinen Geist empfängt.

4. Diese Vorstellung der christlichen Liebe war in der heidnischen Gedankenwelt etwas vollkommen Neues, etwas, was den bisherigen Zielen zuwiderlief. Die Philosophen der Zeitwende strebten nach dem einen: dem inneren Frieden - ataraxia, der heiteren Ruhe, der Gelassenheit und dem friedvollen Herzen. Um das zu erreichen, hielten sie alle zwei grundlegende Dinge für notwendig. Das erste war autarkeia, die absolute Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Dingen ausserhalb der eigenen Person. Autarkeia ist die Geisteshaltung, die Glück und Frieden ganz und ausschliesslich in sich selbst findet. Das zweite, apatheia, war eng mit dem ersten verbunden. Apatheia ist nicht Apathie im Sinne von Gleichgültigkeit, es ist die wesensgemässe Unfähigkeit Freude oder Leid, Glück oder Trauer zu empfinden; es ist die seelische und geistige Haltung eines Menschen, den nichts, was ihm oder anderen widerfährt, berührt. Es kennzeichnet ein von jeder Gefühlsregung isoliertes Herz. Wenn das das Lebensideal ist, dann ist natürlich Liebe der grosse Feind des Friedens. Epiktet sagt, dass der Kaiser der Welt politischen Frieden und Sicherheit gebracht hat, und dann fragt er verzweifelt: „Aber kann er uns Frieden von der Liebe geben“ (Epiktet, Unterredungen 2.13.10)? Er räumt ein, dass ein Mensch einem anderen herzlich zugetan sein soll (philostorgos), aber nur soweit, dass sein Glück und seine Freude nie von jemand abhängig sind; denn wenn man jemand einen Platz in seinem Herzen gewährt, verliert man seine Freiheit für immer (Epiktet, Unterredungen 3.24.58). Für Epiktet ist Liebe eine Art Sklaverei (Unterredungen 4.17.57). Die Philosophie hilft deshalb dem Menschen, Gleichgültigkeit zu erlangen. Epiktet betont, dass der Mensch nie sein Herz an irgend jemand oder irgend etwas hängen soll, denn er soll nichts und niemand brauchen. Der Mensch muss sich zur Gleichgültigkeit erziehen. Mit unbedeutenden Dingen mag er beginnen - mit einem Topf oder einer Tasse, die bei jeder Gelegenheit zerbrechen können. Dann sollte er seine Gleichgültigkeit auf wichtigere Dinge ausdehnen - auf eine Tunika, einen wertlosen Hund, ein schlechtes Pferd oder ein Stückchen Land. Er soll so weit kommen, dass ihm der Verlust eines dieser Dinge gleichgültig bleibt. So wird er schliesslich stufenweise einen Stand erreichen, in dem es ihm gleichgültig sein wird, was mit seinem eigenen Körper geschieht, in dem ihn der Verlust seiner Kinder, seiner Frau und seiner Brüder nicht mehr berühren wird (Epiktet, Unterredungen 4.1.110,111).

Mark Aurel spricht oft eine ganz andere Sprache. Liebe die Menschen, mit denen dich das Schicksal zusammenbringt, sagt er, und liebe sie von ganzem Herzen. Liebe die Menschen, und folge Gott. Alles Vernünftige ist dir verwandt, und es ist ein Teil des menschlichen Lebens, allen Menschen zugetan zu sein. Das Göttliche in uns nährt ein Mitgefühl für die Menschen. Wenn du den Übeltäter nicht bekehren kannst, dann denke daran, dass dir die Freundlichkeit gerade für so einen Fall gegeben wurde. Niemand kann uns jemals die Freundlichkeit nehmen. Wir sollen Sanftmut an denen üben, die uns den Weg versperren wollen und die uns ein Dorn im Auge sind (Mark Aurel, Meditationen 6.38; 7.31,34,36; 9.11; 11.9). Der wahre Philosoph wird notwendiger¬weise geschlagen werden, aber selbst während er geschlagen wird, muss er die Menschen lieben, die ihn züchtigen, so als ob er ihrer aller Vater oder Bruder wäre (Epiktet, Unterredungen 3.22.55).

Will man solche Stellen verstehen, so muss man bedenken, dass diese Einstellung dem Mitmenschen gegenüber nicht daraus entsteht, dass sich jemand mit dem anderen identifiziert, nicht aus Mitgefühl mit dem anderen und nicht daraus, dass man an seiner menschlichen Situation teilnimmt, sondern aus dem Bewusstsein der Überlegenheit. Der Weise war so mit seiner Tugend gerüstet, er stand so weit über dem gewöhnlichen Menschen, dass er durch die Possen und Torheiten geringerer Sterblicher nie seine olympische Ruhe stören liess.

