Fleisch oder Geist
William Barclay
Das Substantiv soteria bedeutet Rettung und das Verb sozein retten. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass wir erkennen, was es heisst, gerettet zu sein. Im klassischen Griechisch bedeutet soteria Befreiung oder Bewahrung, Erhaltung. Es kann gebraucht werden für die ungefährdete Heimkehr von einer Reise. Es kann Sicherheit in einer Gefahr bedeuten oder die Garantie dieser Sicherheit. In den Papyri kennzeichnet es meistens körperliches Wohlergehen. Wir lesen da zum Beispiel, dass jemand nach Hause schreibt: „Schreibe mir über deine soteria“, mit anderen Worten, „schreibe mir, wie es dir geht“.
Was versteht die Bibel unter Rettung? Untersuchen wir zunächst die Bedeutung des Wortes in der Septuaginta, dem griechischen AT, das ja die geistliche Nahrung vieler Christen im ersten Jahrhundert war.
1. In der Septuaginta bedeutet soteria ganz allgemein Sicherheit, Gewissheit. In Sprüche 11,14 lesen wir: „Rettung - soteria [kommt] durch viele Ratgeber“ (Elberfelder). Jakob versprach, Gott zu dienen, falls er in Frieden - soteria wieder heimkehren würde (1. Mos. 28,21). Joseph versicherte, dass diejenigen, in deren Säcken der Becher nicht gefunden würde, in Frieden - soteria heimkehren könnten (1. Mos. 44,17; vgl. 1. Mos. 26,31; Hiob 13,16).
2. Soteria bedeutet in der Septuaginta auch Befreiung aus Schwierigkeiten oder Notlagen. Die Spötter sagten zu dem Psalmisten: „Er hat keine Hilfe - soteria bei Gott“ (Ps 3,3). Aus Psalm 42,12 erkennen wir, dass Gott das Heil- soteria, der Schutz des Psalmdichters ist. In Psalm 44,5 bittet er Gott, dass er die Rettung - soteria befehlen soll. Der Mensch, der auf Gott hofft, wird sich der Hilfe - soteria Gottes erfreuen dürfen (Jes 25,9 vgl. Ps 20,6; Jes 38,20).
3. Soteria wird aber auch ganz speziell gebraucht. So bedeutet es zum Beispiel Befreiung von einem Feind, es bedeutet Rettung, Hilfe, Entkommen, Sieg. Es bezeichnet die Befreiung von den Philistern (Ri. 15,18), die Errettung von den Ammonitern (1 Sam 11,9.13), den Aramäern (2 Kön 13,5), den Ägyptern (2 Chr 12,7) und den Moabitern (2 Chr 20,17). Es beschreibt die Rettung Israels durch Gott, während der ganzen Geschichte des Volkes.
4. Vor allem kennzeichnet es die Rettung Israels bei dem Durchgang durch das Rote Meer. „Stehet fest“, sagte Mose, „und sehet zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird“ (2. Mos. 14,13). Jede Rettung war eine Rettung - soteria durch die Hand Gottes, aber bei der Errettung am Roten Meer wurde die Allmacht Gottes in ganz besonderer Weise sichtbar.
5. Manchmal wird soteria in der Septuaginta auch auf die Endzeit bezogen, das heisst, es sollte seine volle Erfüllung erst in der neuen Epoche finden, die noch in der Zukunft lag. Es ist nicht etwas, was sich in dieser Welt aufbraucht, sondern es bezeichnet eine mächtige Errettung für alle Zeiten (Jes 45,17).
6. Soteria - die Rettung wird immer Gott zugeschrieben und steht in Verbindung mit ihm. Im Gegensatz dazu steht die vergebliche Hilfe der Menschen (Ps 60,13; 108,13; 146,3). Es gehört zum Wesen Gottes, dass er der Gott der Hilfe, der Errettung ist (Ps 17,7; 38,23; 51,14; 88,2). Wenn die Kraft der Menschen am Ende ist, setzt die Hilfe - soteria Gottes ein. Die menschlichen Verlegenheiten sind Gottes Gelegenheiten.
7. Dem Leser ist sicher aufgefallen, dass soteria oft der Gegenstand von triumphierenden Dankesliedern ist. Es kommt in dem Lied Mose nach dem Durchgang durchs Rote Meer vor (2. Mos. 15,2), im Danklied Davids nach der Errettung von Saul (2 Sam 22,3.36.47.51) und im Lobgesang Hannas, nachdem Gott ihr einen Sohn geschenkt hatte (1 Sam 2,1). Wer die Hilfe - soteria Gottes erfahren hat, bricht darüber in Jubel und Lobpreis aus.
