Entstehung-07: Wiederherstellung des neutestamentlichen Textes

Die Bibel – Entstehung und Überlieferung

Neil R. Lightfoot

 

Die Handschriften und anderes Material dienten dazu, unseren neutestamentlichen Text durch die Jahrhunderte zu erhalten. Bei der Überlieferung des Textes entstanden Fehler. Unser Haupt­augenmerk gilt der Wirkung dieser Fehler auf unseren Text. Wie die vorige Lektion zeigt, haben die Varianten in den Handschriften praktisch keinen Einfluss auf unseren heutigen Text. In dieser Lektion wollen wir noch mehr darüber erfahren, wie wir zu unserem heutigen Text gekommen sind und welchen Einfluss die jüngsten Entdeckungen darauf haben.

Unser moderner griechischer Text kann als rekonstruiert oder wiederhergestellt bezeichnet werden. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, ein griechisches Testament herauszugeben: entweder wählen wir eine Handschrift aus und benutzen sie als Standardtext, oder wir ziehen mehrere Handschriften und Autoritäten zu Rate und rekonstruieren durch Vergleichen einen Text, von dem wir glauben, dass er dem Originaltext gleichkommt. Wenn wir das erste Verfahren wählen, verfallen wir Irrtümern, denn keine Handschrift ist frei von Fehlern, die beim Abschreiben entstanden. Wählen wir das letzte Verfahren, so können wir sicher sein, dem Originaltext viel näher zu kommen. Deshalb wurde immer der zweite Weg befolgt. Das bedeutet, dass unser moderner Text eine mit Hilfe der Textforschung wiederhergestellte Ausgabe des Neuen Testamentes ist.

Autoritäten für die Wiederherstellung des Textes

Nehmen wir einmal an, wir hätten keine moderne Ausgabe des neutestamentlichen Textes. Welche Quellen sollen wir bei der Wiederherstellung des ursprünglichen Textes benutzen? Die Antwort soll kurz gegeben werden und wird teilweise eine Wiederholung der letzten vier Lektionen sein.

Handschriften
Die Hauptinformationsquellen für die Wiederherstellung des Textes sind Hand­schriften in der Originalsprache, im Falle des Neuen Testamentes Griechisch. Aber nicht alle Handschriften haben den gleichen Wert. Beim Studium dieser Dokumente zeigt es sich, dass einige in ihrer Lesart gewöhnlich übereinstimmen. Sie haben offensichtlich einen gemeinsamen Vorfahren und werden eine „Familie“ genannt. Wenn verschiedene bedeutende Familien in einem gegebenen Text übereinstimmen, ist eine textliche Sicherheit erreicht.

Übersetzung
Die Bibel wurde von den ersten Christen in viele Sprachen übersetzt. Die Über­setzungen, vor allem die ganz frühen, bieten viele hilfreiche Informationen.

Die Apostolischen Väter
Die ersten Christen schrieben viel über ihren Glauben und zitierten dabei immer wieder aus ihren heiligen Schriften. Viele ihrer Zitate enthalten den genauen Wort­laut des biblischen Textes. Diese Zitate geben uns nicht nur viele Worte der Heiligen Schrift wieder, sondern zeigen uns auch, welche Art des Textes im 2. und 3. Jahrhundert existierte.

Die Handschriften, Übersetzungen und Zitate der Apostolischen Väter sind die Werkzeuge, die wir zur Wiederherstellung des ursprünglichen Textes haben. Wenn diese Werkzeuge mit Ver­ständnis gebraucht werden, ist es möglich, den Urtext zu rekonstruieren.

Der Westcott-Hort-Text

Im Jahre 1881 veröffentlichten zwei Gelehrte der Cambridge Universität in England, B. F. Westcott und F. J. A. Hort, eine vollständig revidierte Ausgabe des Neuen Testamentes. Diese Veröffentlichung bestand aus zwei Bänden; einer enthielt den Text und der andere mannigfaltige Notizen über ausgewählte Lesarten zusammen mit einer umfangreichen Erklärung der Prinzipien, die ihrer Arbeit zugrunde lagen.