Im Gegensatz dazu sorgt sich die christliche Liebe um den Menschen. Sie ist das genaue Gegenteil der Grundsätze heidnischer Philosophie. Der heidnische Philosoph sagt: Erziehe dich zur Gleichgültigkeit. Die christliche Botschaft lautet: Erziehe dich zu hingebungsvoller und eifriger Liebe zum Mitmenschen. Der heidnische Philosoph sagt: Hüte dich davor, persönlich und mit deinem Gefühl in die Situation der Menschen verwickelt zu werden. Die christliche Botschaft lehrt: Identifiziere dich mit deinem Mitmenschen, sieh mit seinen Augen, denke und fühle mit ihm, lebe in seiner Situation. Die christliche Botschaft sieht den Weg zum Glück genau in der Einstellung, die der heidnische Philosoph für den Weg zum Unglück hält. Was für den Christen das Lebensprinzip ist, das wollte der heidnische Philosoph ganz aus dem Leben verbannen.

Analysieren wir die Bedeutung von agape vor allem anhand der Paulusbriefe, wo dieses Wort mehr als sechzigmal vorkommt.
1. Alles hat seinen Ursprung in der Liebe Gottes, denn Gott ist der Gott der Liebe (2 Kor 13,11). Die christliche Liebe ist die Reflexion der Liebe Gottes. Die Liebe Gottes ist ihr Vorbild und Kraft. Diese Liebe Gottes ist eine völlig unverdiente Liebe; der Beweis dafür ist, dass Christus für uns starb, als wir noch Sünder waren (Röm 5,8). Das NT unterstützt niemals die Ansicht, Christus habe durch sein Sühnewerk die Haltung Gottes gegenüber den Menschen geändert, er habe den Zorn Gottes in Liebe verwandelt. Die ganze Heilsgeschichte hat ihren Ursprung in der unverdienten Liebe Gottes. Ferner ist Gottes Liebe eine schaffende und verwandelnde Liebe. Die Liebe Gottes, in Menschenherzen ausgegossen, schafft die grossen Tugenden des christlichen Lebens und Charakters (Röm 5,3-5). Es gibt eine menschliche Liebe, die die moralische Kraft des Menschen untergräbt, seine Bemühungen lähmt und ihn für den Lebenskampf untüchtig macht. Aber die Liebe Gottes ist die umformende Triebkraft des christlichen Lebens, die im Menschen Geduld, Ausdauer, Erfahrung und Hoffnung zeugt, die ihn für das Leben ausrüsten. Die Liebe Gottes ist eine unlösbare Liebe. Weder in dieser Zeit noch in der Ewigkeit vermag uns irgend etwas von ihr zu trennen (Röm 8,35-39). Hierin liegt ein starkes Argument für ein Leben nach dem Tod. Liebe ist die Vollkommenheit der Beziehung zweier Persönlichkeiten, und Gottes Liebe bietet eine Beziehung an, die, weil sie ja von Gott ausgeht, natürlicherweise durch nichts gelöst werden kann. Gottes Liebe ist einfach eine grosse Liebe (Eph 2,4-7). Nach dieser Schriftstelle ist die Liebe Gottes aus drei Gründen gross: Gott liebte uns, als wir noch tot waren in unseren Sünden, er erweckte uns zu einem neuen Leben, und seine Liebe vergeht nicht.

2. So wie Paulus von der Liebe Gottes spricht, so spricht er auch von der Liebe Christi. Für ihn gibt es zwischen der Liebe Gottes und der Liebe Christi keinen Unterschied. In Römer 8,35-39 fragt er: Wer kann uns scheiden von der Liebe Christi (Elberfelder)? Und er antwortet, dass nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann, die in Jesus Christus unserem Herrn ist. Für Paulus ist Jesus die sichtbare und tätige Liebe Gottes.

Gottes Liebe übertrifft die Erkenntnis (Eph 3,19). Liebe ist immer ein Geheimnis. Jeder Mensch, der geliebt wird, staunt darüber. Die Liebe Christi kann man eigentlich nicht erklären, sondern sie ist etwas, das den Menschen in Staunen und Bewunderung versetzt und das ihn zur Anbetung treiben soll. Die Liebe Christi ist das Vorbild des christlichen Lebens. Ein Christ soll so lieben wie Christus ihn geliebt hat (Eph 5,2). Die Liebe Christi ist das Vorbild für die persönlichen Beziehungen des Christen. Die Liebe Christi ist die kontrollierende Kraft im Leben eines Christen, sie bestimmt sein Handeln (2 Kor 5,14). Nicht die Furcht treibt den Christen zum Guten, sondern seine Verpflichtung zur Liebe erhebt ihn zum Guten.

