Begriffe1-30: Splagchnizesthai – göttliches Erbarmen

Griechische Begriffe 1

30.  Splagchnizesthai = Erbarmen

 von William Barclay

 

Manche Wörter bergen umwälzende Gedanken in sich; splagchnizesthai ist ein solches Wort. Es bedeutet von Mitgefühl bewegt werden. Obwohl es kein klassisches Wort ist, enthält es doch klassische Gedanken. Das Verb splagchnizesthai kommt von dem Substantiv splagchna, das die wichtigsten inneren Organe des menschlichen Körpers, Herz, Lunge, Leber und die Därme bezeichnet (Apg 1,18). Die Griechen dachten, diese Organe seien der Sitz der Gefühle, vor allem von Zorn, Furcht und sogar Liebe. Herkules beklagte sich bei Admetus und sagt: „Mit freier Lippe rede stets der Freund zum Freund, Admetos, und verschliesse nicht den Tadel stumm im Busen - splagchna“ (Euripides, Alkestis 1008-1010). Als der Chor die Klagen Elektras vernimmt, antwortet er: „Deine Rede hat meine splagchna mit Trübsinn erfüllt“ (Äschylos, Choephori 413). Splagchna bezeichnet also im klassischen Griechisch die inneren Teile eines Menschen, die der Sitz der tiefsten Gefühle sind. Aus diesen Gedanken formte sich im späteren Griechisch das Verb splagchnizesthai - von Mitgefühl bewegt werden. An seiner Abstammung können wir erkennen, dass es kein oberflächliches Bedauern bezeichnet, sondern ein Gefühl, das den Menschen bis ins tiefste Innere erschüttert. Es ist das stärkste griechische Wort für Mitgefühl.

Im NT kommt das Wort ausserhalb der Synoptiker (Matthäus, Markus, Lukas) nicht vor, und mit Ausnahme von drei Beispielen in Gleichnissen wird es immer für Jesus gebraucht. In den Gleichnissen kennzeichnet es den barmherzigen Gläubiger (Mt 18,33), das Mitleid des Vaters, der seinen verlorenen Sohn willkommen heisst (Lk 15,20) und das Mitgefühl des barmherzigen Samariters (Lk 10,33). In allen andern Fällen wird es für Jesus selbst gebraucht.

Jesus wurde von Mitgefühl bewegt, als er die Volksmenge sah, die wie eine Herde Schafe ohne Hirte war (Mt 9,36, vgl. Mk 6,34) und als er ihren Hunger und ihre Not in der einsamen Gegend sah (Mt 14,14; 15,32; Mk 8,2). Es wird auch für das Mitgefühl Jesu, das er mit dem Aussätzigen hatte, gebraucht (Mk 1,41), für sein Mitgefühl für die zwei Blinden (Mt 20,34) und sein Mitleid mit der Witwe zu Nain, deren einziger Sohn gestorben war (Lk 7,13). Der Vater des Epileptikers appelliert an das Mitleid Jesu (Mk 9,22).

Zwei interessante Merkmale können wir hier in dem Gebrauch des Wortes erkennen. Erstens zeigt es uns die Dinge im menschlichen Leben, die das Mitgefühl Jesu hervorriefen.

1. Jesus wurde durch die geistliche Verlorenheit der Volksmenge bewegt. Sie waren wie Schafe ohne Hirten. Jesus war nicht verärgert wegen ihrer Torheit, er wurde nicht zornig über ihre Trägheit, sondern sie taten ihm leid. Er sah sie als Ernte, die es für Gott einzubringen galt (Mt 9,37-38). Die Pharisäer sagten: „Ein Mensch, der das Gesetz nicht kennt, ist verdammt.“ Sie waren fähig zu sagen: „Es herrscht Freude im Himmel über jeden Sünder, der vernichtet wird.“ Jesus empfand nichts als Mitleid im Angesicht der Verlorenheit der Menschen, obwohl sie selbst an ihrem Elend schuld waren. Er sah die Menschen nicht als verdammungswürdige Verbrecher, sondern als verirrte Wanderer, die man finden und nach Hause bringen muss. Er betrachtete sie nicht als Spreu, die man verbrennt, sondern als die Ernte, die für Gott eingebracht werden muss.

2. Jesus wurde von dem Hunger und der Qual der Menschen bewegt. Eine hungrige, müde Volksmenge, blinde und aussätzige Menschen erregten sein Mitgefühl. Jesus betrachtete solche Menschen nicht als Plage, sondern immer als Hilfsbedürftige. Eusebius beschreibt Jesus, unbewusst oder beabsichtigt, mit einem Zitat von Hippokrates, dem Begründer der griechischen Medizin: „Er war wie ein ausgezeichneter Arzt, der, um heilen zu können, das Abstossende genau untersucht, die Wunden behandelt und die Qualen der anderen mitempfindet“ (Kirchengeschichte 10.4.11). Jesus war den Leidenden gegenüber nie gleichgültig, er verabscheute sie nicht und empfand selbst vor den schlimmsten Krankheiten keinen Ekel. Vielmehr empfand er mit allen Leidenden und Elenden Mitleid, das sich im Helfen äusserte.

3. Jesus wurde durch die Traurigkeit anderer bewegt. Als er dem Trauerzug vor Nain begegnete, erschütterte ihn das Geschick der Witwe. Er verschloss sich nicht vor dem Leid, es liess ihn nicht gleichgültig; die Traurigkeit der Witwe wurde seine eigene. Die Grösse Jesu lag auch in seiner Bereitschaft, sich in die menschliche Lage zu versetzen. Die ganze Bitterkeit der Situation erregte sein Mitgefühl, das ihn zum Helfen und Heilen bewog.

