Klagelieder-1: Die Stadt und ihr trostloser Zustand

Klage über die verwüstete Stadt
Jerusalem

Kapitel 1

 

 I.   Die Stadt und ihr trostloser Zustand (Verse 1-22)

Grober Überblick

- Jeremias Worte (V. 1-11a).

- Worte der Stadtbewohner (V. 11b-16).

- Jeremia spricht (V. 17).

- Die Stadt spricht für sich selbst (als wäre sie eine Frau, V. 18-22).

Die Witwe und Fürstin in Fronarbeit (V. 1).

Im masoretischen Text wird das erste Wort im Buch zum Titel. Das Hebräische „echa“ bedeutet „ach“ (und steht in Kap. 1,1; 2,1; 4,1). Im Hebräischen bedeutet Klagelieder „Qinot“ (2 Chr 35,25). In der Septuaginta (LXX), der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, ist der Name des Buches „threnoi“. Es beginnt mit demselben Schmerzensausruf wie in der hebräischen Totenklage. Wie beim Schmerz um den Verlust eines lieben Menschen. In diesem Fall ist der Tote weiblichen Geschlechts.

Jeremia trauert um die gefallene Stadt Jerusalem (586 v. Chr.). Sie liegt einsam und verlassen da. Viele Bewohner wurden umgebracht (4,9). Andere wurden in die Verbannung nach Babylon geführt (2 Kön 25,11). Wieder andere verhungerten (4,9). Nur die Ärmsten wurden zurückgelassen (2 Kön 25,23). Sie wird als kinderlos bezeichnet. Kein anderes Bild kann grössere Schande darstellen. Im AT galt es für eine Frau als Schande kinderlos zu sein (Dtn 7,13-14). Dazu kommt noch das Bild der Witwe (Ex 22,21-22). Eine Witwe lebte oft einsam in ihrer Trauer über den Verlust ihres geliebten und vertrauten Ehegatten (Jak 1,27). Meistens war sie auch schon in die Jahre gekommen, die oft von Krankheiten und Schmerzen geplagt sind. Dazu kamen die finanziellen Nöte, da es keine Altersrente gab. Um zu überleben, war sie auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen. Doch hier handelt es sich um eine kinderlose Witwe. Sie ist eine Fürstin, die zur Fronarbeit verdammt wird. Das heisst, sie lebt nicht mehr in Freiheit, sondern ist versklavt. Sie ist keine Fürstin mehr, die über andere Provinzen herrscht. Sie ist von anderen abhängig geworden, die über sie herrschen.

Ein krasses Bild, das den Zustand der einst so herrlichen Stadt Jerusalem beschreibt. Nun ist sie ein Trümmerhaufen und zur geisterhaften Ruinenstadt geworden. Jeremia sagte dies alles voraus (Jer 9,10-11; 13,19-22).

Der gegenwärtige Zustand (V. 2-4).

Der Glanz der Stadt ist zerfallen. Sie weint die ganze Nacht (Jes 3,26). Die Tränen kugeln ihr unaufhörlich über das Gesicht (Jer 8,23).

Der Ehemann, den die weinende Witwe verlor war Gott, der Herr. Er war der grosszügige Ernährer und der starke Beschützer. Die Witwe wies seine Liebe zurück, statt sie zu erwidern (Jer 2,20-22; 3,1; Ez 16,23-32). Das Ausmass des grossen Verlustes wird ihr jetzt bewusst, doch jetzt ist es zu spät.

Es ist typisch für weltliche Freundschaften. In Zeiten der Not ist keiner da, der hilft (Koh 4,1). Als sie sich unter David und Salomo mitten im Wohlstand befand, da waren sie alle da, die angeblichen Freunde, um auch etwas abzukriegen von ihrem Segen. Doch nun haben sich sogar die Freunde auf die Seite der Feinde gestellt.

Es war unmöglich für die Bewohner zu fliehen (Jer 52,7). Es war unmöglich die Familien zusammen zu halten. Sie wurden überrascht und konnten sich nicht wehren. Selbst der König samt seinen Söhnen und Dienern wurden auf der Flucht eingeholt und gefangen nach Babel weggeführt (Jer 52,8-11). Juda wurde in die Verbannung geführt, in das Land der Fremden. Dort findet sie keine Ruhe (Dtn 28,65), keine Befriedigung, auch keine Wohnstätte, wo sie sich bleibend niederlassen könnte. Sie wird von einem Ort zum anderen gebracht, ganz nach dem Willen des siegreichen Befehlshabers.