3. Der Apostel Paulus verbindet sehr oft Liebe und Glauben (Eph 1,15; Kol 1,4; 1 Thess 1,3; 3,6; 2 Thess 1,3; Phlm 5). Das grösste Lob, das er einer Gemeinde aussprechen kann ist, dass die Glieder Glauben an Jesus Christus haben und sich untereinander lieben. Das christliche Leben schliesst eine doppelte Beziehung und eine doppelte Verpflichtung ein: eine Beziehung zu Christus und zum Menschen, eine Verpflichtung gegenüber Christus und gegenüber den Menschen. Christliches Leben ist Gemeinschaft (engl. communion) mit Gott und Gemeinschaft (engl. community) mit den Menschen.

Zwischen Glauben und Liebe besteht eine doppelte Beziehung. In Epheser 6,23 betet Paulus um Liebe mit Glauben für seine Brüder, und in Galater 5,6 spricht er vom Glauben, der durch die Liebe tätig ist. Vielleicht kann es auch so gesagt werden: Liebe ohne Glauben ist Sentimentalität, und Glaube ohne Liebe ist Leblosigkeit. Die Liebe gründet sich auf den Glauben, und umgekehrt empfängt der Glaube sein Feuer von der Liebe. Ohne Liebe wird Glaube zum Intellektualismus, und der Theologe wird ein Mann, der, wie Anatole France es ausdrückt, noch nie aus dem Fenster geschaut hat.

Diese Verbindung des Glaubens und der Liebe muss Tätigkeit hervorbringen, denn Liebe darf niemals geheuchelt sein (Röm. 12,9). Es ist durchaus möglich, Liebe zu predigen und ein Leben ohne Liebe zu leben, die Liebe mit Worten zu preisen und durch die Tat zu verleugnen. Die Liebe wird vor allem zweierlei hervorbringen. Sie will praktische Grosszügigkeit wirken. Als Paulus eine Sammlung für die bedürftigen Gläubigen in Jerusalem veranstaltete, appellierte er wiederholt an die jungen Gemeinden, die Echtheit ihrer Liebe zu zeigen und einen Beweis für ihre Liebe durch die christliche Freigebigkeit zu liefern (2 Kor 8,7.24). Liebe bewirkt auch Vergebung. Paulus ermahnt die Korinther, gerade an dem Liebe und Vergebung zu üben, der sie betrübt hat (2 Kor 2,7-8). Glaube und Liebe müssen fest miteinander verbunden sein und sich durch eine freigebige Hand und ein vergebendes Herz auszeichnen.

Nun wollen wir überlegen, welche Rolle diese grundlegende christliche Tugend im Leben des Christen spielt.
1. Liebe ist die Grundstimmung des christlichen Lebens. Der Christ, sagt Paulus, soll in der Liebe wandeln (Eph 5,2). Jeder Mensch verbreitet eine ihm eigene Atmosphäre, sonnig und freundlich vielleicht, eine Atmosphäre, die den Mitmenschen umhüllt wie einen warmen Mantel, oder auch kühl und abweisend, eine Atmosphäre, die wie eine kalte Dusche wirkt. Der Christ soll in jeder Situation Güte und Wohlwollen ausstrahlen. Paulus sagt, die Liebe sei die Kleidung des Christen, und er ermahnt die Kolosser, diese Liebe anzuziehen (KoI 3,14).

2. Die Liebe ist das Motiv des christlichen Lebens. Paulus schreibt den Korinthern (1 Kor 16,14): „Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen!“ Die Bergpredigt macht sehr deutlich, wie wichtig die Beweggründe unseres Handelns sind (Mt 5,21-48). So kann man zum Beispiel freigebig sein, um Ansehen gewinnen zu wollen. Es gibt eine Art, Mitmenschen zu warnen und auf ihre Fehler aufmerksam zu machen, die erkennen lässt, dass das Motiv die Freude am Verletzen ist. Es gibt sogar eine Art zu arbeiten und zu dienen, die dem Stolz entspringt. Eine der Pflichten, die im christlichen Leben immer wieder vernachlässigt werden, ist die Selbstprüfung; vielleicht geschieht das deshalb, weil sie eine so demütigende Übung ist. Vielleicht stellen wir dabei fest, dass wir kaum etwas aus reinen und unverfälschten Beweggründen tun. Trotzdem müssen wir uns immer wieder die Norm unseres Lebens vor Augen halten, den Grundsatz, dass die Liebe das einzige Motiv des Christen sein soll.

