Entstehung-03: Die Handschriften des Neuen Testamentes

Die Bibel – Entstehung und Überlieferung

Neil R. Lightfoot

 

Wir haben gesehen, dass die neutestamentlichen Briefe in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts geschrieben wurden, und zwar auf Papyrusblätter. Papyrus wurde allgemein benutzt, war aber kein dauerhaftes Schreibmaterial. Deshalb waren die Originale der neutestamentlichen Briefe bald nach ihrem Erscheinen unbrauchbar. Gottes Wort war aber nicht verloren, denn die ersten Christen hatten die neutestamentlichen Briefe als Botschaft von Gott aufgenommen; sie fertigten deshalb viele Abschriften der wertvollen apostolischen Send­schreiben an.

Nehmen wir an, wir haben solch eine neutestamentliche Handschrift vor uns liegen. Das erste, was wir festzustellen versuchen, ist ihr Alter. Um das Alter einer Handschrift bestimmen zu können, müssen wir sie sorgfältig untersuchen. Sind es Gross- oder Kleinbuchstaben? Sind die Wörter alle zusammengeschrieben, oder gibt es Abstände dazwischen? Wie viele Spalten stehen auf einer Seite, und wie lang sind sie? Sind Satzzeichen oder Abschnitte vorhanden? Welche Form haben die Buchstaben? Sind sie schmucklos und einfach oder sorgfältig ausgearbeitet und verziert? Das sind einige grundsätzliche Gesichtspunkte, nach denen man eine Handschrift beurteilt. Ein Spezialist achtet noch auf viele andere Dinge und kann durch Fachkenntnis und Erfahrung das genaue Alter einer jeden Handschrift bestimmen.

Es gibt zwei Haupttypen neutestamentlicher Handschriften, die durch die Form der Buchstaben bestimmt werden. Die ältesten und wichtigsten Dokumente sind in Grossbuchstaben geschrieben und als Unziale bekannt. Die meisten Handschriften haben eine kleine flüssige Schrift und sind bekannt als Kursive. Sie sind erst nach dem 9. Jahrhundert entstanden und deshalb weniger wertvoll.

Es gibt etwa 4'500 neutestamentliche Handschriften. Nur wenige umfassen jedoch das ganze Neue Testament. Trotzdem ist das Neue Testament das bestbezeugte Buch des Altertums. Die meisten Handschriften enthalten nicht das gesamte Neue Testament, weil eine handgeschriebene Kopie des Ganzen viel zu unhandlich gewesen wäre. Unsere heutigen Handschriften zeigen, dass man im allgemeinen beim Abschreiben des Neuen Testamentes vier Einteilungen machte:

1. die vier Evangelien,

2. die Apostelgeschichte und die allgemeinen Briefe,

3. die paulinischen Briefe und 4. die Offenbarung.

Oft wurden die Gruppen 2, 3 und 4 zu einem zweiten Band zusammengefasst, während der erste Band die vier Evangelien umfasste. Das Neue Testament wurde also oft aufgeteilt; aus diesem Grunde enthalten die meisten Handschriften, die wir heute haben, nicht alle 27 Bücher. Von den bekannten 4'500 Handschriften sind die meisten Kursive, die aus der Zeit vom 9. bis 15. Jahrhundert stammen, während wir etwa 300 Unzialschriften besitzen.

Zuerst wurde das Neue Testament im Unzialstil geschrieben, d. h. in Grossbuchstaben, ohne Raum zwischen den Wörtern und ohne Interpunktion. Wie der Brief des Apostels Paulus an die Römer ausgesehen haben mag, illustriert der folgende Schriftsatz:

PAULUS EINKNECHT JESUCHRISTI BERUFEN ZUM APOSTEL AUSGESONDERT ZU PREDIGEN DAS EVANGELIUM GOTTES WELCHES ER ZU VOR VERHEISSEN HAT DURCH ...

Das veranschaulicht in etwa den Originalbrief des Apostels Paulus, mit dem Unterschied, dass der Apostel natürlich in Griechisch geschrieben hat und dass er Abkürzungen für bekannte Worte benutzt haben mag. Angefangene Wörter wurden auf der nächsten Zeile weitergeschrieben, um eine gerade Spalte zu erhalten.[1]

Wie oben erwähnt, gibt es heute etwa 300 Unzialschriften. In dieser Zahl sind etwa 70 Papyrusdokumente aus der Zeit vom 2. bis 4. Jahrhundert enthalten. Manchmal wurde auf zerbrochene Töpferware, bekannt als Ostraca, geschrieben, wovon uns etwa 30 Fragmente mit Teilen des Neuen Testamentes erhalten geblieben sind. Solche Funde wie die Papyri und Ostraca wurden meistens innerhalb der letzten 50 Jahre gemacht und haben natürlich sehr zu unserer Kenntnis des neutestamentlichen Textes beigetragen. Ausser den Papyri und Ostraca existieren etwa 200 Unzialhandschriften auf Pergament, die vom 4. bis 9. Jahrhundert datieren.

