Griechische Begriffe 1
28. Phobos = Furcht
von William Barclay
Phobos bedeutet Furcht. Phobos war zu allen Zeiten in der griechischen Sprache ein neutrales Wort, d. h. es kann eine gute oder schlechte Bedeutung haben, je nach dem Zusammenhang, in dem es angewandt wird. Je nach seiner Verwendung kann es etwas Nützliches und Lobenswertes bezeichnen oder aber etwas Böses und Verdammungswürdiges. Es kann einen Feigling oder einen wirklich gottesfürchtigen Menschen bezeichnen.
Im klassischen Griechisch hat phobos drei hauptsächliche Bedeutungen.
1. Bei Homer bezeichnet es fast immer Panik oder Flucht. „panikartige Flucht“, sagt Homer, „des starrenden Schreckens - phobos - Genossin“ (Ilias, 9.2). Im frühen Griechisch hängt phobos immer mit Flucht zusammen, mit panikartiger Flucht vom Schlachtfeld, Die Passivform des entsprechenden Verbs ist phobeisthai - in die Flucht geschlagen werden. Das Gegenteil davon ist das Verb hypomenein, von dem hypomone - feststehen, ausharren kommt. Das Wort birgt das Versagen der Nerven in sich, das einen Menschen schliesslich fliehen lässt.
2. Im Allgemeinen bedeutet phobos im klassischen Griechisch Furcht im weitesten Sinne des Wortes. Es ist das Gegenteil von tharros - Mut.
3. Schliesslich bedeutet phobos im klassischen Griechisch auch Ehrfurcht, Achtung für einen Herrscher und vor allem für die Götter. Es ist das Gefühl, das der Mensch in Gegenwart eines weit über ihm Stehenden empfindet.
Im NT ist das Wort sehr bekannt, es kommt dort 47mal vor. Zuerst wollen wir seine Anwendung bei den Synoptikern (Matthaus, Markus, Lukas) und in der Apostelgeschichte untersuchen. Es wird für die Reaktion der Jünger gebraucht, als sie Jesus auf dem Wasser gehen sahen (Mt 14,26) und als er den Sturm stillte (Mk 4,41). Es bezeichnet die Wirkung, die die Heilung des Lahmen (Lk 5,26), die Auferweckung des Jünglings zu Nain (Lk 7,16) und die Heilung des besessenen Geraseners (Lk 8,37) auf die Augenzeugen hatte. Es drückt das Gefühl des Zacharias aus, als er den Engel des Herrn neben dem Altar stehen sah (Lk 1,12) und das der Anwesenden, als Zacharias seine Sprache wieder erlangte (Lk 1,65). Dasselbe Wort wird für die Hirten gebraucht, als die Engel ihnen die Geburt des Messias verkündigten (Lk 2,9).
Es zeigt die Reaktion der Wächter am Grabe Jesu, als der Engel erschien und den Stein wegwälzte (Mt 28,4) und der Frauen, nachdem sie das leere Grab gesehen hatten (Mt 28,8). Es bezeichnet die Gefühle der Menschen inmitten der Geschehnisse der Endzeit (Lk 21,26).
In der Apostelgeschichte bezeichnet phobos das Empfinden der Juden, als sie die Zeichen und Wunder sahen und die Kraft beobachteten, die in der Urgemeinde wirksam war (Apg 2,43). Phobos war die Reaktion der Menschen, die den Tod Ananias und Saphiras erlebten und davon hörten (Apg 5,5). Es wird gebraucht für die geschlagenen Beschwörer in Ephesus (Apg 19,17). Die Gemeinde wandelte in der Furcht - phobos des Herrn (Apg 9,31).
Weder in den Evangelien noch in der Apostelgeschichte ist phobos in einem schlechten Sinne gebraucht. Jede der betrachteten Stellen beschreibt das Empfinden im Herzen der Menschen, als sie die Wirkung der Kraft Gottes erlebten. Es kennzeichnet immer das Verhalten des Menschen, der mit dem gänzlich Unbekannten in Berührung kommt, mit dem, was ausserhalb seiner Möglichkeiten liegt, das ganz anders ist, als er selbst und das er nicht verstehen kann.
Hier wird uns klar, dass es keinen Glauben ohne Ehrfurcht gibt. Zwischen Gott und den Christen besteht eine innige, aber keine ungezwungen vertrauliche Verbindung. Phobos beschreibt das Empfinden eines Menschen, der in Bewunderung, Liebe und Anbetung versinkt. Es zeigt die Ehrfurcht, die ein Geschöpf in Gegenwart des Schöpfers überkommt. Swinburne schrieb den berühmten Satz: „Ehre sei dem Menschen in der Höhe, denn er ist der Herr aller Dinge!“ Phobos ist genau das Gegenteil dieses Ausspruchs, denn in seinem höchsten Sinn ist phobos absolute Ehrerbietung - Ehrfurcht des Menschen in der Gegenwart Gottes.