Die Bedeutung dieses neuen Textes kann nicht stark genug hervorgehoben werden. Dreissig Jahre genauester Arbeit haben diese beiden Gelehrten ihrem Werk gewidmet, das nicht so sehr wegen der neuen Ideen, sondern vielmehr wegen der Gründlichkeit ihrer Arbeit und des unantastbaren Charakters ihrer zugrunde liegenden Prinzipien bahnbrechend war. Kein Beweis­stück blieb unbeachtet; es gab keine Autorität, die nicht ins Blickfeld gerückt wurde. Der Westcot-Hort-Text basiert im wesentlichen auf den Codices Vaticanus und Sinaiticus, vor allem aber auf dem Codex Vaticanus. Darüber hinaus fanden alle anderen Autoritäten Beachtung. Die Zeit hat bestätigt, dass Westcott und Hort einen unermesslichen Beitrag zur Wiederherstellung des ursprünglichen Textes lieferten.

Im Jahre 1898 veröffentlichte der Deutsche D. Eberhard Nestle eine griechische Ausgabe des Neuen Testamentes. Die Absicht des Herausgebers war es, anstelle des auf Erasmus von Rotterdam zurückgehenden Textes, das Ergebnis der wissenschaftlichen Textforschung des 19. Jahrhunderts darzubieten. Er legte daher seiner Ausgabe die wissenschaftlichen Arbeiten von Tischendorf, Westcott und Hort zugrunde.

Die Wirkung der jüngsten Entdeckungen

Die Arbeit von Westcott und Hort wurde schon im Jahre 1881 vollendet. Auf welchem Stand befindet sich aber der neutestamentliche Text heute? Welchen Einfluss hat das in jüngster Zeit entdeckte Material auf unseren wiederhergestellten Text? Stehen diese Entdeckungen dem Werke von Westcott und Hort entgegen, oder sind sie eine Bestätigung ihrer Arbeit?

Die erstaunlichen Funde der letzten 50 oder mehr Jahre bilden eines der interessantesten Glieder in der Kette der Geschichte der Bibel. Die Welt steht nicht still. Während man diese Tatsache in den materiellen Fortschritten sehr wohl erkennt, ist man sich doch im allgemeinen nicht bewusst, dass auch in Bezug auf biblische Erkenntnisse grosse Dinge geschehen. Einige dieser wichtigen Entdeckungen wollen wir hier nennen.

Codex Syrus Sinaiticus
Dieser Palimpsest aus dem 4. und 5. Jahrhundert (Lektion 4) wurde von den englischen Zwillingsschwestern Lewis und Gibson im Jahre 1892 entdeckt. Er ist die älteste und beste Autorität der alt-syrischen Übersetzung. Es ist interessant, dass dieser Palimpsest die Verse 9-20 im Markus 16 nicht enthält.

Der Washington Codex
Ein Amerikaner aus Detroit, Charles F. Freer, erwarb im Jahre 1906 eine Gruppe biblischer Handschriften. Das bedeutendste Dokument davon ist eine Abschrift der vier Evangelien aus dem 5. Jahrhundert. Eine seiner Besonderheiten betrifft den Schluss des Markusevangeliums; es enthält die fraglichen Verse, aber nach dem 14. Vers erscheint hier eine Einschiebung von einigen Zeilen, die in anderen Handschriften unbekannt ist. Trotzdem haben wir darin einen wertvollen Zeugen der Evangelien, eine der wenigen alten Handschriften, die sich in den USA (heute Washington) befinden.

Die Koridethi-Evangelien
Diese Handschrift wurde 1913 bekannt. Obwohl sie erst aus dem 9. Jahrhundert stammt, hat ihr die jüngere Forschung einige Beachtung geschenkt wegen ihrer ausgiebigen Informationen über einen Texttyp, dessen Hauptvertreter sie ist. Ihre Entdeckung ist eine der bedeutendsten Entwicklungen für die Textforschung in jüngerer Zeit.

Der Chester Beatty Papyrus
Am 17. November 1931 setzte der Direktor des Britischen Museums, Sir Frederic Kenyon, eine Bekanntmachung in die Zeitung über die erstaunlichsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Ein bekannter Handschriftensammler, Mr. A. Chester Beatty, hatte eine Gruppe von Papyri erworben, die aus einem ägyptischen Grab stammten. Drei von diesen Handschriften sind frühe neutestamentliche Dokumente.

