Auslegung der Bibel
In dieser Lektion fahren wir fort mit der Serie der grundlegenden Prinzipien und erklären die Notwendigkeit, einen Abschnitt vom grössten bis zum kleinsten Teil zu untersuchen. In der Lektion 3 beschäftigten wir uns mit dem grösseren Zusammenhang. Dabei ging es besonders darum, das Hauptthema oder die Hauptbotschaft eines Buches im Auge zu behalten, während wir uns mit einem einzelnen Abschnitt beschäftigten. In Lektion 4 untersuchten wir die Gliederung eines Buches. Wir wollten wissen, wie das Buch aufgebaut ist und wie wir die Gliederung des Textes erkennen können, die der Autor verwendet.
In diesem Teil unseres Studiums konzentrieren wir uns darauf, die Grammatik und die Syntax (Satzbau) des Textes zu analysieren, den wir verstehen wollen. Dazu gehört auch, dass wir die Beziehung zwischen den Sätzen erkennen, die den Zusammenhang des Textes ausmachen.
Definitionen
Was ist mit „Grammatik“, „Syntax“ und „Beziehungen der Sätze zueinander“ gemeint? In einem Lexikon wird Grammatik folgendermassen erklärt:
1a. Wie Wörter und ihre Bestandteile zu einem Satz zusammengefügt werden. 1b. Die strukturellen Beziehungen in einer Sprache. 2. System der Flexionen, Syntax und Wortformen einer Sprache.
Das gleiche Lexikon definiert „Syntax” wie folgt:
2a. Wie Wörter und andere Elemente der Satzstruktur kombiniert werden, damit sie einen grammatikalischen Satz bilden.
Richard N. Soulen definiert „Syntax“ in seinem Handbuch der Bibelkritik als „das Studium der Regeln eines Satzaufbaus in einer bestimmten Sprache“. In dieser Lektion brauchen wir das Wort “Grammatik” für die Beschreibung der Wortarten und ihrer Funktionen – z. B. Verb, Adjektiv, Nomen, ... und wie sie innerhalb eines Satzes gebraucht werden. Wir reden von „Syntax“ im Zusammenhang mit den einzelnen Sätzen und der Wechselwirkung der Wörter innerhalb eines Satzteils, eines Nebensatzes oder des ganzen Satzes.
Wie wir sehen, gehören Grammatik und Syntax eng zusammen. Um ein Wort zu analysieren, müssen wir wissen, wie es im Satz gebraucht wird. Um den Aufbau des Satzes zu verstehen, müssen wir die Satzteile verstehen und wie die einzelnen Wörter zu diesem Satzteil stehen. Für unser Studium werden wir aber die beiden Themen getrennt anschauen.
„Beziehung zwischen den Sätzen” behandelt, wie der Ausdruck schon sagt, die Beziehung zweier benachbarter Sätze zueinander innerhalb eines Abschnittes oder eines Kapitels. Für das rechte Verständnis ist es entscheidend, wie der Autor sein Thema über einzelne Sätze hinaus aufbaut.
Wie gehen wir vor beim Analysieren der Satzbeziehung, der Syntax und der Grammatik? Wie hilft uns diese Arbeit beim Verständnis eines Abschnittes?
Die Beziehung zwischen den Sätzen
Wenn wir die Beziehung zwischen den Sätzen betrachten, dann sehen wir, was ein vollständiger Gedanke mit dem nächsten zu tun hat. Ein anderer Name für dieses Konzept könnte „Satzfluss” heissen. Es konzentriert sich auf den Fluss der Gedanken von einem Satz zum anderen.
Die Beziehung zweier Sätzen zueinander ist wesentlich, um die Gliederung eines Abschnittes zu erkennen. „Satzbeziehungen” oder der „Satzfluss” findet auf einer noch kleineren Ebene statt, als die Gliederungen, die wir vorher diskutierten. Diese Beziehungen bilden eine „dritte Ebene der Gliederung” im Unterschied zu den ersten beiden Ebenen, die wir in den vorangehenden Kapiteln angeschaut haben.
Die folgenden zwei Beispiele sollen uns helfen, diesen Prozess zu verstehen. Sie zeigen, wie wir den Fluss oder die Beziehung der Sätze analysieren können, um zu verstehen worum es bei einem Abschnitt geht.