Die neutestamentlichen Schreiber fanden also schon im AT ein Wort vor, das die rettende, erhaltende und vorsehende Kraft Gottes in den Notzeiten des Volkes Israel sowie im Leben des einzelnen kennzeichnet, ein Wort, das die unaufhörliche Fürsorge Gottes zum Ausdruck bringt, und den Menschen, der sich von ihr umgeben weiss, vor Freude singen lässt. Zwei Bedeutungen des Wortes aus dem AT finden wir auch im NT wieder:
1. Soteria bezeichnet die Rettung von Feinden (Lk 1,69.71; Apg 7,25; Jud 25). Alle diese Stellen haben einen charakteristischen alttestamentlichen Hintergrund.
2. Das Substantiv und auch das Verb werden für körperliches Wohlergehen und Sicherheit gebraucht. Sie werden für die Bewahrung des Apostels Paulus im Schiffbruch benutzt (Apg 27,20.34) und für die Rettung Noahs und seiner Familie in der Arche (Hebr 11,7).
Nach diesen alttestamentlichen Bedeutungen wollen wir nun die ganz besondere und charakteristische Bedeutung dieser Wörter im NT kennenlernen.
1. Soteria ist das Ziel Gottes mit den Menschen und der Grund für das Kommen Christi in diese Welt. Das NT kennt keinen zornigen Gott, der besänftigt werden muss, damit er dann, milde gestimmt, den Menschen vergibt. Die Einstellung Gottes zu uns Menschen muss nicht durch irgend etwas geändert werden, sondern die Initiative zur Rettung liegt einzig und allein bei Gott. „Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil - soteria zu erlangen ...“ (1 Thess 5,9). Gott hat uns von Anfang an zur Seligkeit bestimmt (2 Thess 2,13), und er will, dass alle Menschen gerettet werden (1 Tim 2,4). Weil Gott Geduld mit uns hat, können wir soteria erlangen (2 Petr 3,15). In den Lobpreisungen Gottes der Offenbarung 7,10 und 19,1 wird soteria - Rettung, Heil ausschliesslich Gott zugeschrieben. Gott selbst hat uns gerettet (2 Tim 1,9). Jesus Christus kam in die Welt, um Sünder zu retten (1 Tim 1,15). Er kam nicht, um die Welt zu verdammen, sondern um sie zu retten (Joh 3,17). Der Handelnde in Bezug auf soteria ist allein Gott.
2. Aus diesem Grunde kann das Heil - soteria auch abgelehnt werden. Es ist etwas, was wir mit Furcht und Zittern festhalten (Phil 2,12). So gross dieses Heil auch ist, wir können es auch missachten (Hebr 2,3). Das NT macht es immer wieder sehr deutlich, dass der freie Wille des Menschen die Rettung verhindern kann.
3. Christus ist die zentrale Figur in dem Heilsplan Gottes. „Und in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden“ (Apg 4,12). Er ist der archegos, der Pionier, der Herzog von soteria (Hebr 2,10), der Urheber unserer Seligkeit (Hebr 5,9). Ohne Christus und sein Werk ist keine Rettung möglich.
4. Trotzdem braucht er die Menschen, sozusagen als seine Vertreter, als seine Arbeiter in dieser Welt. Der Apostel Paulus versuchte etliche seines Volkes zu retten (Röm 11,14). Er ist allen alles geworden, um auf diese Weise Menschen zu retten (1 Kor 9,22). Es war das ganze Streben des Apostels, Menschen zu retten (1 Kor 10,33). Er beschuldigt die Juden, ihn daran zu hindern (1 Thess 2,16). Timotheus soll auf sich und die Lehre achthaben. damit er sich und andere rettet (1 Tim 4,16). Wer einen Sünder bekehrt, rettet eine Seele vom Tod (Jak. 5,20). Christus braucht Lippen, die ihn bekennen, Hände, die für ihn arbeiten, Menschen, die seine Botschaft verkündigen.
5. Aus diesem Grund ist die Botschaft der Christen das Wort des Heils (Apg 13,26; Eph 1,13), die frohe Botschaft des gütigen Gottes an uns Menschen.
Die christliche Botschaft ist der Weg des Heils (Apg 16,17). Sie zeigt den Menschen den Weg, der zum Leben führt und nicht zum Tod.