Im übrigen NT hat phobos eine viel kompliziertere Bedeutung; es wird im guten und auch im abwertenden Sinne gebraucht.
Wir wollen uns zunächst mit der positiven Anwendung beschäftigen.
1. In vielen Fällen bedeutet phobos eher Ehrerbietung als Furcht. Wie schon erwähnt, wird in Apg 9,31 von den Gemeinden berichtet, dass sie „in der Furcht des Herrn wandelten.“ Das besagt, dass die Christen in Ehrerbietung und Ehrfurcht gegenüber Gott lebten. Paulus sagt in Röm 3,18 von den Gottlosen, dass „keine Furcht Gottes bei ihnen ist.“ Ehrfurcht und Achtung vor Gott waren nicht vorhanden. Petrus schrieb, dass wir unsere Pilgerfahrt mit Furcht führen sollen (1 Petr 1,17). In diesem Fall beschreibt phobos das Empfinden eines Menschen, der im Schatten der Ewigkeit lebt, der sich ständig der Gegenwart Gottes bewusst ist und der nie vergisst, dass er einmal über sein Tun Rechenschaft ablegen muss.
2. Diese phobos, diese Ehrfurcht, das Bewusstsein der Allgegenwart Gottes ist der Beweggrund zu einem zuchtvollen Wandel der Christen, sie wirkt dem Verderben, der Sünde entgegen.
3. Diese phobos ist eine Triebfeder zur Heiligung (2 Kor 7,1). Weil Gott heilig ist, ist auch der Christ heilig. Das Leben eines Christen unterscheidet sich stark von dem anderer Menschen, und der Beweggrund dazu ist das Bewusstsein von der Nähe des heiligen Gottes.
4. Diese phobos hat etwas mit der „göttlichen Traurigkeit“ zu tun, die zur Busse führt (2 Kor 7,10-11). Eine Wurzel der Busse ist das Erkennen der eigenen Unzulänglichkeit, der Unwürdigkeit in der Gegenwart des heiligen Gottes. Aus diesem Empfinden erwächst phobos, das Gefühl der Niedrigkeit des Geschöpfes gegenüber dem Schöpfer.
5. Phobos bewirkt die Anstrengungen eines Christen um seine Seligkeit (Phil 2,12). Das Wissen um das kommende Gericht, um das Ziel, das er versäumen könnte, das Bewusstsein, dass dieses Leben hier von entscheidender Bedeutung ist, dass man sich der Liebe Christi wert zeigen möchte, erfüllen den Christen mit ehrfürchtigem und zitterndem Eifer und leidenschaftlichem Bemühen.
6. Diese phobos ist auch die Grundlage für die gegenseitige Achtung und den gegenseitigen Dienst der Christen (Eph 5,21). Der Christ lebt in der Gegenwart Gottes, er achtet nicht nur auf seine eigene Rettung, sondern auch auf den Bruder, für den Christus gestorben ist. Weil die Christen Gott ehren, können sie sich auch untereinander achten.
7. Phobos kann auch der Beweggrund sein für das Bestreben, andere Menschen für Christus zu gewinnen. Es wäre verkehrt, wollte man jegliche Drohung aus der christlichen Botschaft wegnehmen. Der christliche Glaube bietet den Menschen etwas an und gibt Verheissungen; aber jedes Angebot kann man ablehnen und den Verheissungen keinen Glauben schenken. Ein solches Verhalten zieht Konsequenzen nach sich.
8. Die Pastoralbriefe enthalten ein anderes Beispiel von Phobos. Gemeindezucht soll öffentlich geübt werden, damit die anderen es sehen und sich fürchten (1 Tim 5,20). Gemeindezucht wird also nicht nur geübt, um den in Sünde Gefallenen wieder zurecht zu bringen, sondern auch, um die anderen zu warnen und zu ermahnen, auf dem rechten Weg zu bleiben.
Es ist leicht zu erkennen, dass viele Gedanken des Neuen Testaments auf phobos, auf diese Ehrfurcht und das ständige Bewusstsein der Gegenwart Gottes zurückzugehen. Nun wollen wir uns der negativen Seite von phobos zuwenden.
Zuerst müssen wir noch zwei Anwendungen des Wortes untersuchen, die Regungen aus-drücken, die an sich nicht schlecht sind, aber zu einem verfehlten Handeln führen können.
