Begriffe1-31: Xenos – der Christ und die Welt

Griechische Begriffe 1

31.  Xenos = Fremder

von William Barclay

 

Es gibt eine Gruppe neutestamentlicher Wörter, die Inbegriff der christlichen Einstellung zur Welt geworden sind. Sie beschreiben alle einen Menschen, der ein Pilger ist, ein Gast, ein Fremder, der kein ständiger Ansässiger ist.

Das erste Wort in dieser Gruppe ist xenos. Im klassischen Griechisch bezeichnet es einen Fremden, einen Ausländer; es steht im Gegensatz zu polites - Bürger des Landes, epichorios - Einwohner des Landes und endemos - Eingeborener des Landes. Es kann sogar Wanderer und Flüchtling bedeuten.

Im NT wird es im Gleichnis gebraucht für den Fremden, dem die einen Hilfe zuteil werden liessen und die anderen nicht (Mt 25,35.38.43-44). Der Acker, der von dem Blutgeld des Judas gekauft wurde, war zum Begräbnis der Fremden bestimmt (Mt 27,7). Die Athener waren an Paulus interessiert, denn er predigte fremde Götter (Apg 17,18). Die Bürger von Athen und auch die Fremdlinge, die dort wohnten, waren von allem Neuen begeistert (Apg 17,21). Die Heidenchristen waren vor ihrer Bekehrung fremd den Testamenten der Verheissung (Eph 2,12). Die Empfänger des Hebräerbriefes sollten sich vor fremden Lehren hüten (Hebr 13,9). Petrus bittet die Christen, sich durch die Leiden, die über sie kommen, nicht befremden zu lassen (1 Petr 4,12). Johannes stellt die einheimischen Brüder in Gegensatz zu den fremden (3 Joh 5). Die Stelle, die dem Wort seine stärkste Aussagekraft und Bedeutung im christlichen Denken gibt, findet sich im Hebräerbrief, wo es heisst, dass die Erzväter ihr ganzes Leben lang Fremdlinge und Gäste waren (Hebr 11,13). Genauso ist der Christ ein xenos, ein Fremdling in dieser Welt.

In der alten Welt hatte ein Fremder es nicht leicht. In den Papyri berichtet ein Mann, dass er von allen verachtet wurde, „weil ich ein xenos, ein Fremder bin.“ Ein anderer schreibt an seine Familie: „Sorgt euch nicht darüber, dass ich von zu Hause fort bin, denn ich bin persönlich vertraut mit diesen Plätzen und bin kein xenos, kein Fremder hier.“ Zu jener Zeit waren Vereine und Klubs, in denen man zu gemeinsamem Essen zusammenkam, sehr verbreitet; und diejenigen, die sich dort trafen, wurden unterteilt in syndeipnoi - Mitglieder und xenoi - Fremde, die nur aus Höflichkeit als Gäste geduldet wurden. Ein Söldner, der in der Armee eines anderen Volkes diente, war ein xenos, ein Fremder (Xenophon, Anabasis 1.1.10). In Sparta wurde ein Fremder automatisch als Barbar betrachtet. Xenos und barbaros war ein und dasselbe (Herodot 9.11).

Hieraus können wir klar erkennen, dass der Christ in dieser Welt immer ein Fremder ist. Er ist hier nie zu Hause, er kann diese Welt nie als bleibende Heimat betrachten. Aus diesem Grund kann er immer wieder missverstanden werden. Man wird ihn immer als Aussenseiter betrachten, als einen, der sonderbare Wege geht, im Gegensatz zu allen anderen Menschen. Solange wie die Welt besteht, wird der Christ ein Fremder in ihr sein, denn sein Bürgerrecht (Luther: Heimat) ist im Himmel (Phil 3,20).

Das zweite Wort, das die Stellung des Christen in dieser Welt beschreibt, ist parepidemos. Im klassischen Griechisch bezeichnet dieses Wort einen Menschen, der sich für eine begrenzte Zeit irgendwo niedergelassen hatte, ohne ein ständiges Heim zu gründen. Im NT wird es für die Patriarchen gebraucht, die nie einen ständigen Wohnort hatten, sondern Fremdlinge und Gäste waren (Hebr 11,13). Petrus benutzt es für die Christen in Kleinasien; sie waren Fremdlinge, die im Land zerstreut wohnten, sie waren Vertriebene (1 Petr 1,1). Er fordert sie auf, sich von fleischlichen Lüsten zu enthalten, eben weil sie Fremdlinge und Pilger sind (1 Petr 2,11). In derselben Weise wird das Wort in der Septuaginta gebraucht. Als Sarah starb, ging Abraham zu den Hethitern und bat sie um ein Stück Land, worin er seine Frau begraben könnte. Er sagt: „Ich bin ein Fremdling und Ausländer unter euch“ (1. Mose 23,4). Der Psalmist nennt sich selbst einen Gast und Fremdling, wie alle seine Väter gewesen sind (Ps 39,13).