Erstes Beispiel: Hebräer 10,19-25. Die beiden Sätze in diesen Versen bilden einen Abschnitt, der wie folgt analysiert werden kann:
Der Satzfluss von Hebräer 10,19-25:
Die Konsequenzen eines vollkommenen Opfers
Zuerst zeigt der Schreiber in Hebräer 10 den Unterschied vom neuen Bund zum alten. Der neue Bund bietet ein Opfer, das im Stande ist, Sünden zu vergeben (10,18), während die Opfer des alten Bundes nie dieses Ziel erreichen konnten (10,1-4). In diesem Abschnitt (10,19-25) folgen die Konsequenzen dieses besseren Opfers in Form von Vorrechten (da wir nun …) und Pflichten (lasst uns …).
Wenn wir Hebräer 10,19-25 so analysieren, haben wir den Vorteil, dass der Vers 25 in einen Zusammenhang gesetzt wird. „Unser Zusammenkommen nicht versäumen“ ist nicht ein isolierter Befehl, vielmehr ist es ein Weg, „einander zur Liebe und zu guten Werken anzureizen“. Wenn wir uns versammeln – „wenn wir es nicht versäumen“ – „ermutigen wir uns gegenseitig“.
Zweites Beispiel: Amos 3,3-8. Hier geht es um eine Serie von kurzen Sätzen:
„Gehen etwa zwei miteinander,
ausser wenn sie zusammengekommen sind?
Brüllt der Löwe im Wald,
wenn er keine Beute hat?
Lässt der Junglöwe seine Stimme im Versteck erschallen,
ausser wenn er etwas gefangen hat?
Fällt der Vogel in das Klappnetz am Boden,
ohne dass ihm ein Stellholz gestellt ist?
Schnellt das Klappnetz von der Erde empor,
wenn es gar nichts gefangen hat?
Wird etwa in der Stadt das Horn geblasen,
und das Volk erschrickt nicht?
Geschieht etwa ein Unglück in der Stadt,
und der Herr hat es nicht bewirkt?
Denn der Herr, HERR tut nichts,
es sei denn, dass er sein Geheimnis seinen Knechten, den Propheten, enthüllt hat.
Der Löwe hat gebrüllt,
wer fürchtet sich da nicht?
Der Herr, HERR, hat geredet,
wer weissagt da nicht?“
Wie hängen diese Sätze miteinander zusammen? Die ersten sieben Sätze sind rhetorische Fragen, offensichtlich parallel. Sie wollen den Leser zu einer Schlussfolgerung führen, die er nicht verneinen kann – eine Schlussfolgerung, die in den letzten fünf Sätzen steht. Der Leser wird genötigt, nahe liegende Antworten zu jeder rhetorischen Frage zu geben. Sobald er das getan hat, muss er auch den Höhepunkt am Schluss akzeptieren. Wenn der Herr geredet hat, kann Amos nicht anders, als weissagen. Wahrscheinlich übermittelte Amos diese durch den Geist inspirierte Botschaft, weil einige sein Recht in Frage stellten, dem Volk prophetische Reden zu verkünden (siehe Am 7,10-12). Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass keiner dieser Sätze für sich allein ausgelegt werden kann. Der Gedankenfluss von einem Satz zum anderen ist erst dann vollständig, wenn der Höhepunkt am Ende des Abschnittes erreicht wird.
Diese beiden Beispiele zeigen, dass es nicht genug ist, nur einen einzigen Satz richtig zu verstehen. Es ist zu untersuchen, wie die Sätze in ihren Zusammenhang passen – in welcher Beziehung die Sätze zueinander stehen; wie der Gedankenfluss von einem Satz zum nächsten verläuft. Wenn wir nicht verstehen, wie ein Satz in den unmittelbaren Zusammenhang passt, laufen wir Gefahr, die Bedeutung des untersuchten Satzes zu verkennen.
Syntax – die Beziehung zwischen den Wörtern in einem Satz
Wenn wir die Syntax eines Abschnittes analysieren wollen, müssen wir auch den Satzaufbau jedes einzelnen Satzes untersuchen. Eine Möglichkeit ist, den Satz als Diagramm aufzuzeichnen. Einen anderen Weg schlägt Gordon Fee mit der Erstellung eines Flussdiagrammes vor.