Die erste dieser drei Handschriften enthält Teile von 30 Seiten der Evangelien und der Apostel­geschichte, nämlich zwei Seiten aus dem Matthäusevangelium, sechs aus dem Markusevange­lium, sieben vom Lukasevangelium, zwei Seiten des Johannesevangeliums und dreizehn aus der Apostelgeschichte. Obwohl es bis zu einem gewissen Grad Fragmente sind, ist der Kodex doch von unschätzbarem Wert, da er aus dem 3. oder gar einem früheren Jahrhundert stammt.

Die zweite Handschrift der Gruppe ist eine bemerkenswerte Sammlung paulinischer Briefe. Sie ist mehr ein Fragment, denn sie enthält 86 Blätter einer Handschrift, die ursprünglich aus 104 Blättern bestand. Die Reihenfolge der vorhandenen Briefe ist folgende: Römer, Hebräer, 1. und 2. Korinther, Epheser, Galater, Philipper, Kolosser, 1. und 2. Thessalonicher. Da der Kodex die meisten paulinischen Briefe enthält und aus dem 3. oder vielleicht aus einem noch früheren Jahrhundert stammt, liegt die Bedeutung einer solchen Entdeckung auf der Hand.

Die dritte der neutestamentlichen Handschriften besteht aus zehn Blättern und enthält den mittleren Teil der Offenbarung. Sie stammt etwa aus dem 3. Jahrhundert.

Das John Ryland Fragment
Dieses Fragment ist nur etwa 9 x 6,5 cm gross und würde kaum verdienen, genannt zu werden, wenn es nicht die älteste Handschrift des Neuen Testamentes überhaupt wäre. Sie enthält einige Verse aus dem Johannesevangelium (Johannes 18,31-33 und 37-38) und befindet sich heute in der John-Ryland-Bibliothek in Manchester, England. Es konnte mit Sicherheit festgestellt werden, dass die aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts stammt, etwa 125 n. Chr. Wie sehr wir uns auch wünschen, wir hätten mehr von dieser Hand­schrift als nur ein Fragment, so gibt sie uns doch den unleugbaren Beweis der Verbreitung des Johannesevangeliums in Ägypten (wo das Fragment gefunden wurde), nur wenige Jahre nachdem das Evangelium geschrieben worden war. Sie widerlegt vor allem auch die liberale Ansicht, das Johannesevangelium sei nicht vor der Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden. Es ist auch wichtig zu bemerken, dass diese Verse aus dem 2. Jahrhundert genau unserem 1800 Jahre jüngeren Text gleichen.

Papyrus Bodmer II.
Im Jahre 1956 veröffentlichte Victor Martin aus Genf einen Papyruskodex des Johannesevangeliums aus der Zeit um 200 n. Chr., und zwar die Kapitel 1-14,26 (Lücke Kapitel 6,11-35). Zwei Jahre später wurden auch die noch vorhandenen Teile der übrigen Kapitel veröffentlicht.

Dies sind nur einige Beispiele neuerer Entdeckungen über das Neue Testament. Die Frage ist nun, welchen Einfluss diese ausserordentliche Entwicklung für unseren heutigen neutestament­lichen Text hat.

Die Entdeckungen, die seit Westcott und Hort gemacht wurden, haben zwar mancherlei neue Einzelheiten offenbart, aber im grossen und ganzen bestätigen sie den Westcott-Hort-Text. Ein gutes Beispiel ist der letztgenannte Papyruskodex, der vielleicht aus dem 2. Jahrhundert stammt. Dieser Text ist genauso bemerkenswert wie die zwei grossen Unziale Codex Vaticanus und Codex Sinaiticus. Er hat nicht die eigenartige Lesart des Codex Bezae oder anderer, späterer Handschriften. In Übereinstimmung mit der Thimme-Übersetzung fehlt der Vers 4 in Johannes 5 über den Engel, der das Wasser im Teich Bethesda bewegte (Elberfelder, Zürcher und andere Übersetzungen haben entsprechende Einklammerung und Fussnote). Die Geschichte der Ehebrecherin (Johannes 7,53 - 8,11) befindet sich ebenfalls nicht in diesem frühen Papyrus. Entdeckungen dieser Art machen uns sicherer als je zuvor in Bezug auf die Verlässlichkeit unseres modernen Textes. Da in der Vergangenheit der Westcott-Hort-Text immer wieder bestätigt wurde, ist nicht anzunehmen, dass künftige Entdeckungen grosse Änderungen des neutestamentlichen Textes bringen werden.

