Die Bibel – Entstehung und Überlieferung
Neil R. Lightfoot
Wir haben gesehen, dass die Originalhandschriften des Neuen Testamentes nicht mehr existieren. Wir mögen uns wundern, warum der Herrscher über Himmel und Erde solches zuliess! Vielleicht sind wir versucht zu fragen, warum Gott nicht auf irgendeine Weise die Originalbriefe der inspirierten Schreiber gesammelt und sicher aufbewahrt hat. Menschen können auf diese Fragen keine endgültige Antwort geben. Aber wir können sehen, dass Abschriften von den Originalen gemacht werden mussten, um das Wort zu verbreiten.
Beim Herstellen von Büchern gab es früher wie heute Probleme. Es ist nichts Ungewöhnliches, in den heute veröffentlichten Druckerzeugnissen offenkundige Fehler zu finden. Wenn heute in gedruckten Bibeln Fehler erscheinen, so können wir uns leicht vorstellen, wie sich Fehler in die neutestamentlichen Handschriften einschlichen. Alle alten Bücher waren Handarbeit, und keine menschliche Hand ist so exakt und kein menschliches Auge so scharf, dass jeglicher Fehler vermieden werden könnte. Es wurden also Fehler gemacht und abgeschrieben, und sie vermischten sich mit dem reinen Text.
Die Textforschung
Diese Fehler im biblischen Text haben eine hochentwickelte Wissenschaft ins Leben gerufen, die Textforschung. Die Arbeitsweise des Textforschers ist folgende: Durch Vergleich und Studium aller verfügbaren Beweisstücke versucht er, den genauen Wortlaut der Originalfassung zu ermitteln. Er versucht, den echten griechischen Text von allen Fehlern zu reinigen. Er erkennt, dass seine Aufgabe so wichtig ist wie die Botschaft selbst, die der Text enthält. Warum ist er so sehr um den griechischen Text bemüht? Weil er weiss, dass dieses der einzige Weg ist, eine zuverlässige Übersetzung zu verfassen. Wenn der griechische Text unrichtig ist, muss notwendigerweise jede Übersetzung falsch sein.
Fehlerquellen beim Abschreiben
Die vorhandenen Handschriften zeigen verschiedene Arten von Fehlern. Es gibt Änderungen, die durch Unachtsamkeit entstanden, und solche, die absichtlich gemacht wurden.
Unabsichtliche Veränderungen
Die Bücher wurden häufig nach Diktat vervielfältigt, so konnten Unrichtigkeiten aufgrund von Hörfehlern entstehen, denn in jeder Sprache gibt es ähnlichklingende Wörter. Ein Schreiber, der eine Handschrift vor sich liegen hatte, konnte zwei Wörter miteinander verwechseln, oder es konnte ihm durch falsche Gruppierung der Wörter ein Fehler unterlaufen. Das ist verständlich, wenn wir uns daran erinnern, dass fast während der ganzen Unzialperiode die Buchstaben ohne Zwischenräume aneinandergereiht wurden.
Irrtümer durch Auslassungen oder Zusätze sind in allen Handschriften vorhanden. Manchmal wurden Wörter aus Unachtsamkeit ausgelassen. Öfters jedoch kamen Auslassungen zustande durch zwei gleiche oder ähnliche Wörter an verschiedenen Stellen der Handschrift. So konnte zum Beispiel der Blick des Schreibers vom Ende der 6. Zeile zu einem gleichen Wort am Ende der 10. Zeile gleiten und die dazwischenliegenden Zeilen auslassen. Auf die gleiche Weise konnten Zusätze entstehen oder ein Wort zweimal geschrieben werden. Der Textforscher aber kann durch Vergleichen der vielen Handschriften solche Fehler ohne Schwierigkeiten sofort erkennen. Eine andere Fehlerquelle ist die Gewohnheit, Erklärungen an den Rand zu schreiben. Solche Randnotizen sind so eingefügt, dass sie aussehen wie ein Teil des Textes. Spätere Abschreiber setzten sie wissentlich oder unwissentlich in die Textspalte hinein. Es sei hier betont, dass die neutestamentlichen Handschriften diese Art von Fehlern selten aufweisen, und die vielen Textzeugen halten uns auf der rechten Bahn.