Der Tempel war der kulturelle und religiöse Mittelpunkt des Landes. Doch jetzt kommt niemand mehr zu einem der alljährlichen Wallfahrtsfeste, zu denen Zehntausende von Pilgern nach Jerusalem reisten, zum Beispiel: das Passafest (Dtn 16,1-8), das Wochenfest (Dtn 16,9-12), das Laubhüttenfest (Dtn 16,13-17), der Versöhnungstag (Lev 16), das Erntedankfest (Num 28,26-31) usw. Deshalb sind ihre Wege verödet wie schon der Prophet Jesaja angekündigt hatte (Jes 33,8). Seit fast zwanzig Jahren steht Juda und Jerusalem unter der Herrschaft Babylons. Doch nun ist die Stadt samt ihren Toren zerstört. Es ist unmöglich geworden, dort geschützt vor Feinden zu wohnen. Nehemia fand 140 Jahre später immer noch Tore, die eingerissen und verbrannt waren (Neh 2,11-17). Die Priester, die bei der Durchführung der Feste verantwortlich waren, sind arbeitslos geworden. Die Jungfrauen, die mit ihren Tänzen und Gesängen die fröhlichen Feste prägten, sind verschwunden. Der Jubel ist verschlungen in Seufzen, Kummer und Bitterkeit (5,15).

Gründe und Folgen der Katastrophe (V. 5-9b).

Wer kann für diese Katastrophe verantwortlich gemacht werden? Einerseits ist es der Herr, der seiner Tochter Zion diesen Kummer bereitet hat (V. 5). In der Bibel lesen wir, dass der Herr sein eigenes Volk richten wird (Dtn 32,35; Hebr 10,30). Der Herr beweist seine Liebe seinen Kinder dadurch, dass er sie erzieht, straft, züchtigt und schlägt (Hebr 12,5-6; Spr 3,11-12). Dieser Gedanke wird später im Buch noch weiter ausgeführt (1,12; 2,1; 3,22; 4,11.16). Der Schlüsselgedanke zu dieser Katastrophe ist Gottes Gerechtigkeit, die hier am Werk ist (1,18; 3,58-59). Der Herr lässt niemanden ohne Grund geisseln! Anderseits ist es Jerusalem, die schwer gesündigt hat (V. 5b). Niemand glaubte es, dass die Feinde über Jerusalem siegen würden, doch Gott warnte sein Volk eindringlich (4,12; Ez 33,23-29). Das Volk erntete nun, was es jahrelang säte (Gal 6,7-8).

Was sind die Folgen dieser Katastrophe? Bis zur dieser Katastrophe wohnte die Herrlichkeit des Herrn (1 Chr 23,25) auf dem Berg bei der Tochter Zion. Doch nun ist diese herrliche Pracht aus ihrer Mitte weggezogen (V. 6). Die Folge davon ist, dass die Fürsten der Stadt vor ihren Verfolgern flohen (siehe die Flucht Zedekias in Jer 39,4f.). Sie waren entkräftet durch den Hunger und deshalb leicht einzufangen, wie ein gejagter Hirsch (4,19; Jer 22,25: in die Hand der Chaldäer oder Kasdäer).

Jerusalem erinnert sich, weit weg von ihrer Heimat, an ihre Tage vor der Wegführung (Vers 7). Das sind die Tage von Mose und Josua, David und Salomo. Die Stadt besass viele Vorzüge auf die sie stolz war: Gottes Gegenwart, der Tempel mit seinem ganzen Reichtum (Schätze), die dicken Mauern, die die Stadt uneinnehmbar machten, samt ihren vielen Bewohnern und tapferen Kriegern. Doch nun lachen die Feinde über ihren Untergang. Niemand hat ihr geholfen, weder damals während der Belagerung, noch jetzt in der tiefen Trauer und Klage. Weil der Tempel zerstört wurde, ist es zu Ende mit ihrer Anbetung.