Die wichtigsten Unzialschriften

Die ältesten Abschriften der Bibel sind bei weitem die wichtigsten. Glücklicherweise sind unsere ältesten Pergamenthandschriften vollständige oder fast vollständige Abschriften des Neuen Testamentes. Von diesen alten Kopien gibt es drei. Sie sind bekannt als Codex Vaticanus, Codex Sinaiticus und Codex Alexandrinus und datieren zurück bis 300 - 450 n. Chr. Gealtert, abgenutzt und verblasst, bilden sie den grössten Dokumentenschatz der Christenheit, die ältesten Bibeln der Welt.

Der Codex Vaticanus
Diese Handschrift aus dem 4. Jahrhundert ist als das älteste und wichtigste vollständige Zeugnis des Neuen Testamentes anerkannt. Sie befindet sich seit mindestens 400 bis 500 Jahren in der Bibliothek des Vatikans. Dort ist die Handschrift, dank päpstlicher Autorität, durch die Jahrhunderte so gut bewacht worden, dass sie erst seit kurzer Zeit für die Gelehrten erreichbar ist. Im letzten Jahrhundert wurde Textforschern ersten Ranges wie S. P. Tregelles und Constantin v. Tischendorf das Studium dieses Meisterstückes nur unter Aufsicht gewissenhafter Priester gestattet; die Erlaubnis zum Abschreiben gab man ihnen nicht. In jüngerer Zeit jedoch wurde durch genaue Nachbildungen und Mikrofilme der ganze Text des Codex Vaticanus der Welt verfügbar.

Der Codex Vaticanus (abgekürzt Codex B) ist ein seltenes Wertstück, da er in griechischer Sprache fast das ganze Alte und Neue Testament enthält. Der Anfang bis zu 1. Mose 46,28 ist verlorengegangen, ebenso einige Psalmen (Psalm 106-138), das Ende des Hebräerbriefes (Hebräer 9,14 bis zum Ende), die Briefe an Timotheus und Titus und die Offenbarung. Die Handschrift ist in Buchform gebunden, also ein Kodex, und umfasst 759 Seiten feinstes Pergament. Jede Seite misst etwa 27 cm im Quadrat und ist dreispaltig beschrieben. Die Schönheit der Handschrift ist von einem späteren Schreiber verdorben worden, der nachkommenden Generationen einen Dienst erweisen wollte, indem er die alten Buchstaben überschrieb, deren Tinte anfing zu verblassen. In Wirklichkeit hätte uns der Schreiber einen grösseren Dienst erwiesen, wenn er die Handschrift unverändert gelassen hätte, denn sogar nach 1600 Jahren sind die Originalbuchstaben noch zu sehen.

Wie oben erwähnt, ist der Codex Vaticanus nicht ganz vollständig. Trotz seiner Lücken wird er als die genaueste bekannte Abschrift des Neuen Testamentes angesehen. Diese Handschrift ist nicht nur die älteste der grossen Unzialschriften; umfassende Studien haben gezeigt, dass sie auch den reinsten Text enthält. Unsere heutigen griechischen Texte basieren weitgehend auf dem Codex Vaticanus.

Ein anderer beachtenswerter Punkt betrifft das Ende des Markusevangeliums. Auf die Schwierigkeiten in diesem Kapitel werden wir später näher eingehen. An dieser Stelle genügt es darauf hinzuweisen, dass diese Handschrift die Verse Markus 16,9-20 nicht enthält. Aus unbekannten Gründen jedoch hat der Schreiber an dieser Stelle mehr als eine Spalte in seiner Handschrift freigelassen. Dies scheint zu zeigen, dass ihm die Existenz der fraglichen Texte bekannt war, er sich aber nicht entscheiden konnte, ob er sie einfügen solle oder nicht.

Der Codex Sinaiticus
(Auch Codex Aleph, nach dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets). Fast genauso wichtig wie der Codex Vaticanus ist der Codex Sinaiticus. Diese Handschrift wurde von dem grossen Textforscher Constantin v. Tischendorf in dem St. Katharinen-Kloster auf dem Berge Sinai „entdeckt“ und wird darum Codex Sinaiticus genannt.