Die Griechen, die in Rom lebten, nannten sich parepidemoi (Polybius 32.22.4). In den Papyri bittet ein Mann um Genehmigung parepidemein pros kairon - vorübergehend in einer bestimmten Stadt wohnen zu dürfen; einem anderen wird die Aufenthaltsgenehmigung erteilt, aber er darf nicht parepidemein für mehr als 20 Tage - sein vorübergehender Aufenthalt darf nicht länger als 20 Tage dauern.

Es liegt im Wesen des Christen begründet, dass er ein Wanderer in dieser Zeit ist. Er ist ein Mensch, der unterwegs ist. Er lebt zwar hier, aber seine Wurzeln sind nicht in dieser Welt, seine Heimat ist woanders. Er lebt als einer, der immer das Jenseits im Auge hat. Diese Auffassung vom Leben war den grossen Griechen nicht unbekannt. Marcus Aurelius sagt: „Das Leben ist ein Kampf und ein vorübergehender Aufenthalt - parepidemia in einem fremden Land.“ Diogenes Laertius berichtet von einem Ausspruch des Anaxagoras: „Er besass grossen Reichtum, war von edler Geburt und hatte einen hochherzigen Charakter, indem er sein väterliches Erbe seinen Verwandten überliess. Als sie ihn beschuldigten, sein Erbe zu missachten, entgegnete er: ‚Warum kümmert ihr euch nicht darum?’ Schliesslich zog er sich ganz zurück und widmete sich wissenschaftlichen Untersuchungen, ohne sich noch um öffentliche Angelegenheiten zu kümmern. Wenn ihn jemand fragte: ‚Hast du kein Interesse an deinem eigenen Land,’ antwortete er sanftmütig: ‚Ich habe das grösste Interesse an meinem Vaterland’ und deutete zum Himmel.“ Epiktet (2.23.36ff.) zeichnet ein Bild des Lebens, wie er es sieht: „Der Mensch handelt wie ein Reisender, der auf dem Weg in sein Heimatland ist. Er macht an einem ausgezeichneten Gasthaus halt, und da es ihm zusagt, bleibt er. ,Mensch, du hast dein Ziel vergessen, du wolltest hier nur durchreisen!’ ,Aber das ist ein gutes Gasthaus!’ Doch wie viele andere Gasthäuser sind gut, trotzdem sind sie nur zum Durchreisen bestimmt.“ Epiktet sah die Erde nicht als Ziel der Reise, sondern als Rasthaus am Wege.

Parepidemos bezeichnet also einen Menschen, der auf der Durchreise ist und an diesem Ort keine bleibende Wohnung hat. Der Christ verachtet die Welt nicht, aber er weiss, dass sie nicht seine bleibende Heimat ist, sondern nur eine Station auf seiner Reise.

Das dritte Wort, das des Christen Verhältnis zur Welt beschreibt, ist das Substantiv paroikos mit dem entsprechenden Verb paroikein. Im klassischen Griechisch ist metoikos gebräuchlicher. Es bezeichnet einen Bewohner, der aus einem anderen Land stammt und an seinem augenblicklichen Wohnort nicht eingebürgert ist. Er bezahlte Fremdensteuer, er war ein Gast, dem man den Aufenthalt genehmigt hatte. Er wohnte eine Zeitlang an einem bestimmten Ort, gab aber nie das Bürgerrecht in seinem Heimatland auf.

Im NT wird das Wort mehrmals benutzt. Gott sagt Abraham, dass seine Nachkommen Gäste in einem fremden Land sein werden (Apg 7,6). Moses war ein Fremder im Lande Midian (Apg 7,29). Auf dem Wege nach Emmaus fragten die zwei Jünger den unerkannten, auferstandenen Christus, ob er der einzige Fremde in Jerusalem sei, der von diesem Geschehen nichts wisse (Lk 24,18). Wenn die Heiden zum Glauben an Christus kommen, sind sie nicht mehr länger Fremde den Verheissungen Gottes. Auch hier finden wir wieder im Hebräerbrief und im 1. Petrusbrief die grösste Bedeutung dieses Wortes. Wieder wird uns das Beispiel der Patriarchen gezeigt, die Gäste ohne bleibenden Wohnsitz waren (Hebr 11,9), und Petrus bittet die Empfänger seines Briefes, sich rein zu halten, weil sie Fremdlinge und Pilger sind (1 Petr 2,11).

