Begriffe1-14: Hypokrisis – heuchlerisches Handeln

Griechische Begriffe 1

14.  Hypokrisis = Heuchelei

von William Barclay

 

Hypokrisis und hypokrites werden im NT mit Heuchelei und Heuchler übersetzt. Im NT wird keine Sünde strenger verurteilt als Heuchelei; und in der öffentlichen Meinung gibt es keine Sünde, die so allgemein verabscheut wird.

Im klassischen Griechisch haben diese Wörter seltsamerweise durchaus keine schlechte Bedeutung. Sie sind Wörter, die offensichtlich eine Wertminderung erfahren haben, aber wir können sehen, dass der Keim dazu schon in ihrer ursprünglichen Bedeutung enthalten ist. Im klassischen Griechisch war die grundlegende Bedeutung von hypokrites jemand, der antwortet. Das Verb hypokrinesthai ist das allgemeine Wort für antworten. Aus dieser Grundbedeutung entwickelten sich folgende Bedeutungen. a) Einer der Träume oder Orakelsprüche deutet. Als Lukian seinen Zuhörern von seinen Träumen erzählte, die ihn zum Schriftsteller machten, sagte er, sie müssten wohl zu sich selbst sprechen: „Er wird uns doch nicht für oneiron hypokritai (Traumdeuter) halten!“ (Somnium 17). b) Ein Redner Demosthenes wird von seinen Kritikern als ein ungewöhnlich begabter hypokrites bezeichnet. c) Ein Vortragskünstler. In einem Zeitalter, in dem es keine Bücher gab, übten Männer den Beruf aus, Dichtungen vorzutragen; man nannte sie hypokritai. d) Schauspieler. Ein Theaterstück ist auf Frage und Antwort aufgebaut. Ein hypokrites ist darin derjenige, der antwortet. Von dieser letzten Bedeutung des Wortes hat hypokrites seinen schlechten Sinn bekommen, die Bedeutung eines Heuchlers, eines Menschen, der etwas spielt oder vorspiegelt, was er in Wirklichkeit nicht ist.

In der Septuaginta hat hypokrites eindeutig eine schlechte Bedeutung (Hiob 34,30; 36,13). Zu dieser Zeit hatte das Wort bereits ganz eindeutig einen unliebsamen Sinn erlangt, aber bei der Revision der Septuaginta war es dann schon zu einem sehr üblen Wort geworden. Eine der bekanntesten Revisionen der Septuaginta wurde von einem Mann namens Aquila durchgeführt. In Hiob 15,34, Sprüche 11,9 und Jesaja 33,14 benutzt Aquila das Wort hypokrites, während in der Septuaginta das Wort asebes steht, was nichts weniger als gottlos, sündig bedeutet. In Hiob 20,5 steht bei Aquila hypokrites und in der Septuaginta paranomos, was Übertreter, Gesetzesbrecher bedeutet. In Jesaja 32,6 sagt Aquila hypokrites und die Septuaginta anoma, was gesetzlose Dinge bedeutet. Wir können ganz klar sehen, dass das Wort nicht einfach Heuchelei meint; es hatte anfangs eine Bedeutung von übel, gesetzlos, gottlos, verderblich. In dem Brief des Barnabas (2. Jahrhundert n. Chr.) findet sich eine Beschreibung „der zwei Wege“; es heisst darin: „Du sollst dich nicht zusammentun mit denen, die auf dem Weg des Todes wandeln, du musst alles hassen, was das Wohlgefallen Gottes nicht findet, du sollst alle hypokrisis - Heuchelei hassen und die Gebote des Herrn nicht verlassen.“ Ganz offensichtlich ist hypokrisis eine schwere Sünde.

Im NT haben hypokrisis und hypokrites ganz bestimmte Gedankenrichtungen.
1. Ein hypokrites ist ein Mensch, der Güte und Rechtschaffenheit vortäuscht, eine gespielte Freundlichkeit zeigt, einer, der von jedermann gesehen werden möchte, wenn er etwas Gutes tut (Mt 6,2), der sich selbst beim Beten und Fasten zur Schau stellt (Mt 6,5.16). Er ist ein Mensch, dessen Güte berechnend ist, nicht um Gott zu erfreuen, sondern um Menschen zu gefallen, der nicht Gott die Ehre gibt, sondern sich selbst Verdienst zurechnet.

2. Ein hypokrites ist ein Mensch, der im Namen des Glaubens das Gesetz Gottes bricht. Es ist der Mensch, der seinen Eltern nicht helfen kann, weil er sein Vermögen dem Dienst Gottes „geweiht“ hat (Mt 15,7; Mk 7,6), der Mensch, der am Sabbat einem Kranken seine Hilfe verweigert, weil er damit das Gesetz brechen würde, obwohl er am Sabbat seine Tiere versorgt (Lk 13,15). Es ist ein Mensch, der seine eigenen Gedanken über den Glauben dem Plan Gottes vorzieht.

3. Ein hypokrites ist ein Mensch, der seine wirklichen Motive unter einer Maske verbirgt. In Wirklichkeit wollten die Männer, die Jesus wegen der Steuern befragten, nicht seinen Rat und seine Stellungnahme, sondern ihn in seiner eigenen Rede fangen. Sie waren hypokritai (Mk 12,15; Mt 22,18). Ein hypokrites ist ein spitzfindiger Ränkeschmied, der mit täuschenden Worten umgeht.

4. Ein hypokrites ist ein Mensch, der sein böses Herz unter einem Mantel von Frömmigkeit verbirgt, wie die Pharisäer, von denen Jesus in Matthäus 23,28 redet. Er weist äusserlich die Zeichen von Gottesfurcht auf, während sein Herz von Hochmut, Bitterkeit und Hass erfüllt ist. Ein solcher Mensch wird genauso wenig versäumen die Gottesdienste zu besuchen, als einen Sünder zu verdammen. Er ist von dem Stolz besessen, der die Demut nachäfft.

5. Ein hypokrites wird schliesslich blind. Er kann die Wetterzeichen am Himmellesen, aber nicht die Zeichen Gottes (Lk 12,56). Er hat andere so oft betrogen, dass er am Ende sich selbst betrügt.

6. Ein hypokrites ist ein Mensch, der im Namen des Glaubens andere vom rechten Wege weglockt (Gal 2,13; 1 Tim 4,2; 1 Petr 2,1). Er überredet andere, auf ihn zu hören statt auf Gott.

7. Schliesslich ist ein hypokrites ein Mensch, der unter dem Verdammungsurteil Gottes steht (Mt 24,51).

Dieses Wort will uns warnen! Von allen Sünden ist „Heuchelei“ diejenige, der man am leichtesten verfallen kann und die am strengsten verurteilt wird.