Begriffe1-06: Ekklesia – die Gemeinde Gottes

Griechische Begriffe 1

6.  Ekklesia = Gemeinde

von William Barclay

 

Ekklesia ist das neutestamentliche Wort für Kirche (Gemeinde, Gemeindeversammlung) und ist daher eins der wichtigsten Wörter des ganzen Neuen Testamentes. Wie so viele Begriffe im NT hat es einen zweifachen Hintergrund.

1. hat das Wort ekklesia eine griechische Vorgeschichte. In den grossen klassischen Tagen Athens bildeten die amtlich zusammengerufenen Männer die ekklesia. Diese Versammlung bestand aus allen Bürgern der Stadt, die nicht ihre bürgerlichen Rechte verloren hatten. Abgesehen von der Tatsache, dass ihre Entscheidungen mit den Gesetzen des Staates übereinstimmen mussten, war ihre Macht in jeder Hinsicht unbegrenzt. Sie wählte und entliess den Magistrat und bestimmte die Politik der Stadt. Sie bestimmte über Krieg und Frieden, schloss Verträge und organisierte Bündnisse, sie wählte Generäle und andere militärische Beamte; sie beorderte Truppen zu den verschiedenen Feldzügen. Schliesslich war die Bürgerversammlung verantwortlich für die Führung militärischer Operationen. Sie erhob Gelder und bestimmte deren Verwendungszweck. Zwei interessante Dinge sind hier noch zu bemerken. Erstens begannen alle Versammlungen mit Gebet und Opfer. Zweitens war es eine echte Demokratie. Ihre Losung war Gleichheit (isonomia) und Freiheit (eleutheria). Es war eine Versammlung, in der jeder gleiche Rechte und gleiche Pflichten hatte. Wenn die Versammlung einen Fall zu verhandeln hatte, der das Recht eines einzelnen Bürgers betraf, wie im Falle des Scherbengerichts und der Verbannung, so mussten mindestens 6000 Bürger anwesend sein. In der ganzen griechischen Welt bedeutete ekklesia jede ordnungsgemäss einberufene Versammlung der Bürger. Es ist interessant, dass die Römer dieses Wort ekklesia nicht zu übersetzen versuchten, sie gaben es einfach mit lateinischen Buchstaben (ecclesia) wieder und gebrauchten es in derselben Weise. In Athen wurde eine interessante zweisprachige Inschrift aus den Jahren 103 v. Chr. – 4 n. Chr. gefunden. Man kann sie als Gegenstück zu Apg 18 lesen. Danach hatte ein gewisser Gaius Vibius Salutaris der Stadt einige Standbilder, darunter eines der Göttin Diana, geschenkt. Die Inschrift besagt, dass diese Standbilder bei jeder ekklesia der Stadt im Theater aufzustellen seien. Für Griechen und Römer gleicherweise war das Wort im Sinne einer „amtshalber einberufenen Versammlung“ bekannt.

2. Ekklesia hat auch eine hebräische Vorgeschichte. In der Septuaginta wird das hebräische Wort qahal mit ekklesia wiedergegeben. Qahal bedeutet vorladen, zusammenrufen. Es wird regelmässig benutzt für die Versammlung oder die Gemeinde der Israeliten. In 5. Mose 18,16 und Richter 20,2 wird es mit Versammlung übersetzt, in 1. Könige 8,14; 3. Mose 10,17 und 4. Mose 1,16 mit Gemeinde. In der Septuaginta ist es allgemein gebräuchlich; es erscheint dort mehr als 70mal. Nach der hebräischen Auffassung bezeichnet es also das Volk Gottes, das von Gott zusammengerufen wurde, um zu hören, was Gott zu sagen hatte, oder im Auftrag Gottes zu handeln. Das Wort Gemeinde gibt nicht ganz die vollkommene Bedeutung von ekklesia wieder, es verliert etwas von dem vollen Sinn des Wortes. Eine Gemeinde ist eine Gruppe von Menschen, „die zusammengekommen sind“; eine qahal oder eine ekklesia ist eine Gemeinschaft von Menschen, „die zusammengerufen wurden.“ Beide ursprünglichen Wörter aber, das hebräische sowohl wie das griechische, betonen das Handeln Gottes.

F. J. A. Hort stellt sehr richtig fest, dass ursprünglich das Wort nicht, wie oft behauptet wird, eine Gruppe von Menschen darstellt, die aus der Welt ausgewählt wurden. Es hat nicht diesen ausschliessenden Charakter. Es meint eine Gruppe von Menschen, herausgerufen aus ihren Häusern, um zusammen zu kommen und Gott zu begegnen; und im ursprünglichen griechischen und hebräischen Sprachgebrauch hatte dies nicht ausschliessende, sondern umfassende Bedeutung. Die Gerufenen bildeten nicht eine Elite; es war der Ruf des Staates an jeden, zu kommen und seine Verantwortung zu tragen; es ist der Befehl Gottes an jeden, zu kommen und auf sein Wort zu hören und diesem Wort gemäss zu handeln.