Paroikos kommt in der Septuaginta oft vor. Elfmal übersetzt es das hebräische Wort ger, das den Fremden, den Proselyten, den Ausländer, der im jüdischen Volk lebte, bezeichnet. Zehnmal gibt es das Wort toshab wieder; ein toshab war ein Einwanderer, der in einem fremden Land nicht eingebürgert war.

Thukydides bezeichnet mit dem Wort metoikos einen Fremden, der sich in Athen niedergelassen, aber nie das Bürgerrecht erworben hatte (2.13). Herodot gebraucht es in gleicher Weise für Menschen, die sich auf Kreta angesiedelt hatten (4.151). Das Wort zeigt allgemein den Gegensatz zu polites, dem vollberechtigten Bürger eines Landes und zu katoikos, dem Mann, der seinen ständigen Wohnsitz dort hatte. Eine Inschrift auf Karpathos teilt die Einwohner in zwei Klassen, in politai und paroikoi, in Bürger und Bewohner aus fremden Ländern. Der Statthalter von Priene lädt ein zu einem Fest der politai - Bürger, paroikoi - Bewohner aus fremden Ländern, katoikoi - solche, die ihren ständigen Wohnsitz in der Stadt haben und xenoi - der Fremden, die zufällig in der Stadt sind. Die alte Welt kannte sehr wohl die Bezeichnung paroikos, es kennzeichnete einen Menschen, der in der betreffenden Stadt lebte, dessen Bürgerrecht aber woanders war.

Diese Wörter fanden vor allem auf die Juden in der Zerstreuung Anwendung. Sie waren paroikoi in Ägypten und Babylon und in den anderen Ländern, in die sie freiwillig oder unter Zwang ausgewandert waren. Für die Juden bezeichneten diese Wörter Menschen, die an dem betreffenden Ort lebten, aber dennoch Fremde waren.

Diese Wörter wurden besonders wichtig für die christliche Gemeinde, denn genau in der beschriebenen Lage befanden sich die Christen. Sie lebten zusammen mit den anderen Menschen, sie nahmen alle Pflichten dieser Gemeinschaft auf sich, aber ihr Bürgerrecht war im Himmel. Clemens schreibt seinen Brief von der Gemeinde - paroikouse (Partizip Präsens) in Rom an die Gemeinde - paroikouse in Korinth. Polykarp gebraucht dieselbe Bezeichnung für die Gemeinde in Philippi, Die Gemeinde befand sich zwar an diesem Ort, aber ihre wirkliche Heimat war nicht dort. Hier ist nun eine sehr interessante Entwicklung zu beobachten. Paroikos bezeichnet einen Bewohner, der aus einem fremden Land stammt; das Verb paroikein bedeutet, an einem Ort zu bleiben, ohne dessen Bürgerrecht zu gewinnen. So kennzeichnet das Substantiv paroikia also eine Gruppe von Fremden inmitten einer anderen Gemeinschaft. Die Christen sind eine Gemeinde von Menschen, die in dieser Welt leben, aber nie die Grundsätze, die Methoden und die Lebensweise dieser Welt angenommen haben. Ihr Massstab ist der Massstab Gottes. Sie beobachten die Gesetze des Landes, in dem sie leben, aber darüber hinaus gelten für sie die Gesetze Gottes. Das einzige wirkliche Bürgerrecht des Christen ist das im Reiche Gottes.

Dieser Gedanke der Fremdlingschaft verschmolz so sehr mit dem Gedankengut der Christen, dass sie uns einige weitere Untersuchungen wert ist.
1. Im Altertum ein Fremder in einer fremden Umgebung zu sein, hiess unglücklich zu sein. Zwar achtete man den Fremden. Der Gott Zeus trug unter anderen auch die Bezeichnung Zeus Xenios - Zeus, der Gott der Fremden. Man nahm an, dass die Fremden unter dem Schutz der Götter standen. Trotzdem war das Los eines Fremden Elend und Not. In den Briefen des Aristeas (249) ist zu lesen: „Es ist schön, im eigenen Land zu leben und zu sterben; ein fremdes Land bringt den Armen Geringschätzung, und die Reichen beargwöhnt man, dass sie wegen einer bösen Tat aus ihrem Lande verbannt wurden.“ Das apokryphen Buch Jesus Sirach (29,29-35) schildert das traurige Los eines Fremden: „Es ist besser geringe Nahrung unter einem bretternen eigenen Dach, denn köstlicher Tisch unter den Fremden. Lass dir’s gefallen, du habest wenig oder viel; denn es ist ein schändlich Leben, von Haus zu Haus ziehen. Und wo einer fremd ist, darf er sein Maul nicht auftun; er muss herbergen und mit sich trinken lassen, und keinen Dank haben, muss dazu bittere Worte hören, nämlich: ,Du Fremder, gehe hin und bereite den Tisch, lass mich mit dir essen, was du hast.’ Oder: ,Zieh aus, ich habe einen werten Gast gekriegt; ich muss das Haus haben, mein Bruder zieht zu mir ein.’ Solches ist schwer einem vernünftigen Mann, dass er um der Herberge willen solche Worte fressen muss und dass man ihm aufrückt, wenn man ihm geliehen hat.“