Absichtliche Veränderungen
In den Handschriften gibt es viele unabsichtliche Änderungen, aber die allermeisten haben wenig Bedeutung. Ein ernstes Problem für die Textforscher sind jedoch die verschiedenen Wortänderungen, die absichtlich von den Schreibern eingefügt wurden. Es ist nicht anzunehmen, dass diese Einfügungen von unredlichen Schreibern gemacht wurden, die den Text fälschen wollten. Fast immer war die Absicht des Schreibers gut; er wollte nur berichtigen, was ihm als Irrtum in dem Text erschien. Dies war oft der Fall, wenn ein Abschreiber Teile der Evangelien kopierte. Wenn er in einem Evangelium einen Ausspruch fand, der einem Ausspruch in einem anderen Evangelium ähnlich war, so formulierte er eine Darlegung so, dass sie mit der anderen in völligem Einklang war. Dies scheint der Fall zu sein in Matthäus 11,19. Dort steht in der Lutherübersetzung: „Des Menschen Sohn ist gekommen, isst und trinkt, so sagen sie: Siehe, wie ist der Mensch ein Fresser und ein Weinsäufer, der Zöllner und Sünder Geselle! Und die Weisheit muss sich rechtfertigen lassen von ihren Kindern.“
Im Lukasevangelium finden wir genau die gleiche Aussage. Aber in den neueren Übersetzungen steht im Matthäusevangelium an dieser Stelle, in Übereinstimmung mit den ältesten Handschriften, das Wort „Werke“ anstatt „Kinder“. Es ist zu vermuten, dass zu einem früheren Zeitpunkt ein Abschreiber das Wort „Werke“ geändert hat, um den Vers dem Lukasevangelium anzugleichen. Es ist aufgrund der ältesten Handschriften ziemlich sicher, dass im Originalbericht die zwei Aussagen Jesu nicht gleich waren.
Grundsätzliche Regeln der Textforschung
Der erwähnten Textvariante („Kinder“ oder „Werke“) mag man auch in anderer Weise bei-kommen. Im Laufe der Jahrhunderte haben die Textforscher grundsätzliche Regeln oder Prinzipien entwickelt, die von grossem Wert sind bei der Entscheidung zwischen Verschieden-heiten in den Handschriften. Es sind keine starren Regeln, sondern allgemeine Prinzipien zur Hilfe in der Beurteilung der Texte.
Behalten wir das obige Problem im Sinn und stellen fest, was geschieht, wenn man einigen Grundprinzipien der Textforschung folgt. Eine grundsätzliche Regel besagt, dass der schwierigere Text zu bevorzugen ist. Ohne weitere Erklärung kann diese Regel irreführen. Es ist offensichtlich, dass einige Irrtümer, die durch Auslassungen oder Hinzufügungen entstanden sind, den Text sinnlos machen. Wenn das der Fall ist, scheint es unmöglich zu sein, der Regel zu folgen und den schwierigeren Text zu bevorzugen. Aber es hat sich in der Praxis erwiesen, dass die schwierigere Lesart in der Regel die bessere ist. Natürlicherweise versuchte der Schreiber die schwierigen Stellen bei seiner Abschrift zu vereinfachen. Wenn er eine Stelle las, die er nicht verstand, oder an ein Wort kam, das ihm unbekannt war, nahm er an, dass sein Text irgendwo verfälscht wurde. In diesem Falle änderte er die Schriftstelle ein wenig, in der Meinung, sie zu verbessern. Welche Lesart ist in Matthäus 11,19 zu bevorzugen, „Kinder“ oder „Werke“? Zweifellos die schwierigere Lesart „Werke“, wodurch ein Unterschied zwischen Matthäus und Lukas entsteht.
Die Beantwortung dieser Frage veranschaulicht eine andere wichtige Regel. Bei jedem Problem ist die Qualität der Textzeugen viel wichtiger als die Quantität. Tausende von Handschriften und Übersetzungen mögen eine bestimmte Lesart unterstützen, aber falls sie eines späten Datums sind und im Widerspruch zu den frühen Unzialen stehen, ist ihr Zeugnis abzulehnen. Was sagen die Handschriften und Übersetzungen im Falle von Matthäus 11,19, und wo können wir solche Informationen finden?
Wir wollen versuchen, diese Fragen kurz zu beantworten. Zu Matthäus 11,19 findet man in der Zürcher Übersetzung folgende Fussnote: Statt „aus ihren Werken“ haben viele alte Textzeugen „von ihren Kindern“ (wie Lukas 7,35). Diese Anmerkung ist für die meisten Leser ausreichend, aber wenn man genau herausfinden will, wie es nun in den alten Übersetzungen heisst, muss man eine jüngere Ausgabe von Nestles Neuem Testament in Griechisch zu Rate ziehen. Da findet man am Ende der Seite eine Reihe von Abkürzungen, welche die Textautoritäten für und wider das Wort „Werke“ in Matthäus 11,19 angeben.