Jerusalem hat sich schwer versündigt mit Götzendienst (V. 8).
Sie ist zur Hure geworden, weil sie sich mit fremden Göttern einliess (Ez 16,35-45). Sie wird Ehebrecherin und Hure genannt, weil sie ihrem Ehemann (d. i. Gott) untreu wurde (Jer 3,6-10). Sie trieb Unzucht, sogar mitten in der Wohnung Gottes (Ez 8). Sie wird bezichtigt, es schlimmer als ihre Schwester (im Norden) und schlimmer als Sodom getrieben zu haben (Jer 3,11; Ez 16,46-48). Normalerweise gibt man einer Hure einen Lohn für ihre Dienste, doch in diesem Fall war es die Hure selbst, die ihren Freiern Geld gab, damit sie wiederkamen (Ez 16,30-34). Deshalb sollte sie zum Gespött werden vor allen Nationen (Jer 24,9). Selbst ihre Liebhaber haben kein Ehrgefühl mehr für sie. Verachtend haben sie sich von ihr abgewandt wegen ihrer Nacktheit und Unreinheit (Jer 30,14), das heisst Sünde. Die Unreinheit (V. 17) bezieht sich auch auf die Monatsblutung, die sichtbar geworden ist samt ihrer Nacktheit, Scham (Ez 16,37-38). Deshalb seufzt sie und versucht ihr Gesicht zu verbergen. Ihr Blut klebt am Saum ihrer Schleppe (V. 9a; Jer 13,26).

Sie hat sich die Konsequenzen ihres Handelns zu wenig überlegt (V. 9a), sondern lebte in den Tag hinein ohne ans Morgen zu denken, wie so viele das tun (Jes 47,7). Deshalb ist sie entsetzlich gestürzt (V. 9b). Niemand ist da, der sie tröstet und der ihr hilft.

Besorgnis über den totalen Zusammenbruch (V. 9c-17).

Sie ruft zum Herrn in ihrer Not und bittet ihn ihr Elend anzusehen (V. 9c). Damit hofft sie, dass sich Gott ihrer erbarmt (2,2.21c; 3,43; 4,11). Ihre Götter waren zahlreich (Jer 11,13). Ehebruch war ihr Lebensstil (5,6-7). Jeremia gab ihr bereits die anklagende Antwort, bevor dies alles geschah (Jer 2,28), doch sie liess sich nicht warnen.

Es besteht kein Zweifel, dass der Herr diese grosse Krise über Jerusalem, d. h. sein Volk, brachte. In Kapitel 1 finden wir den Begriff „Herr“ insgesamt 10 Mal. Mit den Pronomen „er“ und „sein“ wird das Substantiv unterstützt.

Aus diesem Stossgebet ist noch keine Reue herauszuhören (V. 9c). Vielmehr wird an Gottes Ehre appelliert (1 Kön 8,59-60; Jes 37,20). Wenn der Feind prahlt, weil er über Gottes Volk gesiegt hat, dann wird Gottes heiliger Name geschmäht (Ps 74,10). Doch Gott wird seinen heiligen Namen wieder gross machen unter den Nationen (Ez 36,21-28; 39,7).

Für einen Juden war es unmöglich, dass ein „Nichtjude“ das Heiligtum betrat (V. 10). Gott hat geboten, dass nur die Priester Zugang zum Allerheiligsten haben dürfen (Num 18, 1-7). Doch nun sind Gottlose ins Heiligtum eingedrungen, haben es entweiht und geplündert (Ps 74,4-8; Jes 64,10; Jer 51,51; 2 Kön 24,13; Dan 5,1-4). Es ist eine Schande und ein Skandal!

Die Bewohner Jerusalems seufzen, weil es ihnen an Nahrung fehlt (V. 11). Sie wurden durch die Belagerung der Babylonier ausgehungert. Es war eine schreckliche Zeit der Hungersnot in der Stadt (Jer 37,21). Die tragische Situation führte dazu, dass Frauen ihre eigenen Kinder assen (Jer 19,9; Klgl 2,20; 4,10). Die Hebräer assen einander wie Gott damals das Volk durch Mose warnen liess (Dtn 28,53-55). Ein erneuter Appell richtet sich an Gott, diese Schmach und Schande anzusehen und sich zu Erbarmen.

Die Stadt kommt nun selbst zu Wort, indem sie sich als Frau ausgibt (V. 11b - 16).

Sie schreit vergebens um Verständnis und Mitleid in ihrer Trauer, wie damals Hiob (Ijob 19,21-22). Niemand kann sie verstehen, weil sich niemand für sie interessiert. Sie sieht nur Schadenfreude von denen, die vorüberziehen, wie sie spotten (zischen) und ihre Köpfe schütteln (2,15; Jer 18,16; 19,8; Ez 33,28-29). Sie ist sich wohlbewusst, dass ihr Untergang allein mit dem glühenden Zorn Gottes zu tun hat (V. 12b; 2,1.3.21.22; 3,1). Hiob war unsicher, Gott für seine Leiden verantwortlich zu machen (der Verursacher war vielmehr der Teufel, Hiob 2,3.7). Doch bei Juda waren es ihre Sünden, die Gottes Zorn gegen sie auslösten. Diese Massnahme war notwendig, um das Volk zu reinigen (Ez 23,25-49). Wenn Gottes Zorn ein solches Ausmass erreicht, dann gibt es keine Argumente mehr, sondern nur stille Akzeptanz. Es gibt tatsächlich kein vergleichbares Leid, das Juda je zugefügt wurde.