Die christliche Botschaft ist die Kraft zur Seligkeit (Röm 1,16). Sie gibt den Menschen nicht nur eine Aufgabe, sondern auch die Kraft zur Ausführung, sie zeigt nicht nur einen Weg, sondern gibt auch die Kraft auf diesem Weg zu gehen. Sie macht nicht nur ein Angebot, sondern schafft auch die Möglichkeit, es anzunehmen.
Das Ziel der christlichen Botschaft ist die Rettung (Röm 10,1; 2 Kor 6,1). Sie will den Menschen nicht in die Hölle stossen, sondern ihn zum ewigen Leben erheben.
Nun wollen wir untersuchen, was dem Heil vorausgeht, was zu ihm hinführt.
1. Soteria setzt Busse, Umkehr voraus. Die Traurigkeit nach Gottes Willen bewirkt eine Umkehr zur Seligkeit (2 Kor 7,10). Wer einmal das Heil erlangt hat, der hält mit Furcht und Zittern daran fest. Nur so erlangen wir die endgültige Rettung, das Leben in der Herrlichkeit (PhiI 2,12).
2. Soteria setzt Glauben voraus (Eph 2,8; 2 Tim 3,15; 1 Petr 1,9). Es schliesst ein, dass der Mensch sich selbst loslässt und ganz und gar auf die Gnade Gottes vertraut. Es setzt die Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der Verheissung Gottes in Christus Jesus voraus. Es setzt Hoffnung voraus (Röm 8,24). Busse, Furcht und Zittern sollen nicht zur Verzweiflung treiben, sondern zu einer leuchtenden Hoffnung auf die Rettung in Christus führen. Glaube und Hoffnung sind eng miteinander verknüpft. Sie sind eigentlich nur verschiedene Bezeichnungen des völligen Vertrauens, durch das wir die Erlösung haben.
3. Zur Rettung gehört Geduld, Ausharren. Wer bis zum Ende ausharrt, wird selig werden (Mt 10,22; 24,13). Wer sich weder durch Widerstand von aussen noch durch Entmutigungen von innen beeinflussen lässt, wird schliesslich das Heil erlangen. Der Glaubende darf sich weder von Zweifeln noch von Argumenten und Verführungskünsten besiegen lassen. Er muss an seinem Vertrauen festhalten wie ein Schiffbrüchiger an einem Rettungsring auf hoher See.
4. Soteria setzt auch die Liebe zur Wahrheit voraus (2 Thess 2,10). Jemand, der die Wahrheit nicht liebt, kann das Heil nie finden. Wenn ein Mensch die Augen vor der Wahrheit über sich selbst verschliesst, kann er nie zu der nötigen Umkehr bewegt werden. Wenn er die Augen vor der Wahrheit in Christus verschliesst, kann er nie das endgültige Angebot Gottes erkennen. Es ist niemand so blind wie der, der nicht sehen will.
5. Manchmal gehört auch Furcht zu soteria (Jud 23). Es gibt so etwas wie eine reinigende Furcht (Ps 19,10). Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit (Spr 1,7). Es gibt einen heilsamen Schrecken, das plötzliche Erkennen dessen, was wir eigentlich sind, das uns veranlassen kann, das Heil in Christus zu suchen.
6. Zu soteria gehört immer die Gnade. Das Heil ist auf die Gnade gegründet. Durch Gnade werden wir gerettet (Eph 2,5). Die ersten Christen waren davon überzeugt, dass sie durch die Gnade des Herrn Jesus Christus gerettet worden waren (Apg 15,11). Dem Schrecken über unseren verlorenen Zustand und der Traurigkeit der Busse begegnet die Gnade Jesu Christi. Diese Gnade ist die Zusicherung unseres Heils, ein Geschenk, das wir uns nicht verdienen konnten, das wir nur der Güte und der Grosszügigkeit Gottes verdanken.
7. Soteria - Heil ist mit der Botschaft vom Kreuz verbunden, auch wenn das zunächst töricht erscheint (1 Kor 1,18). Unsere Rettung hat zur Voraussetzung, dass wir diese Botschaft nie vergessen, dass sie für immer in unseren Sinn geschrieben ist (1 Kor 15,2). Wir dürfen nie den Blick auf das Kreuz verlieren, sondern müssen immer im Bewusstsein der Liebe Gottes leben.
8. Der Schreiber des Hebräerbriefes hat uns noch zu sagen, dass zu unserer ewigen Seligkeit die ständige Fürbitte Christi gehört (Hebr 7,25). Einer der grössten Gedanken des Neuen Testaments ist das Wirken des Hohenpriesters Jesus. Seine Liebe zu uns verlorenen Menschen ist die Hoffnung unseres Heils.