Es gibt kaum etwas Erstaunlicheres in der Geschichte der Bibel als die Entdeckung des Sinai-Kodex. Als Tischendorf 1844 dieses Kloster besuchte, stiess er auf einen Korb voll alter Pergamente, die zum Verbrennen bestimmt waren. Bei näherer Untersuchung fand er zahlreiche Seiten der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, 129 grosse Pergamentblätter. Tischendorf hatte sich schon mit vielen Handschriften beschäftigt, aber diese Blätter waren ganz eindeutig die ältesten, die er je gesehen hatte. Es wurde ihm erlaubt, 43 dieser alten Blätter mitzunehmen, aber er konnte die Sensation seiner Entdeckung nicht für sich behalten. Seine Erregung über den Fund weckte das Misstrauen der Klostervorsteher, so dass sie ihm fortan nicht mehr behilflich waren. Während der nächsten 15 Jahre versuchte Tischendorf mehr Handschriften zu finden, aber seine Suche war vergeblich.

Im Jahre 1859 war Tischendorf wieder auf der Suche nach den kostbaren Dokumenten. Inzwischen hatte er Freundschaft mit dem russischen Zaren Alexander II. geschlossen; da St. Katharina ein griechisch-orthodoxes Kloster ist, konnte ihm die Gönnerschaft des russischen Herrschers sehr wertvoll sein. Mit Unterstützung des Zaren kam Tischendorf also wieder zu dem Berge Sinai. Seine tagelangen sorgfältigen Untersuchungen blieben ergebnislos. Am Vorabend seiner festgesetzten Abreise erwähnte der Verwalter des Klosters zufällig eine in seinem Besitz befindliche alte Abschrift der Bibel. Tischendorf hatte die Hoffnung, die alten Dokumente noch zu finden, bereits aufgegeben; in Gedanken hatte er sie als Brennmaterial im Ofen irgendeines Mönches gesehen. Man kann sich seine Überraschung vorstellen, als ihm nach 15 jährigem Bangen, am Vorabend seiner Abreise, der Verwalter die gesuchten Handschriften zeigte. Was er vor sich sah, waren nicht nur Teile des Alten Testamentes, sondern auch das ganze Neue Testament, vollständig mit allen 27 Büchern. Aber diesmal meisterte Tischendorf seine innere Erregung, und fast gleichgültig fragte er den Verwalter, ob er die Abschrift mit auf sein Zimmer nehmen dürfe. Den Rest der Nacht arbeitet er mit seinem unbezahlbaren biblischen Schatz, denn, wie er später sagte, „schien es ihm eine Gotteslästerung, in dieser Nacht zu schlafen.“ Nach vielen Bemühungen erreichte Tischendorf, dass die Handschrift dem russischen Zar zum Geschenk gemacht wurde. Aber Russland sollte nicht die bleibende Heimat des Kodex werden. Als die russische Regierung im Jahre 1933 mehr Interesse an Geld als an der Bibel hatte, verkaufte sie den Codex Sinaiticus an England für 100’000 englische Pfund (damals ungefähr 600’000 Euro). Die Hälfte dieses Betrages wurde von der englischen Regierung bewilligt und die andere Hälfte durch freiwillige Spenden aufgebracht. Seit dieser Zeit ruht Tischendorfs grösster Fund im Britischen Museum.

Die Blätter des Codex Sinaiticus sind grösser als die des Codex Vaticanus. Das verwendete Pergament ist von aussergewöhnlicher Qualität, die Handschrift steht gross und klar in vier Spalten auf jeder Seite. Tischendorfs erster Eindruck über sein Alter hat sich als wahr erwiesen, und es wird allgemein anerkannt, dass die Schrift aus der Mitte des 4. Jahrhunderts stammt. Sein Alter macht den Kodex natürlich sehr wertvoll. Umfassende Textstudien haben ihn auf gleiche Stufe mit dem Codex Vaticanus gestellt. Somit sind Codex Vaticanus und der Codex Sinaiticus die zwei bedeutendsten Zeugnisse des griechischen Neuen Testamentes.

Der Codex Alexandrinus
Diese Unzialschrift aus dem 5. Jahrhundert muss kurz erwähnt werden. Der Kodex wurde im Jahre 1627 dem englischen König Karl I. durch Cyril Lucar, einem hohen Amtsträger der griechischen Kirche, als Geschenk überreicht. Seit dieser Zeit wird der Kodex in der königlichen Familie weiter vererbt und hat seinen Platz im Britischen Museum gefunden.

