Griechische Begriffe 1
10. Euaggelion = Evangelium
von William Barclay
Das Wort euaggelion bedeutet Evangelium oder frohe Botschaft. Mit diesem Wort kommen wir zum Kernpunkt des christlichen Glaubens. Das Wort euaggelion ist so kennzeichnend und charakteristisch für den christlichen Glauben, dass es keine lange Geschichte ausserhalb des Neuen Testaments hat.
Im klassischen Griechisch hat es drei Bedeutungen.
1. Der ursprüngliche Sinn ist der Lohn, den ein Botschafter für das Überbringen einer guten Nachricht empfängt. In diesem Sinn wird es in der Septuaginta in 2 Sam 4,10 benutzt.
2. Es erreichte dann die Bedeutung der Opfer, die man den Göttern brachte, nachdem man eine solche gute Nachricht empfangen hatte.
3. Nicht im klassischen, sondern im späten hellenistischen Griechisch gewann es die Bedeutung der guten Botschaft selbst. In der Septuaginta bezeichnet es die gute Nachricht des Sieges (1 Sam 31,9), die gute Botschaft der Geburt eines Kindes (Jer 20,15) und manchmal einfach irgendeine gute Nachricht.
Die Septuaginta benutzt es in zweierlei Weise; wir finden dort eine Andeutung seines neutestamentlichen Gebrauchs.
1. In Psalm 40,10 und 96,2 wird das entsprechende Verb gebraucht, um die Gerechtigkeit und die rettende Macht Gottes vorherzusagen.
2. In Jesaja 40,9 und 52,7 bezeichnet es die frohe Botschaft vom Kommen des verheissenen Messias. In den Papyri sind beide, Verb und Substantiv, sehr selten. Das Verb euaggelizesthai wird gebraucht in Verbindung mit einem Sklaven, der kommt, um den Sieg eines Feldherrn mitzuteilen. Das Substantiv euaggelion finden wir in einer Inschrift, die den Geburtstag des römischen Kaisers Augustus als Beginn einer guten Botschaft für die Welt bezeichnet.
Aber erst im NT wird euaggelion zu einem ausserordentlichen, gewaltigen Wort.
1. Es ist die Summierung der ganzen christlichen Botschaft (Mk 1,1; 1 Kor 15,1). Das Reich, das Jesus ankündigte, ist gute Botschaft (Mt 4,23; 9,35; 24,14). Schon die Tatsache, dass euaggelion 72mal im NT vorkommt, (davon 54mal in den Briefen des Apostels Paulus) zeigt, dass das Wort im Mittelpunkt der christlichen Verkündigung steht. Für den grössten aller christlichen Missionare war der Christenglaube in höchstem Sinne frohe Botschaft. Dieses Wort bringt einen grossen Gegensatz zutage. Die Verkündigung Johannes des Täufers vom Feuer des Gerichts und von der Axt, die den Bäumen schon an die Wurzel gelegt wird, ist das Gegenteil einer guten Botschaft, es ist eine Unglücksbotschaft. Aber das Wesen der Predigt Jesu ist die frohe Botschaft Gottes.
2. Manchmal wird es euaggelion Gottes genannt (Mk 1,14; 1 Thess 2,2; 8,9). Es ist in zweierlei Hinsicht die gute Botschaft Gottes. a) Es zeigt den Menschen einen Gott, wie sie sich ihn nie hätten vorstellen können, einen Gott, dessen Herz Liebe ist. b) Es war eine frohe Botschaft von Gott gesandt. Hinter dem ganzen Heilsplan steht Gott. Die Vorstellung von einem zornigen Gott und einem sanften Jesus ist falsch. Es ist falsch zu denken, dass Jesus die Einstellung Gottes den Menschen gegenüber geändert hätte. Gott liebte die Welt so sehr, dass er seinen Sohn sandte. Die frohe Botschaft ist die Botschaft Gottes und sie kommt von Gott.
3. Manchmal wird vom euaggelion Jesu Christi gesprochen (Mk 1,1; 2 Kor 4,4; 9,13; 10,14). In zweierlei Sinn ist es die frohe Botschaft Christi. a) Jesus Christus brachte sie den Menschen. Ohne Christus hätten wir nie etwas davon gewusst. b) Jesus verkörperte die gute Botschaft. Er erzählte nicht nur den Menschen, wie Gott ist, er zeigte ihnen den Vater.