Zuletzt wird das Subjekt (Hauptwort) und das Verb (Tätigkeitswort) des Satzes ermittelt, den wir auslegen wollen. Dazu zählen die Formulierungen und Satzteile, welche die Hauptaussage massgebend beeinflussen. Es ist nicht immer einfach, in den manchmal langen und komplizierten Sätzen der Bibel, die einzelnen Satzteile zu identifizieren. Ein gutes Beispiel ist in Hebräer 10,1:
„Denn da das Gesetz einen Schatten der zukünftigen Güter, nicht der Dinge Ebenbild selbst hat, so kann es niemals mit denselben Schlachtopfern, die sie alljährlich darbringen, die Herzunahenden für immer vollkommen machen.“
Dieser Satz besteht aus 32 Wörtern. Das Subjekt des Satzes ist das vierte Wort, „Gesetz“, aber das Verb, „kann“, folgt erst an 17. Stelle und wird an 31. und 32. Stelle mit „vollkommen machen“ fortgesetzt. Das direkte Objekt „die Herzunahenden“ steht an 27. und 28. Stelle. Man muss gut lesen können und etwas von Grammatik verstehen, um diesen Satz zu analysieren.
Folgendes Beispiel aus 1. Petrus 5,1-3 zeigt, wie man die Syntax mit einer schematischen Präsentation analysieren kann:
Die Ältesten (direktes Objekt)
unter euch
ermahne (Prädikat, Verb)
ich, (Subjekt)
der Mitälteste
und Zeuge der Leiden des Christus
und auch Teilhaber der Herrlichkeit,
die offenbart werden soll:
Hütet (Prädikat, Verb, Imperativ)
die Herde Gottes, (direktes Objekt)
die bei euch ist,
indem ihr Aufsicht übt,
nicht aus Zwang,
sondern Gott gemäss,
auch nicht aus schändlicher Gewinnsucht,
sondern bereitwillig,
nicht als die, die über ihren Bereich herrschen,
sondern indem ihr Vorbilder der Herde werdet!
Die Beziehungen der verschiedenen Satzteile werden verständlicher, wenn man einen Satz auf diese Weise betrachtet. Es zeigt zum Beispiel deutlich, wie die Ältesten die Herde hüten sollen und dass die Art ihrer Führung von grösster Wichtigkeit ist. Mit drei Paaren positiver und negativer Ermahnung wird das „Aufsicht üben“ näher beschrieben.
Wenn wir die Beziehungen der verschiedenen Satzteile bildlich darstellen können – sei es in Diagrammform oder schematisch – dann sind wir sicher, dass wir den Satz richtig verstanden haben.
Besondere Merkmale eines Satzes erkennen
Wenn wir die deutsche Sprache gut beherrschen, können wir auch die Sätze in der deutschen Bibel gut analysieren. Seien wir uns aber bewusst, dass die deutschen Sätze die Betonung oder die Bedeutung des Satzaufbaus nicht immer in gleicher Weise wiedergeben wie in der Originalsprache! Wenn wir auf verschiedene Werkzeuge zurückgreifen, die uns zur Verfügung stehen, werden wir besondere Merkmale der Sätze in der Originalsprache finden.
Variationen im Satzmuster. Es gilt festzustellen, ob ein bestimmter Satz in das gebräuchliche Satzmuster der Originalsprache passt. Wenn es nicht passt, kann dies von Bedeutung sein. Die gewöhnliche Reihenfolge der Wörter in einem deutschen Satz ist: Subjekt – Prädikat – Objekt. Im Griechischen kann diese Reihenfolge freier zusammengestellt werden als im Deutschen. So bestehen mehr Möglichkeiten, etwas zu betonen oder besser klingen zu lassen.
Nach John T. Willis gibt es im Hebräischen den Verbalsatz mit Verb – Subjekt – Objekt. Der Normalfall ist aber ein Nominalsatz mit nur zwei Teilen: Subjekt – Prädikat. Wenn nun die Reihenfolge im Hebräischen oder Griechischen vom jeweiligen Normalfall abweicht, dann will der Schreiber etwas betonen, was am Anfang oder am Ende steht.