Der Codex Alexandrinus (Codex A) umfasst beide Testamente, ist aber an manchen Stellen schadhaft. Vom Alten Testament fehlen nur zehn Blätter, vom Anfang des Matthäusevangeliums jedoch 25 Blätter, im Johannesevangelium zwei und im 2. Korintherbrief drei. Sein Text ist nicht ganz so wertvoll wie der der zwei schon besprochenen Handschriften.

Der Codex Alexandrinus verursachte soviel Erregung wie die Entdeckung der Schriftenrollen im 20. Jahrhundert vom Toten Meer. Er war die erste der drei grossen Unzialhandschriften, die ans Licht kamen. Die unterschiedliche Lesart dieser Handschrift im Vergleich zu den schon bekannten führte zu einer neuen kritischen Betrachtung der Texte.

Wir könnten viele andere nennenswerte Unzialen betrachten, zwei davon sollen in der nächsten Lektion erwähnt werden. Jede der heute existierenden 4500 Handschriften hat ihre eigene Geschichte und, obwohl zahlreiche davon relativ unwichtig sind im Vergleich zu den grossen Unzialen, ist doch jede ein unabhängiges Zeugnis für unser Neues Testament.

Zusammenfassung

Die griechischen Handschriften des Neuen Testamentes werden in zwei wichtige Gruppen eingeteilt; die Unziale und die Kursive. Die Unziale ist in Grossbuchstaben geschrieben, während die Kursive unserer heutigen Handschrift ähnlich ist. Die meisten unserer Handschriften sind Kursive, sie datieren vom 9. Jahrhundert an. Die Unzialpergamente, von denen einige aus dem 4. Jahrhundert stammen, haben einen unschätzbaren Wert als Zeugen der neutesta­mentlichen Bücher. Die „Grossen Drei“ der Unziale sind in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit: der Codex Vaticanus, der Codex Sinaiticus und der Codex Alexandrinus. Zwei von ihnen wurden erst im letzten Jahrhundert zugänglich, der Codex Alexandrinus im Jahre 1627.

 

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[1] Oscar Paret „Die Überlieferung der Bibel“: Seite 31, Die griechische Majuskelschrift. Das ist eine ausschliesslich auf Grossbuchstaben bestehende Schrift. Die einzelnen Buchstaben sind lose nebeneinandergesetzt, ohne Zeichen für Worttrennung und Satztrennung. In dieser Schrift sind die griechischen Bücher bis ins neunte Jahrhundert n. Chr. geschrieben worden. Im Lateinischen entspricht dieser Schriftart die Capitalis und die aus ihr entwickelte Uncialis, eine von Hieronymus gebrauchte Bezeichnung für eine bestimmte Grösse der Buchstaben.
Die Minuskelschrift. Eine Schrift aus lauter kleinen Buchstaben, entstanden in der Palastschule Kaiser Karls des Grossen in Aachen im Anschluss an die Briefschrift. Man nennt sie deshalb „Karolingische Minuskel“. Daneben gibt es die „Kursive“, genannt nach der laufenden Verbindung der Buchstaben. Seit dem neunten Jahrhundert üblich. Sie beanspruchte weniger Raum, die Bücher wurden daher handlicher.
Die Unzialschrift kann leider im html Format nicht korrekt dargestellt werden (siehe dazu das pdf Dokument!).

 

Arbeitsblatt 3: Zum Einprägen

 

Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen anhand der Lektion und senden Sie das ausgefüllte Arbeitsblatt an die Kontaktadresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

 

 

1. Nennen Sie einige Punkte, nach denen Handschriften beurteilt werden.


2. Erklären Sie den Unterschied zwischen Unziale und Kursive. Welche der beiden Gruppen ist die wichtigere als Beweis der neutestamentlichen Texte? Warum?



3. Nennen Sie die drei ältesten und wertvollsten Abschriften des Neuen Testamentes. Wo befindet sich jede dieser Handschriften heute?



4. Nennen Sie kurz einige Hauptmerkmale des Codex Vaticanus.


5. Wer war Constantin v. Tischendorf? Welche Rolle spielte er in der „Entdeckung“ des Codex Sinaiticus?


6. Konnte Luther sich schon auf die drei grossen Handschriften stützen, als er die Bibel übersetzte?


7. Fragen oder Anregungen?