3. Liebe ist das Geheimnis christlicher Einheit. Christen sind durch die Liebe zusammengefügt (KoI 2,2). Das Bemerkenswerte an dieser Liebe ist, dass sie allumfassend ist. Sie ist zunächst Liebe zu den Heiligen, zu den Glaubensgenossen (Eph 1,15; Kol 1,4; 1 Thess 3,12; 5,12-13). Die einzige Gabe, die Paulus je von den Gemeinden erbat, war die Fürbitte für ihn, das Mittragen im Gebet (Röm 15,30). Schliesslich erstreckt sich die christliche Liebe auf alle Menschen. Die Christen sollen in der Liebe untereinander und zu allen Menschen wachsen (1 Thess 3,12). Manche Glaubensgemeinschaften wollen das Christentum auf ihren Kreis beschränkt sehen, gebunden an ihre Traditionen und ihre eigenen, engen Vorstellungen. Aber die christliche Liebe sucht alle Menschen einzuschliessen, sie will alle durch das eine Evangelium zu Christus bringen.

4. Es gibt drei verwandte Bereiche, in welchen diese Liebe wirkt.

a) Liebe ist die Sprache der christlichen Wahrheit. Der Christ muss selbstverständlich die Wahrheit lieben (2 Thess 2,10), aber er muss sie immer in Liebe sagen (Eph 4,15). Es ist leicht, die Wahrheit so zu verkünden, dass sie verletzt und verwundet; man kann auch Vergnügen daran finden, einen Menschen unter der Last der Wahrheit leiden zu sehen. „Die Wahrheit“, sagten die Zyniker, „ist wie das Licht für ein entzündetes Auge.“ Wahrheit mag hart sein, die Liebe macht sie erträglich. Die Wahrheit, gesagt um zu verletzen, kann nur Unwillen erregen, aber Wahrheit in Liebe gesprochen, kann heilsame Reue wirken.

b) Der Christ wird stets an die Liebe appellieren. Das tat Paulus, als er bei Philemon für den entlaufenen Sklaven eintrat (Phlm 7). Er appellierte an die Liebe, als er um die Gebete der Gemeinde in Rom bat, ehe er nach Jerusalem abreiste (Röm 15,30). Der Christ wird nie zu Gewaltmassnahmen greifen; selten wird er die Staatsanwaltschaft anrufen. Die Waffe des Christen ist immer der Appell an die Liebe und nicht die Forderung nach Gewalt.

c) Liebe ist der Beweggrund der christlichen Verkündigung. Selbst wenn Christus streng und hart spricht, tut er es doch aus Liebe. Liebe und Mitleid sprechen aus seiner Klage über Jerusalem (Mt 23,37). Vielleicht ist Matthäus 23 das am meisten missverstandene Kapitel der Bibel. Hier richtet Jesus seine schrecklichen Wehrufe gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Wenn man dieses Kapitel liest, stellt man sich gemeinhin vor, dass Jesus mit flammender Leidenschaft und weissglühend vor Zorn gesprochen habe. „Weh euch!“, ruft Jesus aus (Mt 23,23ff). Im Griechischen steht hier das Wort oyai, das eine Wehklage ausdrückt. Das wiederholte „Weh euch!“ des Herrn ist also nicht die Sprache leidenschaftlichen Zorns, sondern die der herzzerbrechenden Liebe. Manchmal erwecken Prediger den Eindruck, als ob sie ihre Zuhörer hassten. Sie überfallen sie mit einer Ladung von Drohungen, dass man glauben könnte, es mache ihnen Freude, sie alle verdammt zu sehen. Man erzählt sich, dass einmal ein Mann gefragt wurde, warum er die Versammlungen einer bestimmten Gemeinde nicht mehr besuche, und er soll geantwortet haben: „Ich habe es satt, mir jeden Sonntag eine Handvoll Steine ins Gesicht werfen zu lassen.“ Die Menschen nehmen das Evangelium eher an, wenn man liebend um sie wirbt, statt sie zu beschimpfen. Man kann sie viel eher in den Himmel „hineinlieben“ als sie durch Drohungen aus der Hölle retten.