4. Der Apostel Paulus gebraucht manchmal den Ausdruck mein oder unser euaggelion (2 Kor 4,3; 1 Thess 1,5; 2 Thess 2,14). Die frohe Botschaft kommt von Gott und ist Gottes Botschaft. Sie ist auch die Botschaft Christi und wurde von ihm gebracht. Aber dennoch muss der Mensch sie sich aneignen, wenn sie ihm gehören soll. Er muss das Evangelium mit seinem Verstand erkennen und in sein Herz aufnehmen, bis es völlig und unveräusserlich ihm gehört.
5. Das euaggelion ist für alle Menschen (Mk 13,10; 16,15; Apg 15,7). Die Juden waren immer davon überzeugt, dass es in Gottes Weltordnung eine besonders begünstigte Nation gab. Aber dem Evangelium Christi sind keine Grenzen gesetzt; die frohe Botschaft ist für alle Menschen da.
Wir wollen nun bestimmte Einzelheiten über dieses euaggelion hinsichtlich der Menschen betrachten.
1. Das euaggelion ist keine menschliche Entdeckung, es ist eine Offenbarung von Gott. Die Tatsache, dass Gott so ist, wie Jesus ihn gezeigt hat, ist etwas, was sich der menschliche Geist nicht ausdenken konnte. Der Mensch konnte Gott nicht erkennen. Gott selbst offenbarte sich ihm (Gal 1,11-12).
2. Euaggelion ist etwas, an das man glauben muss (Mk 1,15). Das ganze Christentum besteht in einem Leben der unwandelbaren Überzeugung, dass die gute Botschaft über Gott, die Christus brachte, wahr ist.
3. Das euaggelion ist etwas, das derjenige, der es kennt, anderen verkündigen muss (Röm 15,19; 1 Kor 9,14.18; 2 Kor 10,14; 11,7; Gal 2,2). Ein Mensch hat die frohe Botschaft erst dann wirklich verstanden, wenn er den Wunsch hat, sie anderen mitzuteilen. Ein Missionar erzählte von einem Indianer, der dem Christentum feindlich gesinnt und dann bekehrt worden war. Er besorgte sich eine Bibel und machte es sich zur Gewohnheit, darin zu lesen. Wenn er beim Lesen an eine Stelle kam, die sein Herz ansprach, lief er mit dem Buch auf die Strasse und mit dem Finger auf die Stelle zeigend, rief er jedem Passanten zu: „Hast Du das schon gehört?“ Kein Christ kann die gute Botschaft für sich behalten. Jeder Christ ist ein Missionar.
4. Die Aufgabe der Ausbreitung des euaggelion wählt sich der Christ nicht selbst, sondern er wird mit dieser Aufgabe betraut, sie wird ihm auferlegt (1 Thess 2,4; 1 Kor 9,16). Um Gottes willen gibt er die empfangene frohe Botschaft weiter.
5. Für das euaggelion muss der Mensch alles einsetzen (Mk 8,35; 10,29; Röm 1,16; 1 Kor 9,23). Er muss bereit sein, alles auf die eine Karte zu setzen, nämlich auf die Sicherheit der Verheissungen Gottes, die derjenige empfangen wird, der Gottes Gebote erfüllt.
6. Euaggelion ist etwas, dem ein Mensch dienen kann (Röm 1,1; 15,16; Phil1,12; 2,22; 4,3; 1 Thess 3,2). Die Annahme der guten Botschaft zeigt gleichzeitig Vorrecht und Dienst. Ein Mensch muss sein Leben hingeben für das, was ihm Leben gab.
7. Das euaggelion ist etwas, das der Mensch verteidigen kann (Phil 1,7.16). Durch sein Leben, seine Worte, seinen Wandel, seine Taten muss der Christ in jedem Augenblick ein Verteidiger des Glaubens sein.
8. Das euaggelion kann auch durch Menschen gehindert werden (1 Kor 9,12). Es ist die heilige Verantwortung der Christen, dass die Menschen um uns herum nicht gering denken von dem christlichen Glauben, sondern ihn achten.
9. Euaggelion ist etwas, das man ablehnen kann; ein Mensch kann die Gelegenheit versäumen (Röm 10,16; 2 Thess 1,7-8; 1 Petr 4,17). Bis zum Ende seiner Tage hat der Mensch einen freien Willen. Es ist die Eigenart der Liebe, dass sie nur anbieten und niemals zwingen kann. Ein Mensch kann das Angebot Gottes verschmähen, er kann es vollkommen verachten. Er kann leben, als ob die frohe Botschaft nicht existierte, aber er setzt dabei seine Seligkeit aufs Spiel.