Unvollständige Sätze. Im Alten und im Neuen Testament finden wir unvollständige Sätze. Zum Beispiel Exodus 32,32: „Und nun, wenn du doch ihre Sünde vergeben wolltest! Wenn aber nicht, so lösche mich aus deinem Buch, das du geschrieben hast, aus.“ Hier ist es nötig als Ausleger die restlichen Wörter für den Satz „wenn du doch ihre Sünden vergeben wolltest“ selber zu ergänzen. Wahrscheinlich würden wir sie mit den Worten „Bitte tue es!“ ergänzen. Genauso ist es auch nötig, dass wir versuchen, die Gefühlslage des Sprechers zu verstehen. Der unvollständige Satz zeigt, wie aufgewühlt der Sprecher war.
Die Grammatik analysieren – die Aufgabe der Wörter in einem Satz
Grammatik befasst sich mit dem Gebrauch und der Funktion von Wörtern in einem Satz. Weil die Bibel ursprünglich in Griechisch und Hebräisch geschrieben wurde, sind wir vor allem an der Grammatik in der Originalsprache interessiert. Deutsche Übersetzungen werden den Nuancen der grammatischen Bedeutung des Hebräisch oder des Griechisch nicht immer gerecht. Grammatische Regeln des Griechisch und des Hebräisch können wir nicht im Rahmen dieser Lektion besprechen. Trotzdem sollen folgende Ausführungen zusammenfassen, was betreffs der Grammatik zu beachten ist. Beispiele sollen zeigen, wie uns die Grammatik in der Auslegung unterstützt, wenn wir sie beachten.
Was gehört zur Analyse der Grammatik?
Als erstes geht es beim Studium der Grammatik darum, die Art jedes Wortes in einem Satz zu bestimmen. Wir können uns bei jedem Wort die Frage stellen: „Ist es ein Nomen, ein Verb, ein Adjektiv, ein Adverb oder eine andere Wortart?“
Der zweite Schritt umfasst die genaue Bestimmung jedes einzelnen Wortes. Dazu braucht es unterschiedliche Fragen je nach Wortart. Zum Beispiel hat jedes Nomen im Griechischen eine Zahl, ein Geschlecht und einen Fall. Der Fall bestimmt die Funktion des Nomens im Satz. Haben wir den Fall ermittelt, können wir bestimmen, ob es als Subjekt, als direktes Objekt, als Objekt mit einer Präposition oder in einer anderen Funktion verwendet wird. Im Griechischen werden die Verben in Zahl, Person, Zeit, Modus und Genus eigeteilt. Andere Wortarten kennen noch weitere Einteilungen.
Die Hebräische Grammatik unterscheidet sich von der Griechischen als auch von der Deutschen. So gibt es beispielsweise keine Zeit. Sowohl der Perfekt, wie auch der Imperfekt können Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft sein. Um die Hebräische Grammatik besser kennenzulernen, müssen wir weitere schriftliche Quellen benutzen.
Unabhängig von der Sprache ist es bei der Grammatik unsere Aufgabe, die Wortart jedes Wortes und deren Funktion im Satz zu bestimmen. Natürlich können wir hier Hilfe von einem analytischen Lexikon oder einem guten Computerprogramm bekommen. Auch in Kommentaren finden wir zum Teil Aussagen zum grammatischen Aufbau der Originalsprache.
Der Wert der grammatischen Analyse
Was für einen Wert hat die Analyse der Grammatik? Folgende Beispiele zeigen, warum die Analyse der Grammatik entscheidend ist, die richtigen Schlussfolgerungen aus einem Abschnitt zu ziehen.
Ein Beispiel aus dem Alten Testament. Den Wert der grammatischen Analyse zeigt die Stelle in Richter 19,25: „Aber die Männer wollten nicht auf ihn hören. Da ergriff der Mann seine Nebenfrau und führte sie zu ihnen hinaus auf die Strasse.“ Douglas Stuart schreibt:
Wenn man Richter 19 auslegt, gerät man in einen scheinbar verwirrenden Widerspruch. Der Levit scheint sehr rücksichtslos zu handeln (V. 28), wenn er seine Nebenfrau einer Bande von Vergewaltigern aussetzt (V. 22-25). Anschliessend wird er wütend über das (Vorhersehbare), was sie ihr angetan haben und ruft ganz Israel zu einem Krieg zusammen (V. 29-30).
