Entstehung-09: Der Kanon der Schrift

Die Bibel – Entstehung und Überlieferung

Neil R. Lightfoot

 

Den grössten Raum haben wir in unserer bisherigen Betrachtung der Überlieferung des Bibel­textes gewidmet - wie und unter welchen Umständen der Text auf uns gekommen ist und wieso wir sicher sein können, den genauen Wortlaut des Textes zu haben.

Nun wollen wir uns einer anderen Phase der Geschichte der Bibel zuwenden: der Sammlung der Bücher, welche „Die Schrift“ ausmachen. Zur Zeit des Alten und Neuen Testamentes wurden viele religiöse Bücher geschrieben. Welche von diesen Büchern gehören in die Bibel, und welche sollten davon ausgeschlossen sein? Aus welchem Grunde werden manche Schriften als „Die Schrift“ akzeptiert und andere abgelehnt? Die Antwort zu diesen Fragen finden wir, wenn wir den Kanon der Schrift studieren.

Das Wort „Kanon“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie Rohr, ebenso wie das hebräische Wort „qaneh“. Da ein Rohr manchmal als Messstab gebraucht wurde, bedeutet in unserem Falle das Wort „Kanon“ Standard oder Regel. Es wurde auch gebraucht in Bezug auf eine Liste oder einen Index; in dieser Weise auf die Bibel bezogen, bezeichnet es die Liste der Bücher, die als Heilige Schrift betrachtet werden. Wenn also von kanonischen Schriften die Rede ist, sind solche Bücher gemeint, die göttliche Autorität besitzen und die unsere Bibel ausmachen.

Es besteht ein Unterschied zwischen der Kanonität und der Autorität eines Buches. Die Kanonität hängt von der Autorität ab. Wenn Paulus z. B. an die Korinther in 1. Korinther 14,37 schreibt, dass das, was er zu sagen hat, des Herrn Gebot ist, so hatte dieser Brief vom ersten Augenblick an Autorität, gehörte aber nicht zu den kanonischen Schriften, bis er zu einem späteren Zeitpunkt als kanonisch anerkannt wurde aufgrund seiner Autorität. Ein Buch hat zuerst göttliche Autorität, die sich auf die göttliche Inspiration stützt, und erlangt dann Kanonität, wenn es allgemein als göttliche Offenbarung anerkannt wird. Kein Kirchenkonzil kann die Bibel zu einer Autorität machen, denn die Bücher der Bibel besassen Autorität, lange bevor es Kirchenkonzile gab. Die Lehren der römisch-katholischen Kirche ignorieren diesen wichtigen Punkt.

Der Kanon des Alten Testamentes

Das Neue Testament beweist, dass zur Zeit Jesu der Kanon des Alten Testamentes bereits bestand. Es kann nicht in Frage gestellt werden, dass Jesus und die Apostel immer wieder Zitate brachten aus einer Sammlung von Schriften, die sie „Die Schrift“ nannten. Es gab also bereits kanonische und nicht-kanonische Schriften.