In welchen Texten finden wir nun das Wort „Kinder“ und in welchen das Wort „Werke“? Der Codex Ephraemi und der Codex Bezae (beide aus dem 5. Jahrhundert), fast alle anderen späteren Handschriften, die alt-syrische und alle lateinischen Übersetzungen sind für das Wort „Kinder“. Gegen das Wort „Kinder“ und für das Wort „Werke“ sind der Codex Vaticanus, der Codex Sinaiticus (beide aus dem 4. Jahrhundert) und einige andere weniger bedeutende Zeugen. Das bedeutet, dass es Tausende von Handschriften und Übersetzungen gibt, in denen „Kinder“ steht, und nur wenige, in denen das Wort „Werke“ zu finden ist. Aber die Qualität der Zeugnisse ist wichtiger als ihre Zahl. Ohne Frage unterstützt die Qualität die Lesart „Werke“, wie man im Codex Vaticanus und im Codex Sinaiticus findet. Da diese zwei frühen Unziale miteinander übereinstimmen, haben alle neueren Übersetzungen „Werke“ statt „Kinder“. Wie in diesem Beispiel, so geschieht es sehr oft, dass der Codex Vaticanus und der Codex Sinaiticus als massgebend angesehen werden. Das veranschaulicht sehr gut, welch grosse Bedeutung diese zwei Unziale als Zeugen des neutestamentlichen Textes haben.
Noch eine andere wichtige Regel kommt hier zum Ausdruck. In parallelen Texten, wie wir sie in den Evangelien finden, werden meistens unterschiedliche Lesarten bevorzugt. Alle Evangelien sagen in Übereinstimmung, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Doch in ihrer individuellen Beschreibung der Person Jesu und in der Mitteilung seiner Aussprüche benutzen sie oft unterschiedliche Worte. Durch die Jahre wurden diese Unterschiede im Ausdruck absichtlich oder unabsichtlich durch die Abschreiber harmonisiert. Daher ist es eine wohlbegründete Folgerung, dass in parallelen Berichten im allgemeinen der Text der bessere ist, der selbst geringe Wortunterschiede erhalten hat. In dem Beispiel von Matthäus 11,19 zeigen die ältesten Handschriften einen Unterschied zwischen den zwei Berichten. Dies ist ein weiterer Grund zu der Annahme, dass „Werke“ die bessere Lesart ist.
Natürlich gibt es viele andere ähnliche Regeln der Textforschung, von denen einige weitaus mehr technischen Charakters sind. Die gezeigten Beispiele machen jedoch schon etwas von dem Sinn der Textforschung deutlich. Was einem Laien als ein Irrgarten verwirrender Angaben erscheinen mag, bedeutet dem Spezialisten ein Reichtum an Material, in dem der ursprüngliche Text bewahrt ist. In diesem Glauben und mit Hilfe genauer Regeln verrichtet der Textforscher seine Arbeit.
Zusammenfassung
Die neutestamentlichen Bücher sind durch Tausende von Kopien bis auf uns überliefert worden. Obwohl Gott die neutestamentlichen Schreiber inspirierte, hat er nicht die Hände der Abschreiber auf wundersame Weise geleitet. Die Textforschung versucht, unvermeidlichen Fehlern entgegenzuwirken und die wirkliche Form des Textes wiederherzustellen. Viele Fehler kamen unbeabsichtigt in den Text und sind nicht schwer zu entdecken. Andere Abänderungen, die nicht so leicht zu sehen sind, wurden absichtlich durch wohlmeinende Abschreiber gemacht. Selbst dann stehen dem Textforscher viele Hilfsmittel zur Verfügung, die ihn befähigen, das Problem zu lösen. In einem Falle wie Matthäus 11,19 ist das Wort „Werke“ vor dem Wort „Kinder“ zu bevorzugen, weil 1. die Qualität wichtiger als die Anzahl der Zeugnisse ist, 2. die schwierigere Lesart die bessere ist und 3. die unterschiedliche Lesart in parallelen Stellen meistens die zuverlässigere ist. Das sind nur einige Beispiele der vielen wohlbegründeten Regeln, auf denen die Textforschung beruht. Da sie eine gut fundierte Wissenschaft ist, haben wir einen sicheren Text, und unser Glaube bleibt unerschütterlich.
Arbeitsblatt 5: Zum Einprägen
Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen anhand der Lektion und senden Sie das ausgefüllte Arbeitsblatt an die Kontaktadresse:
1. Was ist die Aufgabe der Textforschung?
2. Nennen Sie einige Wege, auf denen unbeabsichtigte Fehler in die Handschriften gekommen sein mögen.
3. Nennen Sie Beispiele von absichtlichen Änderungen! Welche von den zwei Gruppen bietet die schwierigeren Probleme für die Textforscher?
4. Wiederholen Sie einige Grundregeln der Textforschung!
5. Wie ist es möglich, dass die Autorität einiger Handschriften schwerer wiegt als das Zeugnis vieler?
6. Was könnte das Resultat sein, wenn diese Regel nicht befolgt würde?
7. Fragen oder Anregungen?