5. Liebe kontrolliert die christliche Freiheit. Diese Freiheit soll keine Entschuldigung für Zügellosigkeit sein, sondern eine Verpflichtung zu gegenseitigem Dienst (Gal 5,13). Viele Dinge sind für den im Glauben Stärkeren keine Gefahr, er kann sie sich ohne weiteres mit gutem Recht erlauben. Aber er enthält sich ihrer, weil er seinen im Glauben schwächeren Bruder liebt und ihm nicht durch sein schlechtes Beispiel zum Verderben werden will (Röm 14,15). Wenn Liebe die Grundlage des Lebens ist, dann ist Verantwortung der Hauptgedanke. Die christliche Freiheit ist durch die Verpflichtung christlicher Liebe eingeschränkt.

6. Diese christliche Liebe ist keine oberflächliche Gefühlsregung. Sie ist nüchtern und sieht die Dinge wie sie sind. Der Apostel Paulus betete für die Philipper, dass ihre Liebe mehr und mehr reich werde an Erkenntnis und aller Erfahrung, dass sie prüfen mögen, was das Beste sei (Phil 1,9-10). Mit der christlichen Liebe beginnt im Leben eine neue Wahrnehmungsfähigkeit für die Gefühle, die Bedürfnisse und Schwierigkeiten der Mitmenschen, ein neues Bewusstsein des Guten und ein Widerwille gegen die Sünde. Christliche Liebe ist nicht blind, vielmehr lehrt sie, den Menschen mit einer Lebendigkeit und einer Intensität zu sehen, die er vorher nie erlebte.

Diese Liebe ist auch stark. In den Briefen des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth wird das Wort Liebe zweimal in einer sehr interessanten Weise gebraucht. In 2. Korinther 2,4 erwähnt Paulus die ernsten und strengen Worte, die er der Gemeinde zu einem früheren Zeitpunkt geschrieben hatte. Dieser frühere Brief hatte den Korinthern Sorge und Schmerz bereitet. Und nun schreibt der Apostel, dass dieser Brief nicht geschrieben worden sei, um ihnen Schmerz zu bereiten, sondern um ihnen seine Liebe zu beweisen. Der letzte Satz des ersten Korintherbriefes lautet: „Meine Liebe ist mit euch allen in Christus Jesus!“ Die Briefe an die Korinther sind keineswegs sentimental. Sie üben Disziplin, sie übermitteln Tadel, es wird nicht gezögert, mit Strafe zu drohen, sie weisen ernsthaft zurecht, sie fordern sogar die Ausstossung des Unruhestifters aus der Gemeinde - und doch wurden sie aus Liebe geschrieben.

Im NT wird Liebe nicht so verstanden, dass man einen Menschen dahinleben lässt, wie es ihm gefällt. Es wird vielmehr klar herausgestellt, dass manchmal Tadel, Zorn und Strafe zur Liebe gehören.

7. Offenbar ist es nicht leicht, diese christliche Liebe in sich zu entwickeln und danach zu handeln. In 1. Korinther 14,1 gebraucht Paulus einen sehr bezeichnenden Ausdruck. Luther übersetzt: „Strebt nach der Liebe!“ Christliche Liebe fällt uns nicht in den Schoss. Sie muss gesucht, verlangt und erstrebt werden. Sie ist keine Eigenschaft, die man ganz von selbst besitzt. Sie ist das höchste Ziel des christlichen Lebens. Man kann sogar sagen, dass es nicht nur schwer ist, eine solche Liebe zu erlangen, sondern, menschlich gesprochen, unmöglich ist. Christliche Liebe ist keine menschliche Errungenschaft, sondern ein Teil der Frucht des Geistes. Sie wird durch den heiligen Geist in unsere Herzen gegossen.

Beschliessen wir unsere Betrachtung über die Liebe mit einem Wort des Apostels Paulus, das die christliche Liebe deutlich macht: „Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlangt von Herzensgrund in Christus Jesus“ (Phil 1,8). Wenn man es genau nimmt, bedeutet das: Ich liebe euch mit der Liebe Christi. Durch mich und in mir liebt euch Christus. Meine Liebe zu euch ist nichts anderes als die Liebe Christi selbst.

Schliesslich müssen wir sagen, dass christliche Liebe nur dort entsteht, wo Christus sich in einem Menschen verkörpert, der sich ihm ganz hingegeben hat.

 

Links:

- Griechise Begriffe1-01: Agape, Agapan - die grösste Tugend

- Lernen zu lieben-05: Die Agape-Liebe