Die Lösung dieser Verwirrung liegt nach Stuart darin, sorgfältig nach dem Gebrauch bestimmter Wörter zu sehen:
… jede Person in der Geschichte hat mehrere Rollen. Besonders der Levit wird „Levit“ (V. 1), „ihr Mann“ (V. 3), „sein Schwiegersohn“ (V. 5.9) und „der Mann“, (V. 7.9.17.22.28, usw.) genannt. Der Ephraimit, in dessen Haus in Gibea der Levit übernachtete wird „ein alter Mann“ (V. 16), „der Mann“ (V. 16.22.23.26) und „der alte Mann“ (V. 17.20, usw.) genannt. Wir sehen, sowohl der alte Mann, wie auch der Levit werden mit „der Mann“ („haisch“) bezeichnet. Welcher Mann ist nun der grammatische Bezugspunkt für „haisch“ in Vers 25? Die Identität der Nebenfrau ist klar, aber „haisch“ ist mehrdeutig. Unsere Entscheidung hängt davon ab, wie wir das Ereignis gewichten.
Zunächst stellen wir fest, dass ausserhalb von Vers 25 beide, der Levit und der alte Mann, mit „der Mann“ bezeichnet werden. Daher ist „haisch“ in Vers 25 nicht eindeutig identifizierbar. Es fehlt die nähere Bestimmung.
Als Zweites sehen wir in den Versen 22-25, dass es eindeutig der Besitzer des Hauses ist, der mit den ruchlosen Männern im Gespräch steht. Daher entscheiden wir richtig, wenn wir den alten Mann als den grammatischen Bezugspunkt zu „haisch“ sehen, den Ephraimit und nicht den Leviten.
Beispiele aus dem Neuen Testament. Die folgenden fünf Beispiele zeigen, wie uns die Analyse der Grammatik hilft, einen Abschnitt genauer zu verstehen.
Erstens, 1. Johannes 8,24b: „Denn wenn ihr nicht glauben werdet, dass ich es bin, so werdet ihr in euren Sünden sterben.“ Im Griechischen muss das Personalpronomen (ich), das zum Verb gehört, nicht genannt werden, es ist bereits im Verb enthalten. Das griechische Verb lüo, beispielsweise, heisst nicht „verlieren“, sondern „ich verliere“. Es ist die erste Person Singular des Verbes „verlieren“. Wenn der Text trotzdem das Personalpronomen enthält, will der Schreiber eine Betonung setzen. In Johannes 8,24b steht in der Originalsprache für „ich bin es“ „ego eimi“. Ego ist das griechische Wort für die erste Person Singular, ich (das deutsche Wort Ego stammt davon ab). Eimi ist das griechische Wort für „ich bin“ (erste Person Singular des Verbes sein). Wenn Jesus nur sagen wollte, „ich bin“, hätte er es mit eimi tun können, ego wäre nicht nötig gewesen. Die Tatsache, dass er nicht nur eimi, sondern ego eimi sagte, muss demzufolge eine Bedeutung haben. Er sagt soviel wie, „ich, ja ich selbst bin es!“ Die Kenntnis der griechischen Grammatik hilft uns die Betonung zu erkennen, die Jesus in seiner Beschreibung über sich selbst macht.
Zweitens, 1. Korinther 13,10: „Wenn aber das Vollkommene kommt, wird das, was stückweise ist, weggetan werden.“ Was ist „das Vollkommene“ in diesem Vers? Man neigt dazu „das Vollkommene“ auf Christus zu beziehen, da er der absolut Vollkommene ist. Wenn das stimmt, sagt diese Stelle, dass die übernatürlichen Gaben („das Stückhafte“) weggetan werden, wenn Christus wiederkommt. „Das Vollkommene“ ist aber im Griechischen wie im Deutschen Neutrum. Da aber Christus nicht Neutrum ist, ist es unpassend, „das Vollkommene“ auf ihn zu beziehen.