10. Das euaggelion kann durch Menschen verdreht und verzerrt werden (2 Kor 11,4; Gal 1,6-7). Paulus nennt das „ein anderes Evangelium predigen.“ Wenn ein Mensch ein Evangelium glaubt - oder zu verkündigen sucht, wie er selbst es gerne haben möchte, anstelle des von Gott offenbarten, dann glaubt und predigt er ein „anderes Evangelium.“ Erst nachdem wir Gott Gehör geschenkt haben, können wir zu Menschen reden. Es besteht die Gefahr, dass wir Gott etwas vorschreiben wollen, statt darauf zu hören, was er uns zu sagen hat.
Wenn wir dieses Wort euaggelion untersuchen und seiner Bedeutung im NT nachgehen, so sehen wir, dass es bestimmte Begriffe miteinschliesst.
1. Euaggelion ist die frohe Botschaft der Wahrheit (GaI 2,5.14; KoI 1,5). Mit dem Kommen Christi hat die Zeit der Mutmassungen über Gott aufgehört und die Zeit der Gewissheit angefangen; das tastende Suchen nach dem Sinn und der rechten Art des Lebens hat aufgehört, Gewissheit ist an seine Stelle getreten. Der Sinn des Christentums besteht nicht darin, dem Menschen zahllose Probleme aufzugeben, sondern ihn mit gottgegebener Gewissheit auszurüsten.
2. Euaggelion ist die frohe Botschaft der Hoffnung (KoI 1,23). Der Mensch, der allein mit materiellen Gütern leben will, muss an sich selbst und der Welt verzweifeln. John Buchan beschreibt einen Atheisten als „Menschen ohne unsichtbare Hilfsquellen.“ Wenn ein Mensch die Bedeutung der frohen Botschaft erkennt, wird er mit Hoffnung für sich selbst und die Welt erfüllt.
3. Euaggelion ist die frohe Botschaft des Friedens (Eph 6,15). Solange der Mensch sein eigenes Leben zu leben versucht, bleibt sein Herz unweigerlich zerrissen. Die frohe Botschaft sagt uns, dass Sieg durch Hingabe kommt, durch den Tod unseres Selbst und den Beginn des Lebens Christi in uns. Die frohe Botschaft will unsere Persönlichkeit vervollständigen und den alten Zustand der unglücklichen Spannungen beenden.
4. Euaggelion ist die frohe Botschaft der Verheissungen Gottes (Eph 3,6). Es war die Eigenart der heidnischen Götter und sogar Gottes, wie ihn das AT kannte, Drohungen auszusprechen. Jesus brachte uns die frohe Botschaft, die von einem Gott der Verheissungen berichtet. Diese Tatsache entbindet uns keineswegs aller Pflichten, denn eine Verheissung bringt, genau wie eine Drohung, Verpflichtungen mit sich. Aber im NT ist es die Verpflichtung gegenüber der Liebe und nicht die Notwendigkeit, der Rache zu entfliehen.
5. Euaggelion ist die frohe Botschaft der Unsterblichkeit (2 Tim 1,10). Im Angesicht des Todes waren die Heiden „ohne Hoffnung“ und von Kummer und Furcht erfüllt (1 Thess 4,13). Einer der traurigsten Papyrus-Briefe stammt von einer Mutter, die an ein Elternpaar schreibt, deren kleines Kind gestorben war: „Irene an Taonnophris und Philo, guten Trost. Ich war so traurig und weinte über das Hinscheiden wie ich um Didymus geweint habe. Ich tat alles, was die Sitte verlangt ... Aber im Angesicht solcher Dinge ist doch jeder ganz hilflos.“ Das war der Ausblick der Heiden angesichts des Todes. Aber die frohe Botschaft bringt uns die Gewissheit, dass der Tod nicht das Ende, sondern der Anfang des Lebens ist, nicht ein Eingehen in die völlige Vernichtung, sondern das Eingehen in die Gegenwart Gottes.
6. Euaggelion ist die frohe Botschaft des auferstandenen Christus (1 Kor 15,1 ff; 2 Tim 2,8). Die frohe Botschaft des christlichen Glaubens besagt, dass wir nicht einem toten Helden dienen, sondern in seiner lebendigen Gegenwart leben. Er hat uns nicht nur ein Vorbild und Beispiel gegeben, sondern begleitet uns stets auf unserem Weg. Wir glauben nicht an die Gestalt eines Buches, die einst gelebt hat, und gestorben ist, sondern wir glauben an einen, der vom Tode auferstanden ist und in alle Ewigkeit lebt.
7. Euaggelion ist die frohe Botschaft der Rettung (Eph 1,13). Es ist die Botschaft der Macht, die uns die Vergebung unserer vergangenen Sünden, Befreiung von der gegenwärtigen Schuld und Kraft zur Überwindung kommender Versuchungen erworben hat. Es ist die frohe Botschaft des Sieges.