1. phobos bezeichnet das natürliche Zurückschrecken vor einer schwierigen Aufgabe. In diesem Sinn gebraucht es Paulus für die unerquickliche Lage, in der er sich in Korinth befand (1 Kor 2,3; 2 Kor 7,5). Diese phobos ist natürlich und unvermeidlich. Je empfindsamer ein Mensch ist, um so heftiger wird er davon befallen. Einer solchen Regung braucht man sich nicht zu schämen. Schlecht wird die Sache erst, wenn dieses Gefühl einen Menschen von seiner Pflicht abhält, wenn er sich den Schwierigkeiten nicht stellt.
2. Phobos bezeichnet auch den Respekt vor menschlicher Autorität. Die Korinther empfingen Titus mit phobos (2 Kor 7: 15). Das NT verlangt wiederholt phobos gegenüber der Obrigkeit und den Arbeitgebern (Röm 13,7; Eph 6,5; 1 Petr 2,18), aber dieser Respekt darf nicht zur Unterwürfigkeit werden. Wir müssen „dem Kaiser geben, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21).
3. Nun kommen wir zu der ausgesprochen schlechten Seite von phobos. Es gibt eine Furcht - phobos, die charakteristisch ist für einen schlechten Menschen (Röm 13,3). Ein Mensch, der nach den Gesetzen lebt, hat von der Obrigkeit nichts zu fürchten. Hier ist phobos das Ergebnis böser Taten.
4. Es gibt eine Furcht - phobos vor dem Tod (Hebr 2,15). Ein amerikanischer Journalist stellte sich eine Reihe von Lebensregeln auf; ganz oben hin setzte er das Gebot: „Denke nie an den Tod!“ Dr. Johnson erklärte, dass die Furcht vor dem Tod dem Menschen so eingeprägt ist, dass das ganze Leben eine einzige Anstrengung ist, ihn fernzuhalten. Von dieser Furcht will die Hoffnung des Christen den Menschen befreien; der Christ ist nicht mehr von ihr gejagt.
5. Phobos und das Kleben am Buchstaben des Gesetzes gehen Hand in Hand. Das ängstliche, formale Beachten des Gesetzes erniedrigt den Menschen zum Sklaven; Furcht ist charakteristisch für Sklaven (Röm 8,15). Es war die Überzeugung des Apostels Paulus, dass das Gesetz nur Furcht hervorbringen konnte. Aber der Christ glaubt an die Gnade, durch die er ein Sohn der Liebe und nicht ein Sklave des Gesetzes ist.
6. Das Heilmittel gegen die Furcht - phobos ist die Liebe (1 Joh 4,16.18). Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht aus dem Leben. „Die Furcht“, sagt Johannes, „hat Pein“. Furcht hängt mit Strafe zusammen, aber der Christenglaube lehrt uns, nicht so sehr an die Rache, als an die Liebe Gottes zu denken, nicht so sehr an die Strafe, als an die Vergebung.
Wenn wir diese Aussagen der Apostel Paulus und Johannes zusammen betrachten, kommen uns sehr nützliche und anregende Gedanken. Beide zeigen uns, dass Furcht das Zeichen eines mangelhaften Glaubens ist. Wenn Furcht der Beweggrund unseres Glaubens ist, sind wir in Gesetzmässigkeit verfallen und denken an einen Gott der Rache. Die christliche Botschaft enthält zwar beides, Gesetz und Gericht, aber wenn sie vorherrschen und die Gnade und Liebe aus dem Denken des Menschen verdrängen, so ist dieser Glaube unzulänglich.
7. Phobos ist auch die Feigheit, die einen Menschen hindert, die christliche Botschaft weiter zu tragen, wie es doch seine Aufgabe ist. Das ist eine charakteristische Aussage des vierten Evangeliums. Die Furcht vor den Juden hielt die Menschen ab, ihren Glauben an Christus zu bekennen (Joh 7,13). Sie veranlasste Joseph von Arimatia ein heimlicher Jünger Jesu zu bleiben (Joh 19,38). Sie hielt die Jünger nach der Kreuzigung erschrocken hinter verschlossenen Türen (Joh 20,19). Sie kann einen Menschen in Zeiten der Not daran hindern, zu zeigen, welchem Herrn er dient (1 Petr 3,14). Phobos zerstört das innere Heldentum des christlichen Glaubens.
Phobos ist im NT ein bedeutendes Wort. Es kann keinen Glauben geben ohne die Ehrfurcht des Geschöpfes vor seinem Schöpfer. Das Empfinden von Ehrfurcht und das Bewusstsein der Gegenwart Gottes sind gleichzeitig Mittel gegen die Sünde und dynamische Kraft im Leben des Christen. Sie sind der Ursprung seiner Anstrengungen. Aber wenn Ehrerbietung zur Furcht im niederen Sinne wird, ist der Glaube unzulänglich geworden, hat man die Gnade und damit die Herrlichkeit verloren.