Nicht die Babylonier, sondern der glühende Zorn Gottes brachte diese unsägliche Leidenskrise über die Stadt (V. 13). Gott sandte Feuer in meine Gebeine, die er zertrat. Ein Feuer, das an den Feuerregen auf Sodom und Gomorra erinnert (Gen 19,23-24; Jer 23,14; Klgl 4,6). Ein Feuer, das ins Innerste eindringt und unsägliche Schmerzen verursacht, die nicht ausgelöscht werden können (Jer 20,9). Gott ist ein verzehrendes Feuer (Dtn 4,24; Hebr 12,29). Gott zertrat die Gebeine, wie wenn man heisse Glut mit den Füssen zertritt. Gott hat meinen Füssen ein Netz gelegt und mich zu Boden geworfen. Auch von Aussen droht Gefahr durch das Fangnetz, in das auch Hiob nichts ahnend hineingeriet (Ijob 19,6). Doch im Gegensatz zu Hiob ist Juda schuldig geworden (Dtn 29,23-24). Wie ein gejagtes Tier in die Falle tappt und von allen Seiten umschlossen wird, so geschah es mit der eroberten Stadt Jerusalem. Gott hat die Stadt zum Trümmerhaufen gemacht. Die zerstörte Stadt ist zum Trümmerhaufen geworden, d. h., unrein und deshalb von allen gemieden. Alle diese Bilder drücken die Hoffnungslosigkeit Jerusalems aus.

Endlich wird vom eigenen Vergehen gesprochen, das schwer lastet und beunruhigt (V. 14). Wie ein schweres Joch das den Rindern auf den Nacken gelegt und festgebunden wird, drücken die eigenen Vergehen die Stadt nieder. Dieses Joch bedeutet auch Knechtschaft unter der Herrschaft Babylons. Jeremia wies darauf hin, als er vom Herrn aufgefordert wurde, sich Stricke und Jochstangen zu machen, um sie sich auf den Nacken zu legen (Jer 27,2). Doch das Volk wollte sich nicht ergeben unter die Hand Babylons, wie der Herr es angeordnet hatte (Jer 27,12). Der Prophet Chanaja nahm Jeremia das Joch von den Schultern und zerbrach es (Jer 28,10). Jeremia aber entgegnete ihm (Jer 28,13): „Stangen aus Holz hast du zerbrochen, an ihrer Statt aber werde ich Stangen aus Eisen machen.“ Durch Jeremia sagte Gott voraus, dass alle Nationen der Herrschaft Babylons dienen werden (Jer 28,14). Sowie Gott damals dem Volk das Joch der ägyptischen Knechtschaft wegnahm, damit es wieder aufrecht gehen konnte (Lev 26,13), so hat der Herr diesmal selbst dem Volk ein eisernes Joch aufgebürdet, unter dem es zusammenbrechen und untergehen sollte (Dtn 28,48).

Die stärksten Soldaten waren nicht mehr stark genug, um gegen den Feind standzuhalten (Vers 15). Sie wurden überwältigt und getötet, d. h. sie wurden wertlos wie Dreck. Dann hat der Herr die Feinde Jerusalems zu einem Festmahl eingeladen. Nicht Juda sollte feiern, sondern die Feinde sollten feiern. Denn der Herr hat Jerusalem in ihre Hände gegeben. Dabei trat der Herr die Trauben in der Kelter gleich selbst, mit der die Feinde sich vergnügen sollten. Die Trauben sind ein Sinnbild für die Tochter Juda, die zertreten wird. Gleichzeitig wird Juda auch als Jungfrau des Herrn bildlich dargestellt (Ez 16,7-14; Jer 2,32).

Die Stadt weint Tag und Nacht ohne aufzuhören (V. 16). Niemand vermag sie zu trösten und zu stärken (V. 2.9; Jer 14,17; 8,21.23). Tränen des Selbstmitleids nützen in so einem Fall nichts, sondern nur Tränen der Trauer über die Sünde (Jer 8,4-6). Zu spät, denn der Feind hat obgesiegt.

Jeremias eigene Worte (V. 17).