Drittens, Epheser 2,8: „Denn aus Gnaden seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es.“ Worauf bezieht sich „das“ in diesem Satz? Einige verbinden es mit „Glauben“. Der Glaube ist die Gabe Gottes. Die Folge davon wäre, dass man solange nicht an Jesus glauben kann, bis Gott jemandem den Glauben auf wundersame Weise vermittelt. Gegen dieses Argument spricht die Tatsache, dass das Wort „das“ Neutrum ist, das Wort „Glaube“ in Griechisch feminin. Im Griechischen muss, wie im Deutschen, das Pronomen in Zahl und Geschlecht mit dem vorangehenden Substantiv übereinstimmen. Daher ist es unpassend, das Wort „das“ auf „Glaube“ zu beziehen und mit diesem Vers beweisen zu wollen, dass der Glaube eine Gabe Gottes sei.
Viertens, Hebräer 10,22: „So lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und damit gereinigt vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser.“ Diese hier genannten vier Punkte werden gerne mit den vier Schritten im Heilsplan Gottes gleichgesetzt: (1) „mit wahrhaftigem Herzen“, d. h. ein offenes Herz, eine Bereitschaft zu hören. (2) „In voller Gewissheit des Glaubens“, d. h. Glaube in Christus. (3) „Die Herzen besprengt und damit gereinigt vom bösen Gewissen“, d. h. Busse, Umkehr. (4) „Den Leib gewaschen mit reinem Wasser“, d. h. im Wasserbad der Taufe. Diese vier Punkte entsprechen aber nicht alle dem gleichen Muster, nicht einmal im Deutschen. „Das wahrhaftige Herz“ und „die volle Gewissheit“ enthalten kein Verb, während „die Herzen besprengt“ und „den Leib gewaschen“ Verben haben.
Im Weiteren dürfte auch die Zeitform der Verben wichtig sein. Das erste und wichtigste Verb dieses Satzes ist „lasst uns hinzutreten“. Die Zeitform ist Präsens. Die beiden anderen Verben sind im Perfekt. Da das Präsens meist eine fortwährende Tätigkeit beschreibt, sagt der Schreiber: „Lasst uns dabei bleiben, hinzuzutreten.“ Wie? „In Wahrhaftigkeit und Glaube!“: Diese Eigenschaften brauchen wir, um fortwährend zu Gott hinzuzutreten. Im Gegensatz dazu bezieht sich das Perfekt auf etwas, das in der Vergangenheit getan wurde, aber noch immer Auswirkungen auf die Gegenwart hat. Es betont den gegenwärtigen Einfluss von einer erfolgten Handlung. Folglich beeinflusst unsere anfängliche Rettung, die wir durch Umkehr („unsere Herzen besprengt“) und Taufe („den Leib gewaschen“) erlangt haben, unser jetziges Leben, in dem wir fortfahren, uns Gott zu nahen. Mit anderen Worten: „hinzutreten“ findet in der Gegenwart statt; unsere Rettung durch Umkehr und Taufe erfolgte in der Vergangenheit, hat aber einen dauerhaften Einfluss.
Um einen Abschnitt richtig zu verstehen, müssen wir zuerst den Fluss der Sätze im Abschnitt analysieren. Dann können wir den Aufbau jedes Satzes darstellen oder analysieren. Auf diese Weise können wir verstehen, was uns die Grammatik des Satzes über seine Bedeutung aufzeigt.
Wir müssen uns nicht zu sehr in die Grammatik und die Satzstruktur verlieren. Während der eine Autor etwas betonen wollte, indem er es an den Anfang stellte, beabsichtigte ein anderer bloss etwas Abwechslung in seiner Formulierung. Genauso ist es mit dem griechischen Präsens („ich gehe“). Es kann eine fortwährende oder sich steigernde Tätigkeit bedeuten – dies ist aber nicht immer der Fall. Der Zusammenhang muss zeigen, ob ein Präsens eine fortwährende Tätigkeit beschreibt.
Als Ausleger sollten wir Schlüsse vermeiden, die nicht gut belegt sind. Es geht nicht darum, unseren Wunschvorstellungen nachzukommen. Es geht hier darum, Gottes Wahrheit richtig zu verstehen und auszulegen! Daher müssen wir jede Schlussfolgerung sorgfältig prüfen; wegweisend sind solche, die sich auf die Originalsprache beziehen und wenn wir uns dabei auf Schriften von Gelehrten stützen, die in Griechisch und Hebräisch gut gebildet sind.