Das Wort splagchnizesthai hat aber noch eine viel grössere Bedeutung als den einfachen Hinweis, dass Jesus durch die bittere menschliche Lage zutiefst erschüttert wurde. Das Bemerkenswerte an diesem Wort ist, dass es für einen Griechen vollkommen ausgeschlossen war, es mit einem göttlichen Wesen in Verbindung zu bringen. Nach den Stoikern - und sie waren die grössten Denker ihrer Zeit - ist das wesentliche Kennzeichen Gottes apatheia. Damit meinten sie nicht apathisch im Sinne von gleichgültig, sondern die völlige Unfähigkeit zum Fühlen. Ihre Argumentation war folgendermassen: Wenn ein Mensch Traurigkeit oder Freude empfinden kann, so bedeutet das, dass irgend jemand ihm Traurigkeit oder Freude bereitet. Das heisst, dass jemand ihn beeinflussen kann, dass jemand seine Gefühle ändern, ihn traurig oder glücklich stimmen kann; es heisst, dass jemand Macht über ihn hat und deshalb, wenigstens für den Augenblick, grösser ist als er. Wenn Gott Traurigkeit oder Freude über etwas empfinden könnte, das dem Menschen widerfährt, so würde es bedeuten, dass der Mensch Gott beeinflussen kann, dass der Mensch Macht hat über Gott. Aber es ist unmöglich, dass irgend jemand über Gott Macht haben kann, denn es gibt keinen Grösseren als Gott. Daher kann Gott keine Gefühle haben, er muss vollkommen ohne Gefühl sein, er muss im wahrsten Sinne des Wortes apathisch sein. Die Griechen glaubten an einen solchen Gott, der nicht fühlen kann. Für sie war ein göttliches Wesen, das von Mitleid getrieben wurde, unvorstellbar.

Als Apuleius über den Gott des Sokrates schrieb, sagte er, dass nach den Gedanken Platons „Gott und der Mensch sich niemals finden können. Ein Stein wird mich leichter hören als Jupiter.“ Wenn Gott wirklich Gott ist, dann ist er unfähig Gebete zu hören oder Mitleid zu empfinden. Auch Plutarch stellte sich Gott als vollkommen erhaben über jeglichen Kontakt mit dem Universum vor. Jegliche Verbindung mit dem Göttlichen ist nur durch Mittler - die Dämonen möglich. Er schreibt: „Wer Gott mit den menschlichen Nöten behelligt, missachtet seine Majestät, er achtet nicht die Würde und Grösse der Hoheit Gottes“ (De defectu oraculorum 9,414). Wie Plutarch es sah, war es für Gott unmöglich, Gott zu sein und doch, auch nur im geringsten, etwas mit menschlichen Angelegenheiten zu tun zu haben. Einem solchen Denker schien es unglaublich, dass Gott von Mitleid bewegt werden könnte.

Aber die christliche Anschauung betont gerade das Mitleid Gottes sehr stark. Clemens von Alexandrien sagt: „Gott ist reich an Mitleid. Gott ist in der Tat - wie wir es bildlich wunderbar ausdrücken können - ganz Ohr und ganz Auge“ (Stromata 2.74.4; 7.37.6). Er sagt von dem Logos, dem Wort Gottes, dass es, obwohl es nach seinem Wesen von Ewigkeit her ohne Leidenschaft war, „um unseretwillen Fleisch ward mit der Fähigkeit zum Leiden und Fühlen“ (Stromata 5.40.3). Für ihn ist das Wesentliche an der christlichen Botschaft die Tatsache, dass Gott es freiwillig auf sich nahm, mit und für die Menschen zu fühlen.

Das Schreckliche an der heidnischen Ethik war, dass die Stoiker lehrten, der Mensch solle danach trachten, wie Gott zu werden, ohne Sorge und Mitgefühl. Wenn der Mensch Frieden finden wolle, so müsse er jegliches Gefühl verbannen. Epiktet schreibt darüber, wie wir uns darin üben sollen, bei einem Verlust nichts zu empfinden: „Das sollte unser Bestreben vom Morgen bis zum Abend sein, angefangen bei dem letzten, zerbrechlichsten irdenen Gefäss oder Glas, danach weitergehend zu Kleidung, einem Hund, einem Pferd, Besitztum, von da zu uns selbst, unserem Körper, Teilen unseres Körpers, Kindern, Frau, Brüdern.“ Verliere alles, sieh deine Nächsten und Liebsten sterben und sage: „Ertrage und entsage!“

Die heidnische Religion glaubte also an einen Gott, der unfähig war, Mitleid zu empfinden. Die heidnischen Ethiker dachten, das höchste Ziel sei ein Leben, aus dem jegliches Mitgefühl ein für allemal verbannt ist. Der Gedanke eines Gottes, der von Mitleid und mitfühlender Liebe bewegt wird, muss einer solchen Welt buchstäblich als neue Offenbarung erschienen sein. Wir betrachten es als selbstverständlich, dass Gott Liebe ist, dass auch das Leben eines Christen Liebe ausstrahlt. Wir sollten uns aber immer daran erinnern, dass wir nichts davon wüssten ohne die Offenbarung Jesu Christi, von dem so oft und so wundervoll berichtet wird, dass er von tiefem Mitgefühl ergriffen wurde.