Nach den Aussagen Jesu setzten sich die kanonischen Schriften zusammen aus dem Gesetz Moses, den Propheten und den Psalmen (Lukas 24,44). Diese Dreiteilung ist zweifellos gleich­bedeutend mit der Einteilung der hebräischen Bibel in Gesetz, Propheten und Schriften (siehe Lektion 2). Der Herr Jesus machte auch Angaben in Bezug auf die Bücher, die im alttestament­lichen Kanon enthalten sind. Er sagte einmal: „... von Abels Blut an bis hin zum Blut des Secharja, der umkam zwischen dem Altar und Tempel ...“ (Lukas 11,51) und meint damit alle Märtyrer zur Zeit des Alten Testamentes. Der erste Märtyrer war, wie wir alle wissen, Abel, und der letzte war Zacharias, von dem in 2. Chronik 24,20-21 berichtet wird. Bedenken wir, dass die jüdische Ordnung der alttestamentlichen Bücher unterschiedlich von unserer heutigen ist und dass die Chronik am Ende der hebräischen Bibel erscheint. Das Alte Testament, wie es zur Zeit Jesu bekannt war, war also eine Sammlung von Schriften, die von 1. Mose bis zu der Chronik reichte und dabei alle Bücher umfasste, die wir auch heute im Alten Testament haben. Wenn zum Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. jüdische Führer in Jamnia (nahe der Küste Palästinas) diese Bücher erneut als autoritative Schriften bezeichneten, so bestätigen sie etwas, was schon als Kanon des Alten Testamentes anerkannt worden war. Zusätzliche Beweise haben wir von Josephus, dem bekannten jüdischen Geschichtsschreiber des ersten Jahrhunderts, und von anderen frühen Schreibern wie Origenes und Hieronymus. Josephus nennt die genaue Zahl von Büchern, die als Heilige Schrift bei den Juden anerkannt war. „Wir haben nicht 10’000 Bücher, die einander widersprechen, sondern nur 22 Bücher, welche die Aufzeichnungen aller Zeiten enthalten und als göttlich anerkannt werden.“ (Josephus, Gegen Apion I, 8.) Erinnern wir uns, dass die Juden ihre Bücher unterschiedlich einteilten. Die 12 kleinen Propheten wurden als ein Buch gezählt, wie auch die Bücher Richter und Ruth, 1. und 2. Samuel, 1. und 2. Könige, 1. und 2. Chronik, Esra und Nehemia und Jeremia und die Klagelieder des Jeremia. Die 22 von Josephus genannten Bücher sind die gleichen wie unsere 39 Bücher.

Im dritten Jahrhundert n. Chr. bestätigte Origenes das Zeugnis des Josephus bezüglich der 22 Bücher des Alten Testamentes. Er gab ihre hebräischen und griechischen Titel an und führt sie in folgender Reihenfolge auf: 1 bis 5 - die Bücher Moses, 6 - Josua, 7 - Richter und Ruth, 8 - 1. und 2. Samuel, 9 - 1. und 2. Könige, 10 - Chronik, 11 - Esra und Nehemia, 12 - Psalmen, 13 - Sprüche, 14 - Prediger, 15 - Lied des Salomo, 16 - Jesaja, 17 - Jeremia und Klagelieder, 18 - Daniel, 19 - Hesekiel, 20 - Hiob und 22 - Esther. Origenes lässt in seiner Liste das Buch der 12 kleinen Propheten aus, aber dies ist offensichtlich eine versehentliche Auslassung, denn er gibt ja selbst die Zahl der Bücher mit 22 an. Etwas später bezeichnen andere Schreiber, unter ihnen der gelehrte Hieronymus, diese Bücher als die kanonischen Schriften des Alten Testamentes.

Der Kanon des Neuen Testamentes

Um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. teilte der Schreiber Justinus der Märtyrer mit, dass an Sonntagen, wenn die Christen zu ihrem Gottesdienst zusammenkamen, die „Berichte der Apostel“ zusammen mit den „Schriften der Propheten“ gelesen wurden (Justinus der Märtyrer, Erste Apologetik, Kapitel 67). Es ist also sicher, dass nicht lange nach der apostolischen Zeit die neutestamentlichen Schriften allgemein in den Gemeinden gelesen wurden. Was bedeutet das? Wie war es möglich, dass innerhalb so kurzer Zeit die Schriften der Apostel zusammen mit den alttestamentlichen Propheten in den öffentlichen Versammlungen gelesen wurden?

Als Christus seine Gemeinde gründete, bestand noch kein Neues Testament. Die Bibel der ersten Christen war das Alte Testament, und die neuen Lehren waren gegründet auf die Autorität Christi und wurden durch die Apostel persönlich vermittelt. Bald jedoch fingen die inspirierten Männer an, die göttlichen Anweisungen, die sowohl an Gemeinden als auch an Einzelpersonen gerichtet waren, aufzuschreiben bzw. aufschreiben zu lassen. Selbstverständlich waren diese Anweisungen für die Christen massgebend, denn sie konnten ja nicht ihren Herrn Christus ehrfürchtig lieben, ohne seine Worte zu befolgen. So wurden die Briefe des Paulus sorgfältig gesammelt und zusammengefasst; als nächstes kamen die vier Evangelien, und dann folgten alle anderen Aufzeichnungen. Da diese Sammlungen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten stattfanden, enthielten sie nicht immer die gleichen Briefe. So können wir verstehen, dass nicht alle Bücher des Neuen Testamentes von Anfang an anerkannt wurden. In anderen Fällen war die Unbestimmtheit des Autors (wie im Hebräerbrief) ein Hindernis zur allgemeinen Anerkennung. Dies war allerdings eine Ausnahme, und allmählich wurden alle Bücher aufgrund ihrer Beschaffenheit zum Kanon der neutestamentlichen Schriften gerechnet und das, wie wir Christen glauben, nicht ohne die göttliche Vorsehung.