Verzweifelt streckt Zion ihre Hände aus. Damit sucht sie bei einem Helfer Trost und Beistand. Doch niemand ist da, der hilft und tröstet, weder Gott noch Menschen. Der Grund, Jerusalem hat sich schwer versündigt und wird deshalb abgelehnt. Der Herr selbst war es, der die Gegner Israels (früher Jakob genannt) herbeirief. Der babylonische Kommandant, der in Jerusalem die Mauern einschlug und die Stadt niederbrannte, wusste, dass Israel gesündigt hatte und deshalb von Gott gestraft wurde (Jer 40,1-3). Was für ungeheuerliche Gedanken Jeremias!

Die Stadt spricht von der Gerechtigkeit Gottes und der Widerspenstigkeit Judas (V. 18-22).

Doch Gott handelt gerecht mit seinem Volk (V. 18a). Der Herr hat das Volk, als es damals noch in der Wüste war, genau informiert was geschehen wird, wenn sie sich undankbar von ihm abwenden. Der Herr hat ihnen viele Propheten gesandt, um sie an seine Gebote und Anordnungen zu erinnern. Leider haben sie sich zu sehr auf ihren Bund mit Gott verlassen und gemeint, sie könnten sich alles erlauben. Das Volk allein ist verantwortlich für die Strafe Gottes (Jer 4,18). Es hat nichts anders als die gerechte Strafe verdient.

Endlich wieder ein paar Worte des Bekenntnisses (V. 18a). Die Stadt bekennt ihre Widerspenstigkeit gegenüber dem Wort Gottes, das an sie immer und immer wieder erging durch die Propheten (Jer 13,17). Warum muss immer zuerst grosses Unheil geschehen, bis der Mensch endlich einsieht, was er falsch gemacht hat? Dieses Bekenntnis ist jedoch noch lange kein Beweis dafür, dass die Menschen der Stadt bereit waren ihre Sünden zu bekennen und sich verändern zu lassen! Es ist sicher ein erster Schritt in die richtige Richtung (Jer 29,10-14). In seinem Buch erwähnte Jeremia mehr als ein Bekenntnis, das jedoch ohne weiteren Folgen blieb (Jer 14,1-10; 42,1-19; 43,1-7).

Jetzt nützt alles Rufen nichts mehr (V. 18b). Niemand will hören. Niemand will den Schmerz Israels sehen.

Die Völker rundherum wissen ganz genau, was mit Israel geschehen war (V. 18c). Sie wissen, dass Jerusalem zuerst fast zwei Jahre lang belagert, dann eingenommen und schliesslich zerstört wurde (2 Kön 25,1-4). Sie wissen, dass junge Frauen und Männer Israels gefangen nach Babylon gebracht wurden.

Trotzdem wandte sich die Stadt an die andern Völker (V. 19). Schmerz, Leid und Kummer ist leichter zu ertragen, wenn es mit andern Menschen geteilt werden kann. Deshalb sagt man: „Geteiltes Leid, ist halbes Leid.“ Es ist heilsam, wenn verständnisvolle Menschen uns zuhören und Mitgefühl zeigen für unsere Notsituation. Vergeblich wurden die andern Völker um Hilfe gebeten. Die Ägypter (Jer. 46), die Philister (Jer 47), die Moabiter (Jer 48). Die Ammoniter, Edomiter und andere Völker (Jer 49) usw.

Mit grosser Enttäuschung muss die Stadt feststellen, dass ihre Liebhaber sie im Stich gelassen haben (Jer. 4,30; 3,1-2; 37,6-10). Statt sich auf Menschen zu verlassen, hätte sie besser dem fürsorglichen Gott vertraut (Ps 118,8; 146,3). Die Tatsache, dass Priester und Älteste in der Stadt elend verhungert sind, zeigt, dass es keine Führung mehr gibt. Israel wird auch zur Lektion oder Warnung für die umliegenden Völker, die für ihr gottloses Treiben genauso bestraft werden.

Schliesslich wendet sich die Stadt in ihrer Not an den Herrn (V. 20). Eine typische Reaktion von Menschen, die in grosse Not geraten sind und niemand anders ihnen zur Seite steht.  Verzweifelt versucht man es am Ende doch noch mit Gott. Gott soll helfen, aber nicht auf die Vergehen eingehen. Nur aus bedingungslosem Erbarmen soll der Herr sofort retten. Das Bekenntnis „denn ich war so widerspenstig“ entspricht völlig der Tatsache und vermag leider die tragischen Folgen nicht mehr aufzuheben. Diese Aussagen wiederholen sich (1,18.20c). Bekenntnisse mit andern Worten (1,5.8.14.22b,c). Überall lauert der Tod: ausserhalb des Hauses (der Tod durch das Schwert der Feinde), im Haus der Hungertod (Menschen kauern trübsinnig, verängstigt und still auf dem Boden).