Wir kommen damit zu dem Schluss, dass der Text des Neuen Testamentes auf einer festen Grundlage steht. Der grösste Teil des Neuen Testamentes wurde nie in Frage gestellt. Westcott und Hort haben von Anfang ihres Werkes an mit äusserster Sorgfalt gearbeitet, um mit grösstmöglicher Sicherheit die Zuverlässigkeit unseres Textes darzustellen. Sie sagen: „Ungefähr sieben Achtel des ganzen Textes sind über jeden Zweifel erhaben. Nur das restliche Achtel, das zu einem grossen Teil aus unterschiedlichen Wortstellungen und anderen, unbedeutenden Änderungen besteht, beschäftigt die Textforscher überhaupt.“ Sie schliessen mit den Worten:

„Die Zahl der Abweichungen, die als bedeutend angesehen werden können, ist nur ein kleiner Teil der restlichen Varianten und kann kaum mehr als ein Tausendstel des ganzen Textes ausmachen. Da anscheinend den Varianten eine übermässige Bedeutung beigemessen wird, die den Eindruck eines ungewissen oder gar verdorbenen Textes erwecken kann, möchten wir demgegenüber klar zu verstehen geben, dass der grösste Teil des Neuen Testamentes nie fraglich erschien und die Textkritiker nicht beschäftigen kann.“

Wir möchten hinzufügen: Obwohl einige bedeutende Varianten bestehen, stimmen die grundsätzlichen Lehren und Gebote der Heiligen Schrift in allen Handschriften und Übersetzungen überein.

Sir Frederic Kenyon, der 21 Jahre Direktor des Britischen Museums war, gab oft seiner Übersetzung über die Qualität des neutestamentlichen Textes Ausdruck. Er schrieb einmal: „Der Christ kann die ganze Bibel nehmen und ohne Furcht und Zweifel sagen, dass er das wahre Wort Gottes in der Hand hält, das ohne wesentliche Verluste von Generation zu Generation durch die Jahrhunderte auf uns gekommen ist.“

Zusammenfassung

Unser heutiger neutestamentlicher Text ist ein rekonstruierter oder wiederhergestellter Text. Er wurde von modernen Gelehrten nach drei voneinander unabhängigen Beweislinien rekonstruiert: den Handschriften, Übersetzungen und Zitaten aus den Schriften der Apostolischen Väter. Die Veröffentlichung des revidierten griechischen Textes im Jahre 1881 war ein epochemachender Schritt in der Textforschung. Dieser wiederhergestellte Text wurde von den Engländern Westcott und Hort herausgegeben. Das in Deutschland benutzte griechische Neue Testament von Nestle basiert auf dem Westcott-Hort-Text und der Arbeit von Tischendorf. In jüngster Zeit wurden viele bedeutende Entdeckungen bezüglich des neutestamentlichen Textes gemacht. Die bedeutends­ten davon sind die Papyri, von denen einige zwei Jahrhunderte älter sind als die berühmten Codices Vaticanus und Sinaiticus. Alle diese Entdeckungen bestätigen den Text von Westcott und Hort.

 

Arbeitsblatt 7: Zum Einprägen

 

Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen anhand der Lektion und senden Sie das ausgefüllte Arbeitsblatt an die Kontaktadresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

 

1. Welche drei Hauptquellen sind uns zugänglich bei der Wiederherstellung des Originaltextes des Neuen Testamentes?


2. Nennen Sie die zwei Textgelehrten, die eine vollkommene, revidierte Ausgabe des griechischen Textes veröffentlichten.


3. Nennen Sie einige der wichtigsten Entdeckungen in jüngerer Zeit, die zusätzliches Licht auf den neutestamentlichen Text werfen.


4. Erklären Sie kurz den Chester Beatty Papyri.


5. Welches ist das älteste bekannte Fragment des neutestamentlichen Textes?


6. Erklären Sie die Bedeutung dieses Fragments in Bezug auf Text und Datierung des Johannesevangeliums.


7. Fragen oder Anregungen?