Wenn schon um die Mitte des zweiten Jahrhunderts die Briefe der Apostel überall in den öffentlichen Versammlungen gelesen wurden, so sind auch spätestens in der letzten Hälfte des zweiten Jahrhunderts zuverlässige Listen der neutestamentlichen Bücher erschienen. Ein Beispiel einer solchen Liste aus jener Zeit ist als Muratorisches Fragment bekannt. Ihren Namen erhielt diese Liste von L. A. Muratori, der sie entdeckte und im 18. Jahrhundert veröffentlichte. Ein Teil dieser alten Liste der neutestamentlichen Bücher ist verlorengegangen. Das Evangelium des Lukas ist das erste, das mit Namen genannt wird, aber es wird als das dritte Evangelium bezeichnet und zeigt damit an, dass Matthäus und Markus am Anfang der Liste standen; dann folgen Johannes, die Apostelgeschichte, 13 Briefe des Paulus und andere. Die einzigen Bücher, die diese Liste nicht enthält, sind der Hebräerbrief, der Jakobusbrief, die zwei Petrusbriefe und der 1. Johannesbrief. Wäre es nicht eine verstümmelte Abschrift, würde sie sicher vollständigere Angaben enthalten. Anders kann man diese Auslassungen nicht erklären, vor allem in bezug auf den 1. Petrusbrief und den 1. Johannesbrief.

Im dritten Jahrhundert zählt Origenes alle neutestamentlichen Bücher auf, macht aber klar, dass Hebräer, Jakobus, 2. und 3. Johannes und Judas von einigen Leuten in Frage gestellt wurden (Eusebius, Kirchengeschichte VI, 25). Auch Eusebius nennt im 4. Jahrhundert alle Bücher des Neuen Testamentes (Eusebius, Kirchengeschichte III, 25). Er sagt jedoch, dass einige Bücher (Jakobus, 2. Petrus, 2. und 3. Johannes und Judas) angezweifelt, aber von den meisten aner­kannt würden. 367 n. Chr. veröffentlichte Athanasius von Alexandrien eine Liste von 27 Büchern, die in seiner Zeit anerkannt waren; dies sind dieselben 27 Bücher, die wir heute haben. Die Bibel ist in ihren einzelnen Teilen entsprechend der göttlichen Offenbarung nach und nach entstanden, ebenso gewannen die einzelnen Bücher nach und nach die Rolle, die ihrer Autorität entspricht.

Es heisst manchmal, dass die Trennungslinie zwischen den neutestamentlichen Büchern und anderen christlichen Schriften nicht immer klar war, dass die ersten Gemeinden da kaum einen Unterschied machten. Es gibt aber kaum Beweise, die diese Meinung unterstützten. Es kursierten tatsächlich eine Reihe von guten Büchern von nicht inspirierten Männern unter den ersten Christen. Besonders wichtig waren da der Brief des Barnabas und der „Hirte“ des Hermas. Der Barnabasbrief wurde am Ende des apostolischen Zeitalters geschrieben, aber nicht von dem Barnabas, der im Neuen Testament erwähnt wird. Der Hermasbrief ist eine Allegorie und wurde in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts von einem Glied der Gemeinde in Rom namens Hermas geschrieben. Diese Bücher wurden jedoch immer beargwöhnt und erlangten nie die gleiche Anerkennung wie die apostolischen Schriften. Im Falle des „Hirten“ von Hermas z. B. stellt das obengenannte Muratorische Fragment fest, dass er zwar in den öffentlichen Ver­sammlungen der Christen gelesen werden könne, aber nicht als prophetische oder apostolische Schrift zu werten sei.