In vielen Fällen wird soteria im NT ohne jegliche Erklärung gebraucht, wie ein Wort, von dessen Bedeutung jeder Mensch wenigstens etwas versteht. Solche Stellen sind Lukas 19,9; Apostelgeschichte 11,14; 16,30; 1. Korinther 3,15; 2. Korinther 2,15.
Um die volle Bedeutung, den vollen Wert des Wortes erfassen zu können, müssen wir uns dennoch die Frage stellen: Von was ist der Mensch eigentlich errettet worden? Was ist die Erlösung, die soteria verheisst? Ehe wir im NT die Antwort finden können, müssen wir uns noch klar machen, dass das Verb sozein retten im physischen und auch im ewigen Sinne bedeutet. Das Heil im NT ist ein vollkommenes Heil, es rettet den ganzen Menschen.
1. Soteria verspricht körperliche Heilung (Mt 9,21; Lk 8,36; in beiden Stellen steht das Verb sozein). Jesus dachte nicht nur an die Seele der Menschen, sondern er nahm auch an ihrem körperlichen Zustand Anteil. Auch heute, wo wir nicht mehr heilen können, sollte uns als Christen das körperliche Wohlergehen unserer Mitmenschen am Herzen liegen. Das mag sie zwar nicht gesund zu machen, hilft ihnen aber, ihr Leid zu tragen.
2. Soteria rettet aus Gefahr. Als die Jünger in Gefahr waren, schrien sie um Hilfe - soteria (Mt 8,25; 14,30). Soteria verheisst nicht Bewahrung vor jeglicher Gefahr und jedem Schaden, sondern es verspricht Rettung, wo jegliche Sicherheit geschwunden ist. Der Mensch, der sich in Gottes soteria geborgen weiss, ist überzeugt, dass nichts in diesem Leben, selbst nicht der Tod, die Macht hat, ihn von der Liebe Gottes zu scheiden.
3. Soteria bedeutet Rettung aus der Verderbtheit dieser Welt. Menschen werden gerettet aus diesem verkehrten Geschlecht (Apg 2,40). Wer das Heil Gottes erlangt hat, ist in gewissem Sinne immun gegen die tödlichen Einflüsse der Welt, er ist fähig, sich in dieser Welt von der Welt unbefleckt zu erhalten.
4. Soteria rettet aus der Verlorenheit. Jesus kam in diese Welt, um die Verlorenen zu suchen und zu retten (Mt 18,11; Lk 19,10). Soteria rettet die Menschen von dem Weg, der ins Verderben führt, bringt sie von dem Weg zum ewigen Tod auf den Weg zum ewigen Leben.
5. Soteria ist die Erlösung von der Sünde. Maria sollte ihren Sohn Jesus nennen, denn er würde sein Volk retten von ihren Sünden (Mt 1,21). Von Natur aus ist der Mensch Sklave der Sünde. Er kann sich selbst nicht aus dieser Sklaverei befreien. Er kann seinen Zustand sehr wohl erkennen, aber die Krankheit nicht heilen. Nur die heilende Kraft Christi ist dazu in der Lage. In einem geistlichen Lied vom 17. Jahrhundert heisst es in Strofe zwei: „Jesus ist kommen, nun springen die Bande, Stricke des Todes, die reissen entzwei. Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden; er, der Sohn Gottes, der machet uns frei, bringet zu Ehren aus Sünde und Schande; Jesus ist kommen, nun springen die Bande!“
6. Soteria bringt Rettung vor dem Zorn Gottes (Röm 5,9). Man kann die Tatsache des Gerichts nicht aus dem NT streichen, sie gehört zum Fundament der Wahrheit. Aber Christus errettet vom Zorn, der die Gesetzesübertreter ereilen wird. Durch Christus haben wir ein neues Verhältnis zu Gott erlangt.
7. Etwas müssen wir noch beachten. Soteria beschränkt sich nicht auf diese Zeit. Wir erleben das Heil, die Rettung zwar schon jetzt, aber die volle Bedeutung und Auswirkung, die ganze Herrlichkeit unseres Heils, werden wir erst begreifen, wenn die Königsherrschaft Christi aller Welt offenbar werden wird (Röm 13,11; 1 Kor 5,5; 2 Tim 4,18; Hebr 9,28; 1 Petr 1,5; Offb 12,10). Viele Menschen glauben nicht an das Wiederkommen Christi. Aber dass diese Welt einmal zu einem Ende kommen wird, müsste allen klar sein. Dann wird soteria, das Heil derer, die sich haben retten lassen, voll offenbar werden. Soteria rettet in dieser Zeit für die ewige Herrlichkeit.