Die Stadt jammert dem Herrn, dass die Nationen sich freuen über ihr Elend (V. 21).
Die Rede nimmt die Vergangenheitsform an! Die Stadt seufzte, doch niemand war da, um Jerusalem zu trösten (z. B. Ägypten und andere Nationen). Niemand wollte die Stadt mehr kennen (Ps 142,5). Alle haben sie verlassen und ihrem Schicksal überlassen. Die Edomiter z. B. freuten sich über den Untergang Judas (Ps 137,7-9). Erneutes Eingeständnis vor dem Herrn, „dass du es warst, der es getan hat!“ Doch wehe den Nationen, die Israel züchtigten und Schande über sie brachten! Siehe besonders die Aussagen folgender Propheten (Jer 46-51; Ez 25-32 & 35; das Buch Obadja!). Die Edomiter stehen bildlich für alle feindlichen Nationen Israels, die der Vernichtung geweiht sind (Jes 34,1-2).

Der Schmerz, den Juda erfahren hat, der soll auch besonders Babel widerfahren! (V. 22).
Die Werkzeuge des Gerichts über Juda werden sich also vor dem Thron Gottes verantworten müssen (Jes 25,12-14; 51,24-37). Denn die Völker um Juda herum verdienen genauso den Zorn Gottes. Sie sollten sich keinesfalls Brüsten und meinen, sie kämen ungeschoren davon. Die Tochter Juda hat für seine Sünden so sehr gebüsst, dass ihr Herz krank geworden ist (1,13c; 5,17; Jer 8,18).

 

 II.   Schlussfolgerungen von Kapitel 1

Dieses Kapitel offeriert keine Lösung für die Sünde und ihre bittere Frucht. Vielmehr wird hier eine ganze Stadt präsentiert, die seufzt und leidet, die krank und gedemütigt worden ist vor dem Herrn, ohne Widerruf. Jerusalem hat schwer gesündigt gegen Gott (1,8) und war äusserst widerspenstig (1,20). Deshalb wurde die Stadt vom Herrn verstossen und vernichtet, so dass ihr Zustand trostlos geworden ist.

Gottes Zorn wird auch heute noch über alle uneinsichtigen und widerspenstigen Menschen kommen, ob reich oder arm (Spr 11,4; Röm 1,18). Die ganze Menschheit ist vor Gott schuldig geworden und braucht dringend seine Gnade (Röm 3,10-18.23-26). Jetzt ist es noch Zeit, um umzukehren und sich zum Herrn zu bekehren, indem das weltliche Leben abgelegt und ein neuer Weg des Glaubens angetreten wird (Eph 5,1-7).

Alle Menschen werden geprüft und geläutert vor den Augen Gottes, ob gläubig oder ungläubig. Das heisst; besonders Gläubige werden oft bedrängt und müssen viel leiden (1 Petr 4,12-19). Der Höhepunkt des Lebens Christi war das Kreuz (Lk 23,31; 1 Petr 4,9-11; Jes 53,12). Doch Gott tröstet alle Bedrängten (2 Kor 1,3-7).

Christliche Gemeinden, welche Ikonen, Bilder oder andere Gegenstände anbeten, sich mit Lehren von anderen Religionen vermischen, werden zur Ehebrecherin (Ex 20,4-7; 1 Kor 8,5-6). Auch der Apostel Johannes warnt vor Götzendienst (1 Joh 5,21). Alles, was uns wichtiger ist als Gott, ist unser neuzeitlicher Götze (Mt 4,10). Gott will, dass wir IHN allein lieben und IHM allein dienen (Mt 22,37-38). Der Herr will nicht, dass wir jemanden auf Erden unseren geistlichen Vater nennen (Mt 23,8-12). Es gilt, kompromisslos den Willen des Herrn zu tun, an ihn zu glauben und ihn zu lieben, ohne ihn mit unseren menschlichen Augen gesehen zu haben (2 Kor 5,7.16; 1 Petr 1,8). Nur wer auf Gottes Stimme durch sein Wort hört, der wird gerettet werden: „Heute, da ihr seine Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht, wie ...“ die widerspenstigen Israeliten (Hebr 3,7)!