Die Quintessenz ist demnach folgende: Die Gemeinde, die ekklesia, ist eine Gemeinschaft von Menschen, die sich nicht so sehr aus eigenem Antrieb versammeln, sondern weil Gott sie zu sich ruft; nicht so sehr, um ihre eigenen Gedanken und Meinungen auszutauschen, sondern um Gottes Wort zu hören.

Das Wort ekklesia wird im NT in verschiedener Hinsicht gebraucht. Erstens bedeutet es die „universale Kirche“ (1 Kor 10,32; 12,28; Phil 3,6). Zweitens bezeichnet es eine „bestimmte örtliche Gemeinde“ (Röm 16,1; 1 Kor 1,2; Gal 1,2), drittens zeigt es „die tatsächliche Versammlung“ der Gläubigen, die irgendwo zum Gottesdienst zusammenkommen (1 Kor 11,18; 14,19; 14,23). Es scheint, dass der Apostel Paulus die Akzente im Verlauf seiner Arbeit verschieden gesetzt hat. In seinen frühen Briefen hat er mehr an die einzelnen Gemeinden gedacht; so spricht er z. B. von der „ekklesia der Thessalonicher“ (1 Thess 1,1; 2 Thess 1,2). Aber später nennt er die „ekklesia Gottes, die in Korinth ist“ (1 Kor 1,2). Mit der Zeit dachte Paulus nicht mehr so sehr an die einzelnen, räumlich getrennten Gemeinden, sondern vielmehr an die eine grosse, universale Gemeinde, von der jede örtliche Gemeinde ein Teil ist. Sir William Ramsay sah im römischen Reich ein Vorbild dessen, was Paulus im Sinn gehabt haben mag. Jede Gruppe römischer Bürger, die sich irgendwo in der Welt zusammenfand, war ein conventus civium Romanorum, „eine Versammlung römischer Bürger!“ Wo immer sie zusammenkommen mochten, waren sie ein Teil des grossen römischen Staatswesens. Sie besassen keine Bedeutung getrennt von Rom; sie waren Teil einer grossen Einheit. Jeder römische Bürger, der in ihre Stadt kam, war automatisch, ohne besondere Einführung, ein Glied dieser Gruppe. Eine solche Gruppe konnte räumlich von Rom getrennt sein, aber dem Geiste nach gehörte sie dazu. Dieses Beispiel beschreibt genau und treffend die Gedanken des Apostels Paulus über die Gemeinde.

Im NT erscheint die Gemeinde in dreierlei Beziehungen.
1. Manchmal wird ihre menschliche Seite betont. So spricht Paulus z. B. von der Gemeinde der Thessalonicher (1 Thess 1,1; 2 Thess 1,2). In einer Weise wird die Gemeinde ja von Menschen gebildet und ist für sie da. Menschen sind die Bausteine, aus denen die Kirche besteht. Es ist bemerkenswert, dass im NT das Wort Kirche nie ein Gebäude bezeichnet. Es beschreibt immer eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die ihr Herz Gott gegeben haben.

2. Viel öfters wird die Gemeinde in göttlichen Begriffen beschrieben. Die bei weitem gebräuchlichste Beschreibung ist Gemeinde Gottes (1 Kor 1,2; 2 Kor 1,1; Gal 1,13; 1 Thess 2,14; 1 Tim 3,5.15). Die Gemeinde gehört Gott und kommt von Gott. Wäre die Liebe Gottes nicht gewesen, so gäbe es keine Gemeinde. Hätte Gott nicht sich selbst uns mitgeteilt, so gäbe es keine frohe Botschaft und keine Hilfe in der Gemeinde.

3. Manchmal wird sie als die Gemeinde Christi dargestellt.

a)  In diesem Zusammenhang ist Christus das Haupt der Kirche (Eph 5,23-24). Die Gemeinde sollte leben und wirken im Sinne Christi und nach seinem Willen.

b)  Die Gemeinde ist der Leib Christi (Kol 1,24). Christus handelt durch seine Gemeinde. Sie muss die Hände darstellen, die für ihn arbeiten, die Füsse, die seinen Auftrag ausführen, die Stimme, die für ihn spricht. Ein Inder beschrieb die Gemeinde als „die Gemeinde, die das Leben Jesu weiterführt.“

Ein letzter Punkt ist noch zu bemerken. In der Zeit des Neuen Testaments besassen die Gemeinden keine Gebäude. Die Christen versammelten sich in irgendeinem Haus, das einen genügend grossen Raum besass, um sie alle aufzunehmen. Diese Zusammenkünfte wurden „Hausgemeinden“ genannt (Röm 16,5; 1 Kor 16,19; Kol 4,15; Phil 2). Jede christliche Familie sollte eigentlich in einer bestimmten Hinsicht eine Gemeinde sein. Christus ist ebenso Herr bei unseren Mahlzeiten zu Hause, wie er es beim Abendmahl ist. Es wird immer so sein, dass diejenigen am besten zusammen beten können, die zuerst zu Hause für sich allein beten.