Die Tatsache, dass der Christ ein Fremder, ein Pilger, ein Gast ist, zeigt deutlich, dass er in dieser Welt keine Zufriedenheit und Beliebtheit erwarten kann.
2. Dieses Gedankengut ist in der Literatur der nachapostolischen Gemeinde tief verwurzelt. Tertullian schrieb: „Der Christ weiss, dass das Leben hier nur eine Pilgerfahrt für ihn ist und dass sein wahres Bürgerrecht im Himmel ist“ (Apologie 1). „Der Christ ist ein Gast inmitten vergänglicher Dinge“ (Brief an Diognet 6.18). „Wir haben kein Vaterland auf dieser Erde“ (Clemens von Alexandrien, Paedagogos 3.8.1).

3. Obwohl die Christen sich als Fremdlinge, Pilger und Verbannte betrachteten, heisst das nicht, dass sie sich vom normalen Leben zurückzogen in eine isolierte Nutzlosigkeit und Passivität. Tertullian schreibt: „Wir sind nicht, wie die indischen Brahmanen oder die asketischen Philosophen, vom normalen Leben verbannt. Wir leben wie ihr Heiden, geniessen dieselbe Nahrung, tragen dieselbe Kleidung und haben geschäftliche Verbindungen wie jeder andere Mensch“ (Apologie 42). Der stärkste Ausdruck dieser Gedanken findet sich in dem Brief an Diognetus. „Christen unterscheiden sich von anderen Menschen weder durch ihre Nationalität noch durch ihre Sprache oder ihre Sitten, denn sie leben nirgendwo in eigenen Städten. Sie sprechen keine andersartige Sprache und haben keinen eigenen Lebensstil… Sie leben sowohl in griechischen als auch in barbarischen Städten, je nachdem es ihr Geschick bestimmte; während sie den Gebräuchen des Landes in Bezug auf Kleidung, Nahrung und andere Dinge des täglichen Lebens folgen, zeigen sie durch ihr Leben die bemerkenswerten und fremdartigen Gesetze ihrer eigenen Bürgerschaft. Sie leben in ihrem eigenen Vaterland als Fremde. Sie tragen als Bürger an allen Pflichten mit und erleiden als Fremde alles Ungemach. Jedes fremde Land ist ihr Heimatland und ihr Vaterland ist wie ein fremdes Land... Sie sind im Fleisch, aber sie leben nicht nach dem willen des Fleisches. Sie verbringen ihre Tage auf Erden, aber ihr Bürgerrecht ist im Himmel“ (Tertullian, Apologie, 5.1-9).

Nicht durch Scheidung von der Welt, sondern durch ihr Leben in der Welt bekundeten die ersten Christen ihre wahre Bürgerschaft.

4. Die ganze Bedeutung dieser Worte für die Christen kann man in einem Ausspruch zusammenfassen, der von Jesus stammen soll. Ein schottischer Missionar, Dr. Alexander Duff, bereiste im Jahre 1849 Indien. Sein Weg führte ihn den Ganges aufwärts in die Stadt Putehpur-Sikri, etwa 35 km westlich von Agra. Dort besichtigte er eine der grössten Moscheen der Welt, deren Eingangstor 36,5 m hoch und ebenso breit ist. An der Innenseite des Tores fand er eine Inschrift in arabischen Schriftzeichen. Er las: „Diese Welt ist nur eine Brücke, du musst hinübergehen, aber nicht dein Haus darauf bauen.“ Es mag schon möglich sein, dass diese Worte aus dem Munde Jesu stammen. Für die Christen kann diese Welt nie das Ende, nie das Ziel sein. Der Christ ist immer ein Pilger, der unterwegs ist.