Die Einschränkung in Bezug auf den „Hirten“ des Hermas zeugt von dem bedeutsamen Prinzip, dass einige Bücher zur Erbauung in öffentlichen Gottesdiensten gelesen werden konnten, aber nicht als göttliche Autorität geachtet wurden. In diese Kategorie fallen eben der „Hirte“ des Hermas und der Brief des Barnabas. Diese und einige andere finden sich manchmal in alten Handschriften, aber nach dem Muratorischen Fragment ist es falsch, anzunehmen, dass jedes Buch, das in den Gemeinden gelesen wurde, notwendigerweise apostolischen Rang hatte. Auch heute wird in den Gottesdiensten der Christen manchmal zur Unterweisung oder Erbauung eine Schrift gelesen, die nicht aus der Bibel stammt. Das war genauso zur Zeit der ersten Christen, und auch damals unterschied man nicht weniger genau zwischen inspirierten und nichtin­spirierten Schriften.

Zusammenfassung

Das Wort Kanon, wie es in diesem Zusammenhang benutzt wird, bezieht sich auf die Liste der Bücher, die als göttlich inspiriert anerkannt und in der Bibel enthalten sind. Die Entstehung des Kanons war ein allmählicher Prozess, genauso wie die Bücher selbst nach und nach entstanden. Es ist sicher, dass zur Zeit unseres Herrn der Kanon des Alten Testamentes genau feststand. Exakte Angaben über die alttestamentlichen Bücher finden wir im Neuen Testament sowie in anderen christlichen und nichtchristlichen Quellen. Die neutestamentlichen Bücher wurden sehr bald nach ihrer Entstehung regelmässig in den Versammlungen der Christen gelesen. Sie wurden sehr hoch eingeschätzt - die Worte Jesu und seiner Apostel konnten nicht weniger massgebend sein, als die Schriften des Alten Testamentes. Auf diese Weise entstand allmählich der neutestamentliche Kanon, so dass innerhalb eines oder zweier Jahrhunderte die neutestamentlichen Bücher, wie wir sie heute kennen, gesammelt waren und allerhöchste Autorität für die ersten Gemeinden darstellten.

Abschliessend soll betont werden, dass kein Konzil den Kanon der Schriften bestimmen konnte. Die Bibel verdankt ihre Autorität keinem Menschen und keiner religiösen Gruppe. Keine Kirche, auch nicht die römisch-katholische, gab durch ihre Verordnungen oder Entscheidungen der Bibel Unfehlbarkeit. Wenngleich diese Kirche später den neutestamentlichen Büchern göttliche Autorität zubilligte, so stammt diese Autorität doch nicht von ihr, sondern wohnt den Schriften selbst inne.

 

Arbeitsblatt 9: Zum Einprägen

 

Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen anhand der Lektion und senden Sie das ausgefüllte Arbeitsblatt an die Kontaktadresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

 

1. Was ist mit dem Kanon der Schriften gemeint?


2. Unterscheiden Sie zwischen der Kanonität eines Buches und seiner Autorität. Hängt die Kanonität von der Autorität ab, oder ist das Verhältnis umgekehrt?


3. Gibt es im Neuen Testament Angaben über den alttestamentlichen Kanon? Welcher Ausspruch Jesu zeigt, welche Bücher zu seiner Zeit im Alten Testament enthalten waren? War das Alte Testament zur Zeit Jesu unterschiedlich von dem heutigen?

4. Nennen Sie andere Beweise des alttestamentlichen Kanons. Wie kommt es, dass die 22 Bücher der Juden dieselben sind wie unsere 39?


5. Beschreiben Sie, wie es zur Sammlung der neutestamentlichen Schriften kam.


6. Nennen Sie einige alte Listen der neutestamentlichen Bücher. Ist es natürlich, dass Unterschiede in den Listen bestanden? Warum?


7. Erklären Sie, weshalb ein Konzil bestimmte Bücher nicht unfehlbar machen kann.